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Cover Lettre International, François Fontaine
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LI 112, Frühjahr 2016

Relativer Universalismus

Anthropologie und kulturelle Diversität - Für eine politische Ökologie

(…)

Neue geschützte Räume

Nehmen wir, um konkret auf die Frage des Naturschutzes zurückzukommen, einmal folgendes Beispiel: Dort, wo es Menschen als normal und wünschenswert gilt, mit Nichtmenschen intersubjektive Beziehungen zu unterhalten, könnte man versuchen, den Schutz einer bestimmten Umgebung nicht nur mit ihren wesentlichen ökosystemischen Eigenschaften zu legitimieren, sondern auch mit der Tatsache, daß die Tiere dort von der lokalen Bevölkerung als Personen behandelt werden – die zwar gejagt werden, aber unter Einhaltung ritueller Maßnahmen der Vorsicht und Behutsamkeit. Man hätte dann also eine Kategorie geschützter Räume, die im wesentlichen gemäß dem „animistischen Regime“ funktionieren würde – in Amazonien, in Kanada, in Sibirien oder im malaysischen Regenwald –, was niemanden daran hindert, dem auch solche Begründungen hinzuzufügen, die auf Beziehungen naturalistischen Typs beruhen – Erhaltung der Biodiversität, ökosystemischer Nutzen, Speicherung von CO2 zum Beispiel –, zumindest solange die Beziehungen des zweitgenannten Typs, das heißt naturalistische, von fernen Akteuren getragene Beziehungen, nicht allzusehr im Widerspruch stehen zu den Bedingungen, welche die Ausübung der von den lokalen Akteuren geknüpften Beziehungen gestatten.

Der Vorschlag ist übrigens gar nicht so utopisch, denn er ist in ziemlich ähnlicher Form von einer autochthonen Gemeinschaft vorgetragen worden, und zwar von den Sarayaku aus der ecuadorianischen Amazonasregion. In einem Dokument, das der Pariser Weltklimakonferenz vorgelegt wurde, verlangte dieses amerindianische Kollektiv, das Territorium, das es mit einer Menge anderer Wesen teilt, national und international in einer neuen gesetzlichen Kategorie als Schutzgebiet anzuerkennen, das unter dem Gattungsnamen Kawsak Sacha („Lebendiger Wald“ auf Quechua) unter Schutz gestellt werden sollte.

Die mitgelieferte Definition dafür unterscheidet sich kaum von der, die ich für den Animismus vorgeschlagen habe: Kawsak Sacha bedeutet, daß der Wald durchgehend aus Lebewesen und den Beziehungen besteht, die diese Wesen unterhalten; [all] diese Wesen, von der geringsten Pflanze bis hin zu den Schutzgeistern des Waldes, sind Personen (runa), die […] in Gemeinschaft leben und ihre Existenz analog zu der der Menschen entwickeln.“ Daher besteht „die Aufgabe darin, [nicht nur] die Territorien der Urvölker zu schützen, [sondern auch] das Geflecht materieller und spiritueller Beziehungen, das diese Völker mit den anderen Wesen weben, die den lebendigen Wald bewohnen.“

Andere Ausdrucksformen anthropologischer Invarianten des Verhältnisses zu Nichtmenschen würden natürlich andere Schutzregime erfordern.

In der Formel des Totemismus zum Beispiel ist das Land, das die australischen Aborigines mit ihren Bewegungen durchziehen, als Ganzes der Abdruck der Handlungen, die totemistischen Prototypen zugeschrieben werden: So ist das Bett eines bestimmten Flusses die Kriechspur, die einer von ihnen hinterlassen hat; ein bestimmter Riß in einem Felsen ist das Ergebnis eines Lanzenwurfs eines anderen; ein bestimmtes Ockervorkommen rührt vom vergossenen Blut eines dritten dieser Prototypen her.

Was man ziemlich ungenau als „heilige Stätten“ der Aborigines bezeichnet, sind weniger Stätten der Frömmigkeit als vielmehr Orte, an denen einst die Samen der Individuation jeder einzelnen Totemgruppe gesät wurden, die seither in ihren – menschlichen und nichtmenschlichen – Gliedern verkörpert sind, um ihre Identität weiterhin zu bewahren. Diese Orte sind also eine Art ontologische Brutkästen, die sich von Tempeln oder Gebetshäusern deutlich unterscheiden und deren eventuelle Zerstörung nur katastrophale Folgen haben kann, da sie die materielle und spirituelle Vermittlung unterbricht, die jedem einzelnen Wesen der Totemklasse seine Identität verleiht.

Wir erkennen also, daß das, was geschützt werden muß, eine Landschaft ist, welche die Spuren der Wesen trägt, die sie geschaffen haben, und die in kontinuierlicher Weise die individuelle und kollektive Identität derer nährt, die sie bewohnen. Genauso mühelos erkennen wir, daß die Beziehungen, aufgrund derer wir Stätten wie den Mont Saint-Michel oder das Ensemble der Monumente von Teotihuacán zum nationalen Kulturerbe erklären, von ganz anderer Art sind: Was hier geschützt werden soll, ist nicht mehr die Gegenwärtigkeit von Nichtmenschen, die als Menschen behandelt werden, auch nicht mehr eine Landschaft, die konkrete Identitäten hervorbringt, sondern die Objektivierung eines Projekts der Verbindung von Makrokosmos und Mikrokosmos, des Gemeinwesens der Menschen mit der Welt der Götter; Spuren eines solchen Projekts haben allein jene Zivilisationen hinterlassen, die ich als analogistisch bezeichne, wo auch immer sie sich entwickelt haben mögen.

In einer ferneren Zukunft müßte man diese ontologische Autonomie von Territorien zweifellos erweitern und auch ihre juristische Autonomie ins Auge fassen. Man kann sich in der Tat sehr gut vorstellen, daß nicht nur individuelle oder kollektive Wesen als solche eine Repräsentanz bekommen – Menschen, Staaten, Schimpansen oder multinationale Konzerne –, sondern auch Ökosysteme, das heißt Beziehungen bestimmten Typs zwischen Wesen, die in mehr oder weniger ausgedehnten Räumen lokalisiert sind, Lebensräume also, wie auch immer sie beschaffen sein mögen: Flüsse samt ihrer Einzugsgebiete, Bergmassive, Städte, Küstenstreifen, Stadtviertel, ökologisch sensible Zonen, Meere und Meeresengen.

Eine politische Ökologie im wahrsten Sinne des Wortes, eine in vollem Maße verwirklichte Kosmopolitik würde sich nicht damit zufriedengeben, der Natur unveräußerliche Rechte zuzubilligen, ohne ihr echte Mittel an die Hand zu geben, diese auch auszuüben; sie würde darauf hinwirken, daß singularisierte Lebensmilieus und alles, woraus sie sich zusammensetzen – darunter auch die Menschen –, zu politischen Subjekten werden, deren Mandatare die Menschen wären. Auf diese Weise könnte einen konkreten politischen Ausdruck finden, was ich andernorts als relativen Universalismus bezeichnet habe, das heißt die Idee, daß ein neuer Universalismus von Werten eher Systeme von Relationen oder Beziehungen zur Grundlage haben sollte denn Eigenschaften, die Wesen angeheftet werden.

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