LI 110, Herbst 2015
Luther bei Marx & Engels
Die alte Frage: Reformation oder Revolution?Elementardaten
Textauszug
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War die DDR die Staatwerdung jener obrigkeitlich gesteuerten Ökonomie, die Luther dem sich verselbständigenden Kapitalbetrieb und Unternehmerindividualismus in den bürgerlich regierten deutschen Städten des 16. Jahrhunderts entgegengehalten hatte? Es gibt eine Reihe von Indizien, die eine solche These stützen; Ernst Troeltsch, der bedeutende Religionssoziologe, ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Da ist vor allem Luthers Aufwertung der Arbeit und Abwertung des Müßiggangs, eine fundamentale Neuerung gegenüber dem mittelalterlichen Menschenbild: Der Mensch soll arbeiten, wenn er dazu in der Lage ist, er dient damit der Gesellschaft und trägt für seinen Teil die Verschuldung des Sündenfalls ab, der das erste Menschenpaar aus dem Paradies trieb. „Pflichtmäßige Arbeit ist der beste Gottesdienst“, resümiert Troeltsch23 die Luthersche Haltung. Diese moraltheologische Begründung lag dem regierenden Sozialismus fern, aber die Haltung zur Arbeit als einem Menschenrecht und einer Menschenpflicht ist von ihm im vollen Umfang übernommen worden und erstmals in der Geschichte staatlich konsti-tutiv geworden.
Sie war gesellschaftlich konstitutiv auch insofern, als sie sowohl das Betteln wie den arbeitsfreien Genuß erworbener Güter abwies. Das ging bei Luther gegen das Mönchswesen, das durch die von ihm eingeleitete Reformation abgeschafft wurde; einem parasitär vor sich hin lebenden Feudal- und Hofadel gegenüber blieb es bei Vermahnungen. Die Fürsorge für die Kranken, Schwachen und schuldlos Verarmten hatte Luther, das Wirken der Kirche auf Bildung und Gottesdienst beschränkend, den weltlichen Instanzen zugewiesen, die er dafür besonders ausstatten wollte. In Wittenberg und ein Jahr später in Leisnig vollzog er 1522 kühne Neuerungen durch eine Kastenordnung, welche die beschlagnahmten kirchlichen Stiftungs- und Pfründenvermögen unter Aufsicht der Gemeinde für Kirche, Schulen, Armenwesen, Unterstützungen und Bekämpfung von Teuerung anwenden wollte; Troeltsch nennt sie „Akte eines lokalen und kommunalen Sozialismus“. Daß das Vorhaben, auch von Luther selbst, nach den Bauernkriegen zurückgenommen wurde, steht auf einem andern Blatt.
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Wenn der regierende Sozialismus mit dem Vorsatz antrat, die Standesschranken der bürgerlichen Gesellschaft zu durchbrechen und den unterprivilegierten Schichten Zugang zu Bildung und sozialem Aufstieg zu ermöglichen (dabei hätte er Luthers Beifall nicht gehabt, der Angriffen auf die Leibeigenschaft und sogar auf die Sklaverei keinen theologischen Sukkurs gab), so etablierte er nach der Realisierung dieser Emanzipation, die zu Lasten anderer Schichten durchgesetzt wurde, eine berufsständisch geordnete Gesellschaft, die den Lutherschen Vorstellungen in mancher Hinsicht nahekam; zuletzt fand auch die Kirche in ihr Raum. Nach einer langen Zeit der Konfrontation, die mit der Nichtanerkennungspolitik der westdeutschen Regierung korrespondierte, stellte sie sich in den siebziger Jahren mit der Formel von „Kirche im Sozialismus“ auf den Boden einer gesellschaftlichen Realität, die mit Luther mehr zu tun hatte, als beide Seiten sich eingestehen mochten. „Im Sozialismus“, das bedeutete nicht neben oder gegen und auch nicht unter den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Diese annehmend mit all ihren Konflikten inner- und außerhalb der Gemeinden, gewannen die lutherischen Landeskirchen Fähigkeit und Spielraum, Veränderungen anzumahnen und ihren Befürwortern eine Plattform zu geben, nicht im Münzerschen Sinn eines Umsturzes, sondern dem Lutherschen einer Reformation der Verhältnisse. Daß diese reformatorische Bewegung in weltpolitisch günstiger Situation in einen Umbruch umschlug, teilte sie mit der Lutherschen nach 1517, doch blieb ihr durch die Weisheit der Akteure die Klippe eines Bürgerkriegs erspart; stattdessen fand sie sich unversehens unter der Ägide neuer Landesherrn, frei von Bedrückungen, aber auch frei von der besonderen Freiheit, die ihr in einer bestimmten Lage eine geschichtliche Mission beschert hatte.
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