LI 62, Herbst 2003
Olymp im Nebel
Die Verschwörung gegen Berija und der 17. Juni 1953Elementardaten
Textauszug
Die Erhebung des 16. und 17. Juni 1953 war eine Tragödie nach antikischem Maß und Begriff, dem des verblendeten Helden, der handelt, weil er nicht anders kann, und, angesichts der Folgen, erschüttert zum Olymp emporblickt, wo, hinter Nebelschwaden verborgen, entfernte Götter mitleidlos die Geschicke der Sterblichen lenken. Allerdings: Auch diese Götter waren sterblich, und indem sie lenkten, setzten sie auch ihr Leben aufs Spiel; einige verloren es dabei. Zudem: Das Sehendwerden derer, die im Bewußtsein scheinbarer Stärke auszogen, alles anders zu machen, als es gewesen war, und dann binnen weniger Stunden bemerkten, was sie hätten wissen können und auch immer gewußt hatten, worüber man sie aber in einer bestimmten Situation zu täuschen vermocht hatte: daß sie nicht in einem freien, sondern in einem besetzten Land lebten, regiert von denen, die ein Volk, einen Staat vertraten, dem der Überfall deutscher Heere unermeßliches Leid zugefügt hatte - dieses Sehendwerden im Blick auf die Folgen und hinter den olympischen Nebel stößt noch heute auf Widerstände, die manchmal unüberwindlich erscheinen. Obschon der Nebel, hinter dem sich der Olymp von damals verbarg, inzwischen an vielen Stellen durchdringlich geworden ist, ist die Neigung, hinter ihn zu sehen, gerade im Umkreis jener Gedenktage, die uns das Dezimalsystem von Zeit zu Zeit beschert, keineswegs ausgeprägt.
Der tragische Held jenes Tages, das waren die Volksmassen, es war vor allem die Arbeiterschaft der DDR, in der alte gewerkschaftliche und sozialdemokratische Traditionen trotz zwanzigjähriger Unterbrechung noch lebendig waren. Damit sie am 16. und 17. Juni 1953 auf die Straße ging, zuerst in Berlin, dann auch in vielen anderen industriellen Zentren der DDR, brauchte es zweierlei: die Suggestion, etwas ausrichten zu können, und die Provokation, das in einem bestimmten Sinn, mit einem bestimmten Ziel zu tun. Das erstere war am 11. Juni 1953 geschehen, in Gestalt einer Verlautbarung des Politbüros des SED-Zentralkomitees, die in nichts Geringerem als einem abrupten Kurswechsel der herrschenden Partei bestand. Unter der Flagge eines Neuen Kurses waren, jäh und unvermittelt, alle jene klassenkämpferischen Maßnahmen zurückgenommen worden, unter denen weite Teile der Bevölkerung zehn Monate lang gelitten hatten, Pressionen gegen jene Schichten, die für nichtsozialistisch galten: selbständige Bauern, Geschäftseigentümer und Gewerbetreibende, die unterhalb einer bestimmten Betriebsgröße noch in großer Zahl vorhandenen Privatunternehmer, aber auch die beiden Kirchen und die Christen der Jungen Gemeinde.
Sie alle waren plötzlich von dem Druck, der Ausgrenzung, Enteignung, Verfolgung entlastet, die namens des im Juli 1952 verkündeten "Aufbaus des Sozialismus" auf ihnen gelegen und einerseits zu einer Massenflucht über die offene innerberlinische Grenze, andererseits zu galoppierenden Versorgungsschwierigkeiten geführt hatten. Die neue Linie zielte auf etwas anderes: "Das Politbüro", hieß es lakonisch, "hat bei seinen Beschlüssen das große Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands im Auge, welches von beiden Seiten Maßnahmen erfordert, die die Annäherung der beiden Teile Deutschlands konkret erleichtern"; das war nichts weniger als rhetorisch gemeint.
Der anderntags in eine Reihe von Regierungsmaßnahmen umgesetzte Widerruf des Konfrontationskurses konnte nicht anders als die Bankrotterklärung der von dem Chefapparatschik Ulbricht dominierten SED-Führung verstanden werden, deren Autorität auch in ihrer eigenen, plötzlich wehr- und hilflos dastehenden Partei schwer erschüttert war, zumal die gleichzeitig (und auf derselben Seite des SED-Zentralorgans) veröffentlichten Bilder vom Antrittsbesuch des neuberufenen sowjetischen Hochkommissars keinen Zweifel darüber ließen, aus welcher Quelle die Neuorientierung stammte. Rudolf Herrnstadt, der Chefredakteur des Neuen Deutschlands, hatte das vorhergesehen und den am 5. Juni in Berlin eingetroffenen Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland (das war ein im Blick auf die drei westlichen Hochkommissare neugeschaffenes Amt, das an die Stelle der bisherigen Sowjetischen Kontrollkommission trat) für die Veröffentlichung des Kommuniqués beinahe flehentlich um einen Aufschub von zwei Wochen gebeten: "Geben Sie uns 14 Tage, und wir können den Kurswechsel so überzeugend und fortreißend begründen, daß wir mit ihm in die Offensive gehen und nicht der Gegner." Semjonow, seit fünf Tagen der politische Oberleiter der DDR, hatte ihm "sehr scharf und von oben herab" geantwortet: "In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben." Herrnstadt hatte verstanden: Die unvorbereitete Veröffentlichung war eine Anweisung des neuen Hochkommissars.
Der Semjonow entfahrende Satz war von seiten eines Mannes, der der Geburtshelfer der DDR-Gründung gewesen war, die Zuspitzung einer Perspektive, die der neuen Linie der sowjetischen Außenpolitik entsprach. In ihr hatte der starke Mann in der nach Stalins Tod gebildeten kollektiven Führung, Lawrentij Berija, der Chef des gesamten inneren Sicherheitsapparats (und als solcher der Kontrolleur aller übrigen Parteiführer), das Steuer herumgerissen, und nicht nur in der Außenpolitik. Auch in der Innenpolitik hatte der Mann, der unmittelbar nach Stalins Tod das Amt des Innen- und des Staatssicherheitsministers auf sich vereinigt hatte (zugleich war er Erster Stellvertreter des Ministerpräsidenten geblieben), Akzente einer Entstalinisierung gesetzt, die die Bestürzung der Kader hervorgerufen hatten. Er hatte angefangen, die von ihm verwalteten Straflager zu öffnen, und verfügt, daß bei Demonstrationen keine Porträts mehr umhergetragen werden sollten; die Erwähnung Stalins in Presse und Rundfunk war drastisch reduziert und aus dem Namensquartett der Klassiker: Marx-Engels-Lenin-Stalin der Name des letzteren entfernt worden. Der Öffentlichkeit unbekannt geblieben war eine weit wichtigere Maßnahme: die Abschaffung der Folter in den Gefängnissen des Landes. War alles dies nur Trug, ein Blendwerk, dazu bestimmt, durch das Verschwindenlassen der alten Ikone die eigene Machtergreifung vorzubereiten? Der in der Weltpolitik unter Berijas Direktion vollzogene Kurswechsel hatte tiefere Gründe. Die Sowjetunion, das von deutschen Truppen weithin verwüstete und noch lange nicht wiederaufgebaute Land, hatte sich in der Konfrontation mit den Vereinigten Staaten an mehr als einer Front übernommen: an der Ostkante des Riesenreiches mit dem Koreakrieg, zu dessen Beendigung nun energische Anstalten getroffen wurden; an dessen Westflanke, die die DDR bildete, mit einer von Stalin nach einigem Zögern gebilligten und von seinen Beauftragten Semjonow und Tschuikow angeleiteten Sowjetisierungs- und Militarisierungspolitik, die die harte Antwort auf jene ökonomische wie militärische Westintegration der Bundesrepublik gewesen war, die im Mai 1952 ein Generalvertrag bekräftigt hatte. Die DDR-Bevölkerung war gewissermaßen dafür bestraft worden, daß der westdeutsche Staat, bei feierlich bekräftigter Nichtanerkennung der neuen deutschen Ostgrenze, einen Sonderfrieden mit den Westmächten geschlossen hatte, dem auch Stalins im März 1952 ergangenes Angebot eines Friedensvertrags mit einem bürgerlich-demokratisch verfaßten Gesamtdeutschland unter den Bedingungen militärischer Neutralität keinen Eintrag hatte tun können. Diese replikative Sowjetisierungspolitik hatte die DDR in eine von Walter Ulbricht, dem egomanisch verblendeten Parteiautokraten, immer weiter angeheizte Krise getrieben, deren Ausmaß nicht nur Berija, sondern der gesamten sowjetischen Führung im April 1953 deutlich geworden war. Sie war sich über die Notwendigkeit einer Abbremsung dieses Kurses ebenso einig wie über die eines Waffenstillstands in Korea, aber Berija wollte mehr; er wollte, nicht zuletzt zur Entlastung der Sowjetunion von einem die Kräfte des Landes übersteigenden Wettrüsten, die Beendigung des Kalten Krieges und hatte dazu seine Fühler zu den Staatsführern des Westens ausgestreckt. In einer Rede am 14. April kam ihm der amerikanische Präsident, Dwight D. Eisenhower, merklich entgegen und bekundete, ohne sich auf die Deutschlandfrage näher einzulassen, die Bereitschaft der USA, das Ihre zum Abbau der Spannungen zu tun. Weitaus stärker ging Winston Churchill, zu dieser Zeit nicht nur Premier, sondern auch amtierender Außenminister Großbritanniens, auf die Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik ein. In einer aufsehenerregenden Rede verkündete er am 11. Mai das Ende der Konfrontationspolitik (Berija hatte ihm gleichsam den Vortritt gelassen) und faßte eine umfassende europäische Friedensordnung ins Auge. "Ohne Warnung, ohne Vorbereitung", so Sebastian Haffner in seiner Churchill-Biographie von 1967, "warf er den Kurs herum, den England, zusammen mit dem Westen, seit sieben Jahren gesteuert hatte. Er proklamierte faktisch das Ende des Kalten Krieges. Er schlug eine Gipfelkonferenz mit den Nachfolgern Stalins vor, und er warf das Wort Locarno in die Debatte - den Gedanken eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems anstelle der entgegengesetzten Bündnisblöcke." Am 24. Mai ging die Prawda, das Zentralorgan der sowjetischen KP, auf diese Rede in einem Leitartikel ein, der unverkennbar die Stimme der Parteiführung war, und am 27. Mai konnten die Leser des Neuen Deutschlands in der Berichterstattung über jenes Prawda-Statement etwas lesen, das nicht als Propagandaphrase mißdeutet werden konnte, da es die offizielle sowjetische Reaktion auf Churchills Initiative wiedergab: daß ein Friedensvertrag der Vier Mächte mit Deutschland, also die Behebung der deutschen Teilung, auf dem politischen Programm der Sowjetregierung stehe. Dafür - und das stand nicht im Neuen Deutschland - war diese unter Berijas Führerschaft bereit, eine markante Vorleistung zu erbringen: den Abbruch des Klassenkampfkurses in der DDR als ersten, entschiedenen Schritt auf dem Weg zu einer Friedenslösung, die auf die Auflösung des deutschen Oststaats hinauslief. Die von der SED im eigenen ideologischen Auftrag, vor allem aber in dem der Besatzungsmacht, beherrschte DDR sollte als demokratisierte auf dem Altar der neuen europäischen Friedensordnung geopfert werden. Daß damit auch die von der westdeutschen Regierung geplante Aufstellung einer 400.000-Mann-Armee im Rahmen eines westeuropäischen Militärbündnisses entfallen wäre, liegt zutage; entsprechend distanziert war die Bonner Reaktion auf Churchills Rede ausgefallen. Die sowjetische Politik zog in Gestalt des Berija-Plans Folgerungen daraus, daß ihr in Gestalt der DDR der bei weitem kleinere und schwächere Teil Deutschlands zugefallen war, zusätzlich geschwächt durch die ihm von der Sowjetunion für ganz Deutschland auferlegten Kriegsentschädigungslasten. Sie war zu der Einsicht vorgestoßen, daß ein auf einer bürgerlich-parlamentarischen Verfassung fußendes, in eine europäische Friedensordnung mit vertraglich fixierten Grenzen eingebettetes Deutschland für die Sowjetunion mit sehr viel weniger Risiken verbunden war als die Fortsetzung des Kalten Kriegs bei Aufstellung einer großen westdeutschen Armee. Berija, der, anders als andere Mitglieder der sowjetischen Führung und erst recht die der Streitkräfte, über umfassende Informationen über die innere Lage der Sowjetunion verfügte, mochte klargeworden sein, daß die terroristischen Praktiken der Industrialisierungsdiktatur nach Stalins Tod nicht mehr fortgesetzt werden konnten und es zur Hebung des niedrigen Versorgungsniveaus unerläßlich war, das Land von dem ruinösen Nuklear- und Raketenrüstungswettlauf mit den USA zu entlasten. Aus einer Äußerung des Anfang Juni in die sowjetischen Pläne eingeweihten Ministerpräsidenten Grotewohl geht hervor, daß die neue sowjetische Politik nicht nur die Vereinigung Deutschlands unter den Bedingungen militärpolitischer Neutralität, sondern auch die Neutralisierung Polens vorsah, mithin: den Rückzug der Sowjetarmee hinter die Weichsel. Um der amerikanischen Vorherrschaft über West- und Mitteleuropa Einhalt zu gebieten, war die von Berija dominierte Parteiführung zu außerordentlichen Zugeständnissen bereit; man rechnete aber auch auf beträchtliche materielle Gegenleistungen. Auch Churchill sah in der Wiederherstellung Europas die Chance, die britische Macht aus dem Schatten der USA herauszuführen und ihr wieder eine bestimmende weltpolitische Rolle zu geben. Vielleicht beunruhigte ihn auch das Erstarken Westdeutschlands im Bündnis mit den Vereinigten Staaten.
(...)