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Cover Lettre International 86, Ewa Einhorn
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Inhaltsverzeichnis

LI 86, Herbst 2009

Umbruch der Kulturen

Mannifgfaltige Untergänge des Kommunismus am Beispiel Bulgariens

Eines der großen Probleme der bulgarischen Rechten besteht darin, daß der Kommunismus nicht mit einem epochalen Ereignis endete, dessen Jahrestag man heute gebührend feiern könnte. In Bulgarien gab es 1989 keine Mauer zum Niederreißen. Es dauerte fünf Jahre, bis alle Reisebeschränkungen aufgehoben waren, obwohl die Kommunisten noch selbst diese Liberalisierung in Gang gebracht, im Frühjahr 1989 Landesflüchtige entkriminalisiert und Ausreisevisa zumindest für die sozialistischen Nachbarländer abgeschafft hatten. Im Sommer 1989 kaufte ich ein Flugticket und flog nach Warschau, ohne daß ich dafür eine Erlaubnis brauchte. Das war meine persönliche Art, die zaghaft gewährte neue Freiheit auszukosten.
Auch der Sturz des Diktators Todor Schiwkow eignet sich nicht als Schlüsseldatum einer historischen Wende, denn Schiwkow wurde am 10. November 1989 von einem Zentralkomitee entlassen, das ihm für seine Verdienste um das Land dankte. Danach dauerte es noch mehrere Wochen, bis die gärenden antikommunistischen Energien an die Oberfläche drangen. Radikale Antikommunisten schwören auf den 14. Dezember, als es bei einer Demonstration vor dem Parlament beinahe zu Handgreiflichkeiten kam und das Land in jenes „Blutvergießen“ abzurutschen drohte, von dem die Rechten erhofften, daß es das Krebsgeschwür des Kommunismus ein für allemal ausmerzen könne. Doch die Ideologen haben das Pech (und die heutigen Bulgaren das Glück), daß der damalige Anführer der antikommunistischen Opposition die Menge rechtzeitig besänftigte. Scheliu Schelew beging „Verrat“ an der Revolution, indem er sie ihres Heldentums beraubte. Auch die ersten freien bulgarischen Wahlen im Jahr 1990 sind als Stichtag für einen Neubeginn nicht konsensfähig, denn die ehemaligen Kommunisten gingen daraus als Sieger hervor.

Aus der Sicht von Paragraphenfetischisten fällt die Geburt der Zweiten Republik mit der Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1991 zusammen. Bei diesem Akt wurde der berüchtigte Artikel eins, der die Führungsrolle der Kommunistischen Partei formulierte, abgeschafft. Doch auch die neue Verfassung ist heute längst nicht für alle Bulgaren ein Grund zum Feiern. Sie war ein Kompromiß, über dem das demokratische Oppositionsbündnis zerbrach. Einige Abgeordnete begannen sogar einen Hungerstreik und belagerten in Zelten das Parlament. Es ging ihnen weniger um den Text der neuen Verfassung als um die Tatsache, daß diese von einer Mehrheit ehemaliger Kommunisten beschlossen werden sollte. Hinzu kommt, daß sich dieses Grundgesetz inzwischen als reichlich fehlerhaft erwiesen hat. Der Mann und die Frau von der Straße sind in der Regel davon überzeugt, daß es ohnehin nur dazu diente, die Privilegien der ehemaligen Nomenklatur zu retten.

Die geopolitischen Veränderungen – und um diese ging es in erster Linie – fanden einen symbolträchtigen Ausdruck in der Auflösung des Warschauer Pakts am 1. Juli 1991. Schade nur, daß die Verhandlungen darüber auf höchster diplomatischer Ebene geführt wurden; deshalb eignet sich auch dieses bedeutende Ereignis nicht als Aufhänger für alljährliche zivilreligiöse Volksfeste. Ähnliches gilt für den Moskauer Höhepunkt des gesamten Dramas, also den Rücktritt Gorbatschows und das Ende der Sowjetunion. All das waren aus bulgarischer Sicht zu sehr außenpolitische Ereignisse, als daß man aus ihnen öffentliche Rituale hätte ableiten können. Nicht einmal demokratisch gesinnte Russen gedenken heute noch der Rede von Boris Jelzin auf dem Panzer. Das erschiene ihnen vermutlich ebenso abwegig, als wollte man den Jahrestag eines großen afghanischen Sieges über die sowjetische Besatzungsarmee, den Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl oder sonst ein Ereignis feiern, das den Zerfall des kommunistischen Reichs beschleunigt hat. Hinzu kommt, daß viele Osteuropäer im Ende des Warschauer Paktes und dem Beitritt zur NATO kurze Zeit später eine irritierende Symmetrie erkennen. Sie akzeptieren die NATO als ein Gebot der Tatsachen, nicht als einen Triumph der Freiheit.

Die ersten Wirtschaftsreformen in Bulgarien eignen sich mit Sicherheit nicht zur symbolischen Aufladung, denn die Rückübertragungen von Eigentum und die Privatisierungen gelten inzwischen weder als gerecht noch als sinnvoll. Als 1992 die landwirtschaftlichen Kooperativen aus ideologischen Gründen aufgelöst wurden, gab man das Vieh Landarbeitern, die damit nichts anzufangen wußten. In der Erinnerung der Bulgaren war das die Zeit, als die Straßen in den Dörfern rot waren vor Blut, weil in jeder Familie eifrig Tiere geschlachtet wurden. (Wieder haben wir es mit einem offenbar so bedeutsamen „Blutvergießen“ zu tun.) Ohnehin war die Reform der Landwirtschaft schon seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre unterwegs, obwohl die entscheidenden Maßnahmen erst in den späten Neunzigern ergriffen wurden. Und leider muß man auch sagen, daß die bulgarische Wirtschaft erst im Jahr 2001 wieder das Produktionsniveau des Jahres 1989 erreichte.

Nun könnte man darauf bestehen, daß 1989 immerhin eine Schreckensherrschaft zu Ende ging und daß von da an jeder sagen und tun durfte, was er wollte. Aber auch im Bereich der geistigen Emanzipation hatte Gorbatschow seit einigen Jahren Vorarbeit geleistet. Osteuropäische Regierungen im allgemeinen und Bulgariens Kommunisten im besonderen waren so sehr vom Kreml abhängig, daß sie sich den Vorgaben von dessen Hausherren nicht entziehen konnten. Die staatstreue bulgarische Intelligenz zeigte sich deshalb schon hellauf begeistert von Glasnost, als eine Perestroika noch längst nicht in Sicht war. Und die – direkt von Moskau gelenkten – bulgarischen Geheimdienste ermutigten die üblichen Verdächtigen sogar zur öffentlichen Kritik, anstatt sie ins Gefängnis zu werfen. Offenbar wollten schon die Sowjets den alternden Schiwkow stürzen, weil er zu einer Belastung geworden war.

Gedämpft ist selbst die Freude über die neuen Bürgerrechte, denn es gibt einen Wermutstropfen, der mit dem heiklen Thema des Nationalismus zu tun hat. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre traf die massive staatliche Unterdrückung im wesentlichen nur noch die türkische Minderheit in Bulgarien. Sie war seit langem einem Prozeß gewaltsamer Assimilierung ausgesetzt. Als Bulgariens Muslime nun ihre religiösen und bürgerlichen Freiheiten erhielten, wurde das im Land nicht annähernd so freudig begrüßt wie die Wiedervereinigung in Deutschland. Im Süden des Landes demonstrierten sogar viele ethnische Bulgaren dagegen, daß die Türken wieder muslimische Namen tragen durften. Der Widerstand gegen die Befreiung der türkischen Minderheit wurde auch zu einem Gründungsmoment des bulgarischen Neofaschismus.

Die kommunistische Schreckensherrschaft in erster Linie als eine ideologisch motivierte Zensur der freien Meinungsäußerung zu sehen heißt auch, sich auf die Perspektive der gebildeten Intellektuellen zu beschränken. Anders gesagt: Die durchschnittlichen Bulgaren und Bulgarinnen fühlten sich in den achtziger Jahren sicherer als in den Neunzigern. Während die politische Gewalt der ausgehenden kommunistischen Herrschaft zu ihrem Ende hin kontinuierlich zurückging (die gegen die bulgarischen Türken ausgenommen), erinnern sich die meisten Menschen an die Jahre des Systemwechsels als an eine Zeit, in der es Jahr für Jahr ein- bis zweihundert Auftragsmorde gab. Ihnen fielen unter anderem ein ehemaliger Ministerpräsident und einige der reichsten Geschäftsleute, außerdem Richter, Anwälte, Beamte und Journalisten zum Opfer. Zwei Jahre nach dem EU-Beitritt sind es heute „nur“ noch etwa dreißig Morde im Jahr. Kaum einer der Täter wird je gefaßt und vor Gericht gestellt. Unterm Kommunismus gab es eine derartige politische Gewalt nur in den allerersten Jahren und seit den fünfziger Jahren nicht wieder. Man könnte einwenden, daß Gewalttaten in Zeiten des Umbruchs nicht notwendig politisch motiviert sind. Aber war denn die mörderische Repression der Kommunisten immer so politisch, wie es schien? Die meisten Mörder der vierziger Jahre bedienten sich eines politischen Vorwands, um sich die Wohnung oder die Freundin eines „Klassenfeindes“ anzueignen. Nur eine winzige Minderheit der Opfer hatte „bourgeoise“ ideologische Überzeugungen, aber alle besaßen irgend etwas, das Neid weckte. Der Terror der Kommunisten mochte zielgerichteter und zentral gesteuert erscheinen. Und doch wurde zumindest in der bulgarischen Provinz der Großteil dieser Verbrechen nicht im Zentralkomitee beschlossen, sondern von lokalen Aktivisten, Lagerwärtern und brutalen Polizisten, die keiner Kontrolle unterstanden (und die später mitunter von ihren Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen wurden). In welchem Maß auch das Wüten des Verbrechens in den Neunzigern eine Form der primitiven Kapitalakkumulation darstellt, muß erst noch untersucht werden. In unserem Zusammenhang gilt es festzuhalten, daß die Bulgaren mit dem Ende des Kommunismus nicht das Ende von Unsicherheit und willkürlicher Gewaltausübung verbinden. Das Gegenteil ist der Fall.

Es liegt nahe, all diese Verwerfungen mit den Schwierigkeiten des Systemwandels, mit der Ideologie nationaler Konsolidierung in den Jahrzehnten des Kommunismus oder auch mit dem Fehlen antirussischer Gefühle zu erklären. Ich schlage eine andere Interpretation vor: Bulgarien ist keine Marginalie oder Ausnahmeerscheinung des Systemwandels, sondern es macht überdeutlich, daß es bei der Beerdigung des Kommunismus nicht nur um einen Umbau des politischen Systems, sondern um einen radikalen Umbruch der Kulturen ging.

Der Sturz des Kommunismus hat keine neue Ära gesellschaftlicher Einigkeit eingeläutet. Er initiierte eine kurze und gewalttätige Eruption des Individualismus, die man als Übergang von der ersten Moderne der homogenen Massen zur zweiten Moderne der kleinen Gruppen, anpassungsfähigen Netzwerke und flexiblen Gemeinschaften betrachten kann. Das Jahr 1989 war nicht Osteuropas 1789, sondern ein zweites 1968. Den Systemwandel mit Metaphern der Freiheit, Souveränität und Demokratie aus dem 19. Jahrhundert aufzuladen führt in die Irre. Angemessener scheint, von einer Explosion, Streuung und Dislokation zu sprechen.

(...)

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