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LI 126, Herbst 2019

Alphaville 2.0

Zur Künstlichen Intelligenz (KI) als Internet-Intelligenz (I²)

   (…)

   NETZWERK-KI

Nun hat diese „nouvelle KI“ aber weniger als ein Alpha 60, ein HAL oder Colossus (wie im gleichnamigen Film und seiner Romanvorlage) Gestalt angenommen, sondern vielmehr als die „hochgradig interkommunikative, dezentralisierte Struktur“, die man schon Mitte der 1990er Jahre beschrieben hat. Durch Siri, Alexa, Cortana, Google Assistant oder Google Home spricht keine „zentrale, allwissende Maschine“, vor der man sich „an George Orwells Big Brother erinnert“ sähe, sondern eine Heerschar von Apps, Bots, Drohnen, Algorithmen oder, in summa, Verschaltungen von Verschaltungen. Google Brain ist nicht Asimovs Multivac, „the giant computer that had grown in fifty years until its ramifications had filled Washington, D.C., to the suburbs“. Google Brain ist vielmehr ein Netz von Tausenden von Computern, das sich auf der Ebene seiner Verknüpfungen fortwährend neu erschafft, darin vergleichbar dem Internet im ganzen, das ja auch in der Hinsicht als „Modell“ und „Metapher“ gelten darf, daß es „nicht nur im Sinne eines überall vorhandenen, globalen Netzwerks interessant [ist], sondern auch als etwas, das sich ohne einen eindeutigen verantwortlichen Designer entwickelt hat“, dezentral also, weshalb auch hierfür gilt: „Es gibt keinen Big Brother (…).“
   Gewiß läßt sich selbst das Internet und läßt sich zum Beispiel auch die Google-DeepMind-Architektur als „Ansammlung vieler Turingmaschinen auffassen“, zusammengefaßt sogar als eine (neuronale) Turingmaschine, eine Instanz. Dennoch stellt die Verschiebung von der, wie man es nennen könnte, Mainframe- zur Netzwerk-KI eine Veränderung dar, oder genauer: Diese Verschiebung kommt einer Zuspitzung gleich und als diese Zuspitzung einer Klarstellung, wie sie in der aktuellen KI-Euphorie mehr denn je not zu tun scheint.
   Trotz ihrer Netzbasiertheit wird nämlich auch die „neue KI“ (ob als positive Verheißung oder als Schreckbild) verhandelt, als wäre sie – nun endlich auf erfolgreichem Weg dahin – vom Schlage eines HAL, der doch von heute aus fast so ferne Vergangenheit ist, wie er einst ferne Zukunft war. So ziert sein berüchtigtes Auge den Umschlag einer der einschlägigen Buchpublikationen (Nick Bostroms Superintelligenz), und wieder einmal wird darin die – je nach Zeitgefühl nähere oder fernere – Zukunft der „Entwicklung einer maschinellen Intelligenz auf menschlichem Niveau“ beschworen, ähnlich wie man andernorts lesen kann, die KI-Fortschritte gäben Anlaß, „die Realisierung einer starken, universellen KI nicht mehr länger als ewiges Phantasma abzutun“. Eher wäre sogar mit einer das HLMI-Niveau (human-level machine intelligence) übersteigenden Entwicklung und daher mit dieser neuen alten Gefahr zu rechnen: „Eine maschinelle Superintelligenz dürfte selbst ein äußerst mächtiger Akteur sein, der sich erfolgreich gegen seine Schöpfer wie auch gegen den Rest der Welt durchsetzen kann.“ Deshalb, so die Mahnung, müsse „jeder künftige KI-Programmierer sehr gute Argumente dafür vorbringen können, daß seine superintelligente Maschine tatsächlich menschenfreundlich ist, bevor er sie einschalten darf.“
   Als stünde die eine superintelligente Apparatur zu erwarten, die sich auf Knopfdruck aktivieren läßt – oder eben auch nicht. Als wäre die Implementierung, Verwendung und Vermarktung aller möglichen KIs nicht längst in vollem Gange. Als gälte nicht der so simple wie weitreichende Umstand, daß nicht mehr und nicht weniger als Google Search das (so Bostrom selbst) „bisher beste KI-System überhaupt“ ist. Man nimmt die Ergebnisse einer einfachen Google-Suchanfrage – solange sie nicht über Googles Sprachassistentensystem erfolgt – kaum als KI-Leistung wahr; man nimmt sie vielmehr entgegen wie den Service einer allwissenden Auskunftei: als wäre (Stichwort: Wikipedia) schlicht das Nachschlagen in einem Lexikon oder einem Adreßbuch oder einem Veranstaltungskalender automatisiert. Aber in Googles KI-Entwicklung(en) ist die Schaltintelligenz aller Computertechnologie und damit zumal des Internets am Werk.

   (…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.