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Cover Lettre International 82, Selma Gürbüz
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LI 82, Herbst 2008

Komponieren

Musik, Paradox, Flux - aus der Werkstatt eines Ohrendenkers

Roland Barthes sagte einmal, Musik sei das, was nie wiederkehrt … Wir könnten hinzufügen: was immer voraus ist. Im Grunde: was immer schon zu Ende ist. Musik hören, das ist wie eine Drohung. Die Drohung, daß das „wiederum schon zu Ende“ ist. Nun wird man hartnäckig. Man hört noch einmal. Dann ist es wiederum nicht mehr da. Und sogar weniger als zuvor. Dann beginnt das Ganze von neuem. Vor der Musik herrscht Stille. Unmittelbar danach ist da nur mehr eine Erinnerung. Eine „Erinnerung an die Stille“ von vorher. Die ganze Ambiguität des Hörens beruht auf diesen Fragmenten von Augenblicken, die schon nicht mehr da sind. Wer hört, nimmt an, die Zeit wahrzunehmen. Doch: Die Zeit ist nicht. Dennoch wissen wir, daß dies etwas bezeichnet. Nun geraten wir erneut in Versuchung. Wir hören noch einmal. Und das Ganze beginnt von neuem. Wie diese Zeit aussagen, die „nicht aufhört, sich nicht auszusagen“?

Halten wir fest, daß die Natur der beim Hören vergangenen Zeit vor allem in einer Markierung topographischer Art besteht. Das Hören entfaltet sich von selbst, sozusagen ohne unser Wissen. Etwas bringt unser Gehirn dazu, die im Klangfluß zum Ausdruck kommenden Abfolgen und Grenzen mit äußerster Geschwindigkeit zu analysieren. Hören heißt: den Saum einer Form ausmachen. In Wahrheit handelt es sich eher um einen Mechanismus zur Erkundung von Rändern als von realen Grenzen, denn wir können die Form/Zeit dieser Musik noch nicht erfassen. Wenn sie endet, glau-ben wir, zu einer Gesamtheit, einer Demonstration dieser Zeit Zugang zu haben. Mir gefällt der Gedanke, daß wir uns hierbei täuschen. Denn meiner Ansicht nach ruft uns jedes musikalische Werk zu einem Umherirren auf. Vielleicht sogar dazu, dem Sinn zu entfliehen, zumindest jenem, mit dem unsere Welt gesättigt ist. Die Musik ist ein anderer Sinn, eine andere Logik. Daher ist sie in irreduzibler Weise paradox. Meine Worte als Komponist werden, so fürchte ich, oft in gleichem Maße paradox sein.

Dieses unterwegs seiende, wandernde Hören ist die Erfahrung einer Zeit, die wir für real halten, während es sich um eine Intention handelt. Mit der Zeit eines Werks zu korrespondieren, ihre Existenz zu erfassen ist ein „Holzweg“. Es läßt sich leicht feststellen, daß sich die Musik jedwedem materiellen Erfassen entzieht. Die Musik hinterläßt nämlich keine Spur. Ihr Erscheinen fällt mit ihrem Verschwinden zusammen. Die Musik erlischt so schnell, daß es unmöglich ist, ihre Ausdehnung zu erfassen. Dadurch, daß sie aufgeführt, interpretiert wird, entzieht sich die Musik der Welt der konkreten Definitionen und kehrt zur reinen Intentionalität zurück. Zuhören führt uns an die Pforten einer unendlich subtilen Welt: die der Emotionen. Wir sollten diesem Wort gegenüber keinerlei Mißtrauen hegen. Die Emotion ist eine mentale Bedingung, der niemand entrinnt. Was wir von der Musik empfangen, ist eine Emotion. Gewiß, Emotionen verbinden und vermischen sich zu unscharfen Konglomeraten, aber sie verwandeln uns. Die Emotion ist eine Bewegung, und durch die Emotion werden Geist und Körper neu komponiert. Zuhören heißt, das Bewußtsein einer Erfahrung zu verspüren, die sich zwischen einem psychischen und einem physischen Faktum manifestiert. Wo entsteht diese Erfahrung? Und zunächst einmal: Woraus entsteht eine Musik? Vielleicht hat ein musikalisches Werk keinen genau definierten Ursprung, denn seine Herkunft verliert sich im Wuchern seiner Interpretationen und wird vergessen. Zuhören heißt, diesen Verlust des Sinns wiederzufinden. Musik hören heißt, die Erfordernisse dieser Preisgabe zu (er)finden. Doch Komponieren ist nicht Zuhören. Wer komponiert, hört, aber er hört nicht zu. Als Jugendlicher schien mir all dies auf demselben Bemühen zu beruhen, und lange Zeit habe ich Komponieren und Zuhören in einen Topf geworfen. Ich fürchtete mich, zu komponieren, weil ich davon nichts wußte. („Das Ohr, das Organ der Furcht“, sagt Nietzsche.) Ich hatte nicht einmal irgendeine Vorstellung vom Komponieren. Zuhören blieb das einzig verfügbare Mittel für diese undenkbare Überschreitung. Das Zuhören war wie ein Schatten. Der Schatten des Komponierens.
Die Zeit des Philosophen oder die Zeit des Physikers ist nicht die Zeit des Musikers. Keine der raumzeitlichen Beweisführungen der Philosophie oder der Wissenschaften ist der Musik angemessen. Musiker gehen davon aus, daß die Zeit ihre wichtigste Materie sei, können es diesbezüglich aber bei fast rudimentären Kenntnissen belassen. Das ist das berühmte Tausendfüßlersyndrom: Dieses kleine Kriechtier kommt nicht mehr voran, sobald es sich über die Funktionswei-se seines Gangs Fragen stellt. Komponisten ist dieses Paradox wohlbekannt: Musik schreibt man nicht mit Zeit, sondern mit Dauern. Komponieren heißt, Blöcke von Dauern zusammenzufügen. Komponieren heißt, diese Blöcke wieder und wieder zu fragmentieren, sie dann bis zur Erschöpfung zu dehnen, wobei die Spuren ihrer unaufhörlichen Verwandlungen verborgen werden.

Komponieren heißt nicht, die Zeit zu ordnen. Wenn man komponiert, ordnet man die Dinge nicht mit der Zeit, sondern neben der Zeit. Was wir als ein Vorher-Ereignis denken, hat kaum mehr Bedeutung als das, was nachher kommen wird. Komponieren heißt nicht beweisen. Komponieren heißt, Impulse und Flüsse zu erfinden. Das ist wie bei einem fließenden Gewässer. Das kommt von weiter oben, fließt vorüber, man weiß, wohin es fließt, aber das ist nicht das, was uns beschäf-tigt. Die eigentliche Frage besteht darin, wie man es vermag, das zu komponieren, was quergeht. Komponieren heißt, Querwege, Entfernungen, Distanzen zu erfinden. Das ist wie fliehen und immer weiter fliehen. Aber Komponieren ist langwierig. Und langsam. Sehr langsam. Sehr, sehr langwierig und langsam … Das geht nie voran. Weil man nicht weiß, was das werden wird. Die paradoxe Frage lautet nicht: Wie die Sache vollenden? Sondern: Wie nicht enden? Komponieren heißt, nie zu enden. Zu enden, das würde viel zuviel Zeit kosten, das heißt unsere ganze Zeit. Deswegen werden wir wohl nie enden.
Denn um zu komponieren, wartet man besser. Lange. In dieser langen, beinahe verlorenen Zeit (die sich in den Details des Schreibens verliert) spielt sich das Warten ab. Warten heißt finden. Um zu finden, muß man Zeit verlieren. Dieser Verlust ist das Warten. Ich bin stets überrascht, wenn ich feststelle, wie das, was Gegenstand meiner Suche war, während des Wartens kommt. Dieses Warten ist jedoch nicht inaktiv, im Gegenteil. Das Schreiben einer Partitur ist derart komplex (und damit meine ich „kompliziert“), derart großzügig im Verlieren von Zeit, daß es auf natürliche Weise, beinahe von selbst, den Raum dieses Wartens produziert.

Wenn ein Vogel fliegt, teilt sich die Luft um ihn herum in feine Netze. Jede dieser unsichtbaren Spuren produziert weitere und immer weitere, die sich unendlich teilen, wobei sie feinste Ketten von Wirbeln erzeugen. Die Luft ist von unzäh-ligen vibrierenden Oberflächen durchzogen, deren Perioden unaufhörlich zu anderen werden. Komponieren heißt, ganz so wie bei diesen Luftwirbeln, sich an dieser endlosen Bewegung zu erfreuen. Das ist ein vitalistischer Akt. Was in der Musik auf dem Spiel steht, ihre wahrhafte Begeisterung ist das Werden. Eine andere zu werden. Die Musik ist eine reine Welt vielfachen Werdens, wo alles Bewegung ist und zur Bewegung zurückkehrt, die es hervorgebracht hat. Komponieren heißt, nie zu beginnen, nie noch einmal neu zu beginnen, nie zu enden. Komponieren heißt: weitermachen. In Wahrheit braucht die Musik kaum Zeit. Sie ist die Zeit. Jene andere Zeit aber, die – daneben – vorübergeht, ohne je damit aufzuhö-ren, ist sie wirklich das Gefäß der kommenden musikalischen Ereignisse, wenn wir doch die Entwicklung derjenigen [Ereignisse], die unser Ohr zum erstenmal entdeckt, niemals kennen können? Wenn man sagt: „Das muß ich noch einmal hören“, dann deshalb, weil unser Gehirn den zeitlichen Abstand zwischen der Stille zuvor und der Erinnerung danach nicht verarbeitet hat. Hören heißt also, den Weg wiederzuerkennen. Dagegen bedeutet Zuhören, diesen Weg vor allem zu suchen. Diejenigen Musiken, die man als ängstlich bezeichnen könnte, jene, die es vorziehen, wiedergehört zu werden, bevor ihnen überhaupt zugehört wurde, jene, die man bereits wiedererkennt, bevor sie zur Stille zurückkehren, sind Musiken, die das Zuhören durch Konventionen der Erinnerung ersetzen. Diese Erinnerung ist die Klippe, an der das Komponieren zerschellt. Die Erinnerung, die zählt, ist nämlich nicht die Intuition desjenigen, der den bereits durchlaufenen Weg wiederfindet, sondern die Erfahrung desjenigen, der querend nach Wegen sucht. Erinnern heißt, ein Feld lebendig strahlender Koinzidenzen erstehen zu lassen. Unter dieser Bedingung kann die Erinnerung zur wahren Substanz der Musik werden. Das Prinzip der Wiederholung ist bekanntlich eine der mächtigsten Grundlagen des musikalischen Denkens. Komponieren heißt auch, noch einmal [auf etwas] zurückzukommen. Meine Musik baut oft auf der Wiederholung derselben Motive auf. Nach dem Bild von Wellen verbindet beziehungsweise artikuliert sie zahlreiche harmonische, melodische und rhythmische Umwälzungen. Diese Zyklen berühren, schneiden und überschneiden sich, ohne ihr jeweiliges Wachstum zu unterbrechen. Es kann also vorkommen, daß sich der Zuhörer mit parasitären mentalen Verknüpfungen belastet (wenn er versucht, all diese Motive miteinander zu verbinden) und sein Gehirn letzten Endes Mühe hat, sich an die vorhergehenden Ereignisse zu erinnern. Das ist um so besser. Zuhören ist keine rationale Tätigkeit. Ich habe immer darauf geachtet, diese Bedrängnis zu begreifen und zu akzeptieren. Komponieren heißt nicht überzeugen. Im Gegenteil, ich hoffe stets, daß der Zuhörende hinsichtlich dessen, was er sucht, weder etwas erwartet noch voraussetzt.

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