LI 143, Winter 2023
Mensch und Material
Frontberichte 2023 – Beobachtungen und Erfahrungen im UkrainekriegElementardaten
Genre: Reportage
Übersetzung: Aus dem Schedischen von Jana Hallberg
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Textauszug
Zerstörung hat etwas an sich, das sie schnell uninteressant macht. Vielleicht, weil Ruinen in rauen Mengen dazu tendieren, einander zu ähneln. Vielleicht, weil sie sich ohne die Menschen, die sie einst bewohnten, in tote Hüllen (im wahrsten Sinne des Wortes) verwandeln, die alle die gleiche Geschichte erzählen. Auch die Landschaft selbst verliert in Donezk ihren Sinn, wenn man sie schnell genug durchstreift: die ewigen Baumvorhänge, die weiten Felder mit schwarzen, welken Sonnenblumen, die fast identischen Berge aus Schlacke. Allmählich bekommt die Monotonie einen eigenen Wert. Wie übel zugerichtet ein Dorf auch sein mag, (und wo der Schornsteinrauch, der in der Morgenkühle weißgrau und säulenartig aufsteigt, die einzige Spur von Leben ist), so erblickt man dort, als erstes, eine dick eingemummelte alte Frau, die mühsam ihren Karren die zerfurchte, zugefrorene Dorfstraße entlang zieht und, als zweites, zwei herrenlose Hunde, die zwischen den Ruinen hin und her rennen. Oder so ähnlich. Als würde man eine billige Animation sehen, die immer wieder dasselbe zeigt. Aber in einer Woche oder einem Monat oder in drei kann dieses Dorf, das im Moment kaum existiert, plötzlich wichtig werden, so wichtig, daß Menschen ihr Leben dafür geben werden, um es zu verteidigen.
(…)
Dies ist ein Artilleriekrieg. Genau wie der Erste Weltkrieg, dessen äußere Formen jetzt eine unerwartete Wiederkehr erleben. Und auch wie der Zweite Weltkrieg, der nicht zuletzt hier in der Ukraine ausgefochten wurde, „The Bloodlands“, wo die Schlachtfelder Schicht um Schicht übereinanderliegen, ein Land aus vergessenen Massengräbern. „Die Artillerie ist der Gott des Krieges“, soll Stalin gesagt haben. Die sowjetische Armee lebte in Einklang mit diesem Credo, und nach ihr nun auch die russische. Jeder Widerstand soll in Stücke gesprengt, in die Erde gehämmert werden.
Der Sanitäter bestätigt das. „Ich kann es nicht ganz genau sagen, aber zirka 90 Prozent aller Verletzungen stammen von Granaten. Am gewöhnlichsten sind Verletzungen von Explosionen. Von der Druckwelle. Die Trommelfelle platzen natürlich, aber oft gibt es auch Verletzungen an der Lunge, auch an anderen inneren Organen, den Gedärmen. Wir leisten Erste Hilfe, stabilisieren und fahren sie dann ins Militärkrankenhaus in der Stadt. Manche der Schwerverletzten werden den ganzen Weg bis nach Charkiv gebracht. Wir sehen alle möglichen Verletzungen, schlimme Verletzungen.“ Frage: Gewöhnt man sich daran? Antwort: „Die meisten gewöhnen sich nach ein, zwei Wochen, vielleicht einem Monat daran. Dann ist es Routine, ein Job, ein Job, der erledigt werden muß. Man lernt, sich nicht so von Gefühlen leiten zu lassen. Aber es berührt einen natürlich trotzdem, wenn man es gerade geschafft hat, jemanden lebend ins Krankenhaus zu bringen, und zwei, drei Stunden später ist er tot. Alle spüren das und leiden darunter, aber in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise.“ Der Sanitäter klettert wieder in seinen deutschen Militärkrankenwagen, der mit laufendem Motor bereitsteht, die roten Kreuze sorgfältig mit grüner Farbe übermalt. („Die Russen schießen besonders viel auf Krankenwagen.“)
Der Verbrauch an Munition ist enorm. Während der Großoffensive im Sommer feuerte die russische Armee täglich bis zu 50.000 Granaten ab, die Ukrainer antworteten mit zirka 7.000. Zur Herbstmitte ging dann die russische Anzahl merklich zurück, vielleicht auf die Hälfte. Beide Seiten schießen so viel, daß sie manchmal zu wenig Munition haben, und (mindestens genau so wichtig) die Feuerrohre der Artilleriegeschütze allmählich verschleißen. Seit einiger Zeit schießen die Russen wieder mehr.
Ein Artilleriekrieg wird selten geschildert. Wahrscheinlich, weil es ihm an dramatischen Qualitäten fehlt: Er ist nicht spannend, sondern nur monoton. Der Protagonist kann kaum etwas anderes tun, als zusammengekauert in seinem Loch zu hocken und auf glückliche Zufälle zu hoffen, während der Antagonist eine nicht beeinflußbare, ferne, blinde Kraft ist. Dort gibt es keinen Wettbewerb, keinen Zweikampf, niemanden zu überlisten, nur eine Kollision zwischen Mensch und Materie. Und wo die Materie gewinnt, wann immer sie den Menschen erreicht. Das Endergebnis ist auch nie filmreif. Ein Splitter, leicht wie ein Gramm, kann töten, fast ohne eine Spur, ein Splitter von zwei Gramm kann eine Hand abtrennen. Eine Granate, die nah genug explodiert, kann enthaupten, Arme und Beine absprengen, eine Person in der Mitte zerteilen, den Körper von innen nach außen stülpen, ihn in ein buntgemischtes Sammelsurium aus Eingeweiden und Gliedmaßen, in eine leere Hülle aus geschwärzter Haut verwandeln, ihn in Stücke schlagen, ihn in winzigkleine Stücke schlagen (hier endet der Katalog von Obszönitäten), ihn verdunsten, ihn spurlos verschwinden lassen.
Frage: Was macht man dann? Der Militärarzt, Leiter der Krankenstation, erklärt: „Manchmal hat man nicht einmal einen Finger oder ein Paar Beine, die man auf ihre DNA untersuchen kann. Dann wird das ein Fall für das Gericht. Wenn man die Umstände kennt und man sicher ist, daß die Person tatsächlich tot ist, kann das Gericht sie nach einem Jahr von dem Tag an, an dem es passiert ist, für tot erklären lassen. Das ist Routine. Schwieriger ist es mit den gewöhnlichen Toten. Wie an Neujahr. Da war es besonders schlimm. Es ist meine Aufgabe zu dokumentieren, also Totenscheine auszustellen, aber auch, die Körper zu photographieren, und die Dokumente. Viele von ihnen waren so jung. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, einen toten 18-jährigen nach Hause zu schicken und im Sarg ist nur ein Körperteil?“
(…)
Sonne, leere, abgeerntete Sonnenblumenfelder. Der LKW mit seinem Salvengeschütz steht in Warteposition hinter einem dünnen Baumvorhang. Die dunkelroten Bakelit-Caps auf der Rückseite der Raketenrohre zeigen an, daß es geladen ist. Der LKW ist in einem guten Zustand, es sind nur einige kleinere Splitterschäden zu sehen. (Sie haben tatsächlich keine Gefallenen gehabt, sagt jemand. Allerdings haben sie seit Kriegsbeginn fünf solche Salvengeschütze verloren.) Der Kompaniechef Roman ist 49 Jahre alt, ein etwas düsterer Kerl mit einem Gesicht, das an John Belushi erinnert, mit blauer Schutzweste, Handy und Tablet in einer braungrünen Becknar-Tasche, die über der Brust hängt. Als das Gespräch sich nicht mehr um militärische Dinge und die Lage bei Marinka dreht, wird er plötzlich munter. „Das gewöhnlichste psychologische Problem ist die Angst vor dem Tod. Von dieser unnötigen Last mußt du dich befreien. Die Angst vor dem Tod kann Menschen gefangenhalten, anketten. Was ich jemandem sage, der große Angst hat zu sterben, hängt natürlich von der Person ab, aber das ist oft, auf komplizierte Art und Weise, an verschiedene persönliche Probleme geknüpft, die diese Person schon früher, vor dem Krieg, hatte. Ich versuche herauszufinden, worum es in diesen alten Problemen ging, was da los war. Oft trägt man an einer Schuld. Wir Menschen sind so viel mehr als nur unsere Körper.“ Sein Handy klingelt. Zeit zu schießen. Innerhalb weniger Minuten schwirren die ersten Raketen los, mit Feuerschwänzen, die oben am eisblauen Himmel rasch zu Lichtpunkten schrumpfen.
(…)