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Cover Lettre International 81, Georg Baselitz
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LI 81, Sommer 2008

Zeit des Proteismus

Der Mensch als Protoplasma der technischen Zivilisation

Jede Phase eines Jahrhunderts – Anfang, Mitte, Ende – besitzt ihre eigene Weltempfindung. Das Phänomen des Endes ist bis heute am besten erfaßt, das sogenannte Fin de siècle, das sich im historischen Gedächtnis der Menschheit bereits zweimal wiederholt hat. Das Fin de siècle des 19. Jahrhunderts wird mit Dekadenz, Ermüdung, Hoffnungslosigkeit, Immoralismus, Neurasthenie, raffinierter Morbidität, Faszination von Krankheit und Tod in Verbindung gebracht. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wiederholte sich das Fin de siècle, allerdings nicht mehr in Form der Dekadenz, sondern in jener des Postmodernismus. Es gab keinen raffinierten, nervenkitzelnden Verfall, kein Berauschtsein von Krankheit und Untergang, aber es gab ein skeptisch-hedonistisches Gefühl von der Vollendung und Erschöpfung sämtlicher Kulturformen: Es blieb nur noch, damit zu spielen, sie neu zusammenzusetzen, das zu „wiederholen“, was von anderen bereits gesagt worden war. Zum Hauptbegriff dieses neuen Jahrhunderts wurde die Vorsilbe „post-“: Postmoderne, Postindustrialisierung, Posthumanismus, Postkommunismus, Postkolonialismus, Poststrukturalismus, Postutopismus …

Der Tod Gottes, Ende des 19. Jahrhundert von Nietzsche verkündet, kehrte Ende des 20. Jahrhunderts als eine Serie von Toden und Selbstmorden wieder: Tod des Autors, Tod des Menschen, Tod der Realität, Tod der Wahrheit …

Doch läßt sich an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert ein radikaler Schub im Selbstbewußtsein der Kultur beobachten. Wir leben nicht mehr nach (der Moderne, des Strukturalismus, des Utopismus, des Kommunismus …), sondern am Anfang einer neuen Epoche, die sich am besten mit der Vorsilbe „proto-“ charakterisieren läßt: protoglobal, protoinformativ, protovirtuell … Wir begreifen uns nicht mehr als Ende, sondern als Beginn von Prozessen, die in die ferne Zukunft hineinreichen. Unsere Zivilisation kann als protoglobal bezeichnet werden: Weil die Globalität als solche, entsprechend der weithin akzeptierten Definition des sowjetischen Astrophysikers  N. S. Karandaschew, die Inbesitznahme sämtlicher Energiequellen auf diesem Planeten voraussetzt -sowie die Fähigkeit, sein Klima zu regeln und zu verändern. Nach Schätzungen von Spezialisten wird unsere Zivilisation noch drei bis vier Jahrhunderte brauchen, um wahrhaft global zu werden.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.