LI 102, Herbst 2013
Ruhrgebiet inszenieren!
Schlingensief und Kippenberger gewidmet und der Sehnsucht nach KunstElementardaten
Genre: Kulturgeschichte, Stadtporträt
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Textauszug
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269 Zimmer
Das „klassische“ Ruhrgebiet des industriellen Bergbaus, der Montan- und Schwerindustrie, der Waffenproduktion für zwei verlorene Weltkriege mit Millionen und abermals Millionen von Toten, der lebenslangen, generationsübergreifend alternativlosen „Maloche“ unter Tage, der Staublunge, den Bergarbeitersiedlungsexistenzen mit kurzer Lebensdauer im eigenen Häuschen mit Garten, Plumpsklo, Karnickelställen und Taubenzucht beginnt um 1800 und endet faktisch mit dem sogenannten „Zechensterben“ und dieser dramatischen Bremsspur zwischen 1953 und 2000. Dann kommt diese historische Riesenlokomotive Ruhrgebiet samt Belegschaft ausgebrannt + abgewrackt, ausgemustert + abgeschrieben endlich zum Stehen + zum Stillstand.
Während der Montanperiode (wirtschaftliche Monokultur) herrscht hier ein eigenes, autochthones Mittelalter, eine quasi vorhistorische Zeit. Es dominiert die erzwungene Gemeinschaft der de facto leibeigenen Püttarbeiter gegenüber dem allmächtigen, über Leben und in der Regel frühen Tod entscheidenden Lehnsherren, dem Besitzer der Zeche, des Bergwerks, der Kokerei, des Stahlwerks usw. Für die einfachen Menschen dieser Epoche gilt, was Jean Gebser über die „unperspektivische Welt“ der Frühromanik geschrieben hat: „Das Fehlen eines Raumbewußtseins schließt das Fehlen eines Ichbewußtseins ein, da zur Objektivierung des Raums und zu seiner Quantifizierung ein sich seiner selbst bewußtes Ich gehört, das sich diesem Raum gegenüberzustellen und ihn, aus der Seele entäußernd, auch darzustellen vermag.“ (Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart 1, München 1973, dtv, S. 36) Schlichter ausgedrückt: Der Kumpel ist nicht nur unter Tage, sondern auch über Tage ein Höhlenbewohner – es gibt eine reale Höhle unter der Erde, in der unter extrem gefährlichen, Solidarität erzwingenden Bedingungen gearbeitet wird; und es gibt die soziale Höhle der Familie, der Sippe und der engen transkulturellen Kollektive erzwungener Bildungsferne. Das ergibt für die Masse eine existentielle Gesamthöhle, eine komplett uterine, prähistorische Lebensweise.
Ein geschichtlich aktives Subjekt gibt es in dieser sozialhistorischen Blase nur in Gestalt des patriarchalisch-gottähnlichen Feudalunternehmers. Und der gibt sich alle Mühe, die Historizität + Endlichkeit seiner Existenz ideologisch, politisch, strukturell und auch architektonisch zu überhöhen, zu ästhetisieren und zu verschleiern. Die Villa Hügel hat 269 Zimmer. Da kann sich das Proletariat schon mal verirren.
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Und jetzt alle: Metropole!
Aus 2010, dem Jahr des Ruhrgebiets als Europäischer Kulturhauptstadt, sprang keine zündende Idee, kein utopischer Funke, keine überzeugende, tragfähige Vision, die das Ganze der Region – also Land, Geschichte und Bevölkerung – in eine wie auch immer bessere Zukunft transponieren/transformieren könnte. Die „Metropole Ruhr“ ist in ihrer aktuell kommunizierten Form die Kopfgeburt einer x-beliebigen Werbe-/Design-/Kommunikationsagentur irgendwo zwischen Hamburg und Düsseldorf, eine ferngesteuerte Marketingbehauptung, die auch weiterhin reibungslos über die Lebenswirklichkeiten der Reviermenschen hinweggleiten wird, weil niemand Interesse hat, sie in diesen Lebenswirklichkeiten zu verankern und zu gründen.
Berlin (also ein Bundesministerium in Preußen) bezahlt außerdem noch ein paar Leute, die halten ein Reklameschild hoch, auf dem „Kreativwirtschaft“ steht, Zentrum Dortmund. Seit neuestem kann man nicht mal mehr sagen, man weiß nicht, was das sein soll. Es gibt einen schlauen Artikel auf Wikipedia, da steht’s drin. Woanders (zum Beispiel in Berlin oder Hamburg oder an der Rheinschiene) funktioniert das vielleicht sogar schon. Aber hier nicht. Wer „kreativ“ ist oder sein will oder etwas bewegen will, Ideen hat und die auch umsetzen und nicht nur mittelmäßig selbstverliebt davon schwätzen will, geht nach Berlin oder Hamburg oder an den Rhein. In dem Maße und mit dem Talent und der sirenenhaften Intensität, wie eine Stadt wie Berlin Kreativität anzieht und ermutigt, stößt das Ruhrgebiet sie ab oder treibt sie von sich fort. Das gilt nicht für alle Ruhrgebietsstädte in gleichem Maße, das ist auch im Wandel – aber es gilt! In Essen-stellvertretend-für-das-Ruhrgebiet ist es am schlimmsten, am schwierigsten, am zähesten. Eine Bushaltestelle auf der Schwäbischen Alb bei Nacht ist inspirierender.
August Everding, der wie ich aus Bottrop stammt, Sohn des Organisten an der katholischen Cyriakuskirche, hat mir mal gesagt: „Wenn Sie Künstler werden wollen, junger Mann, gehen Sie nie wieder dahin zurück. Meiden Sie das Ruhrgebiet. Die lassen Sie dort nicht großwerden. Gehen Sie weg, bleiben Sie weg.“
Provinz hört nicht auf, Provinz zu sein, nur weil man sich fremddesignt auf einer Website und sich auf Hochglanzveranstaltungen für ein paar happy few voll in die Taschen lügt und ständig von Metropole plappert. Auf der Straße kann das eh schon keiner mehr hören. Am schlimmsten war das in den letzten Monaten von 2009, also kurz bevor der 2010-Rummel losging. Wenn du da in der S-Bahn laut „Metropole“ gesagt hast, hast du fast was auf die Fresse gekriegt.
Provinz hört auf, Provinz zu sein, indem sie sich selber eingesteht, Provinz zu sein (womit die meisten Menschen hier übrigens kein Problem haben). Da fängt’s schon mal an. Dieses Eingeständnis der eigenen Limitiertheit ist für jede Region eine vielleicht schmerzhafte, aber notwendige Erfahrung beim Erwachsenwerden. Die Idee, das Ruhrgebiet als Metropole zu adressieren, zu projizieren ist nicht per se falsch; es ist eine Überforderung – und als Überforderung macht es durchaus Sinn. Man muß dann aber konsequent dabei bleiben. Das Ruhrgebiet hat ohne Frage das menschliche, geistige und intellektuelle Potential zu einer Metropole (wenn man weiß, was das Wort bedeutet). Aber sie braucht erstens ein neues großes geschichtsfähiges Thema, und zweitens muß man von der Realität ausgehen und mit dem arbeiten, was da ist: ein anachronistisches Duodezfürstentum, bestehend aus 53 Duodezstädten und ebenso vielen Duodezlokalfürsten und mit einer – wie Hermann Löns sagen würde – Bückeburg stellvertretend für den Rest. Eine Operette in Grau, in der man sich nicht einmal auf eine gemeinsame Schienenbreite für Straßenbahnen einigen kann – das ist die Wahrheit; die muß man inszenieren, nicht zukleistern, auch nicht mit Hochglanzlackbroschüren. Und dieses Thema muß auch pragmatisch groß, also mehrheits- und sozial konsensfähig sein. Mehr als das: Es muß die Menschen begeistern, das alte Thema, den ehernen Dreiklang von Kohle, Stahl, Krieg ersetzen und den Menschen wieder Stolz, Würde und Selbstrespekt geben können. Das neue Lied muß groß genug sein für eine neue Ära.
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