LI 94, Herbst 2011
Nachtbuch
Aufzeichnungen aus den Jahren 1978 bis 1984 - Eine AuswahlElementardaten
Genre: Tagebuch
Übersetzung: Aus dem Flämischen von Petra Serwe
Textauszug: 2.800 von insgesamt 42.000 Zeichen
Textauszug
(…)
New York, 4. Februar 1982
Performancekunst hat einen hohen ökonomischen Wert (unbezahlbar), aber überhaupt keine ökonomische Macht.
Sie entzieht sich allen Spielregeln des Kunstmarktes.
Kein einziger Galerist und/oder Sammler kann sie kaufen oder verkaufen.
Gibt es etwas Schöneres als das Wissen, daß dich niemand besitzen kann?
Darum ist Performancekunst ein wichtiges Medium.
Sie stellt das Wesen der Kunst in Frage.
Und konfrontiert den Künstler mit seinen eigenen physischen und mentalen Grenzen.
Wodurch er die grundlegendsten Fragen über sich und seinen Beruf formuliert.
(…)
Antwerpen, 5. April 1983
Die Performance
muß eine edle Selbstaufopferung sein.
(Mich aufschneiden und meine Eingeweide verschenken.)
Brüssel, 15. April 1983
Theater muß leidenschaftlich weiter gehen als die Sprache, als die Voraussetzung unseres Mundes.
Sonst verleugnet das Theater den Instinkt, die Intuition und die Intelligenz des Körpers.
Wir müssen das Theater aus all unseren Körperöffnungen sprechen lassen.
(…)
Brüssel, 18. April 1983
Ein brillanter Tänzer im Körper eines Affen, der ständig improvisiert.
Ein Körper, der spricht, so wie wir sprechen, mit Wiederholungen, stockend.
Ein Körper, der unsaubere Bewegungen sauber und im Detail zeigt.
Ein Körper mit einem Bewegungsgedächtnis und den Reflexen des amerikanischen modernen Tanzes.
Ein Körper wie eine gelenkige, muskulöse Banane, die man essen möchte.
Steve Paxton ist dieser Affe.
Er hat viele von diesen Bananen gegessen.
(…)
Antwerpen, 14. Februar 1984
Als Vorbereitung auf den Arbeitsprozeß
verschlinge und plündere ich ein Buch des französischen Philosophen Michel Foucault.
Ich lese es auf Englisch: Discipline and Punish.
Der Theaterraum ist das Gefängnis.
Die Schauspieler sind die Gefangenen.
Die Tänzer sind die disziplinierten Körper.
Die Schauspieler und Tänzer müssen Krieger werden.
Antwerpen, 15. Februar 1984
Den ganzen Tag Improvisationen zu dem Märchen
Des Kaisers neue Kleider.
Wir hatten Spaß.
Wir haben Theater gespielt und unser eigenes Märchen kreiert.
Es war vergnüglich zu sehen, wie die Schauspieler und Tänzer sich in purer Spielfreude verloren.
Antwerpen, 16. Februar 1984
Ein Energiestrom fließt durch den Raum.
Meine Schauspieler und Tänzer kennen den Hunger nach dem Suchen, dem Entdecken, dem Versuchen, dem Scheitern.
Ich bin ein zufriedener Führer, der versucht, die Energieströme in die richtigen Bahnen zu lenken.
Antwerpen, 17. Februar 1984
Disziplin, ein Instrument, um Genauigkeit zu kreieren.
Der disziplinierte Körper wird sich wehren.
(Die charakterliche Individualität wird sich verraten.)
Antwerpen, 18. Februar 1984
So tun, als ob, muß echt werden (vom Theater zur Performance).
Echt muß eine Notwendigkeit sein (von der Performance zur Ekstase).
(…)