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Cover Lettre International, Charline von Heyl
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LI 125, Sommer 2019

Vom Leben der Insekten

Bienenvölker und Termitenkollektive – die Bedrohung der Artenvielfalt

   (…)
 

   VERFOLGTER BEFRUCHTER

Bienen haben sich vor etwa 110 Millionen Jahren aus wespenähnlichen Vorfahren entwickelt. Die meisten Wespen sind schnittige Fleischfresser, während Bienen langhaarige, blumenliebende Vegetarier mit einem ausgeprägten Sozialleben sind (die abstehenden Härchen, mit denen ihr Körper bedeckt ist, fangen Pollen auf, die zusammen mit Nektar die hauptsächliche Quelle ihrer Nahrung bilden). Ihre Umstellung auf vegetarische Ernährung hatte einen tiefgreifenden Einfluß auf die Entwicklung der Blütenpflanzen. Wenn wir wissen wollen, wie eine Welt ohne Bienen aussähe, müssen wir uns nur die Juan-Fernández-Inseln vor der Küste von Chile anschauen: Dort gibt es eine reichhaltige Vegetation, aber so gut wie alle Blumen sind klein, weiß und unscheinbar. Wir verdanken den Bienen aber nicht nur unsere herrlich bunten Blumen, auch viele unserer Nutzpflanzen sind auf Bienen als Bestäuber angewiesen. Es sieht so aus, als wäre sowohl unser Gehirn als auch unsere Welt tiefgreifend durch Bienen geprägt worden.

   (…)

   Es ist allgemein bekannt, daß Bienen viele unserer Feldfrüchte bestäuben, aber trotz dieses Wissens werden jedes Jahr mehr als 65 Milliarden Dollar für Insektizide ausgegeben. Diese Chemikalien haben eine katastrophale Wirkung auf die Bienen. Anders als Insektenschädlinge, die schnell immun gegen Pestizide werden, bleiben Bienen anfällig. Vielleicht liegt das daran, daß die meisten Insekten seit Millionen Jahren Erfahrung mit Abwehrreaktionen von Pflanzen haben. Aber Bienen sind gerngesehene Gäste auf Pflanzenblüten, also gibt es auch keine chemischen Abwehrstoffe, mit denen Nektar und Pollen verteidigt werden; Bienen kennen so etwas nicht. Hanson erklärt das so: „Für die Konsumenten von Feldfrüchten bedeuten Pestizide eine bekannte – und im allgemeinen zeitlich begrenzte – Einschränkung. Für Bienen sind sie einfach Gift.“
   Forschungen belegen das erstaunlich hartnäckige Vorkommen von Chemikalien, Pestizide inbegriffen, in der Umwelt. Chemische Analysen von Pollen, Honig, Wachs und Bienen selbst förderten Spuren von 118 Pestiziden zutage, von denen einige schon seit Jahrzehnten nicht mehr eingesetzt worden sind. Außerdem verstärken sich die Chemikalien gegenseitig: Zum Beispiel können einige Fungizide die Wirksamkeit von Insektiziden um mehr als das Tausendfache verstärken. Im chinesischen Bezirk Mao, im Norden der Provinz Sichuan, der lange Jahre für seine Apfelplantagen berühmt war, läßt sich anschaulich beobachten, was passiert, wenn die Bienen verschwinden. Anfang der 1990er Jahre wurden dort exzessiv und rücksichtslos Pestizide eingesetzt, was im Verbund mit schlechter Nahrungslage und fehlenden Nistplätzen dazu führte, daß sowohl die Honigbienen als auch die Waldbienen verschwanden. Als die Ernte ausblieb, stellten die Plantagenbetreiber Tausende von Saisonarbeitern ein, welche die Apfelblüten mit langen Stöcken, an die Vogelfedern gebunden waren, bestäuben sollten. Doch schafften es selbst die eifrigsten Arbeiter nicht, mehr als zehn Bäume pro Tag zu bestäuben. Die gesamte Plantagenwirtschaft brach unter den ausufernden Kosten zusammen, und heute gibt es nur noch wenige Plantagen in der Nähe von Wäldern, aus denen Wildbienen kommen und Blüten befruchten.

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   Für die Roboter-Forscher sind die Termiten „seelenlose Automaten – identische Maschinen ohne Erinnerung, die nur reagieren“, und eben diese Art von Roboter versuchen sie herzustellen. Allerdings stellte die wohl größte singuläre Erkenntnis diese Sichtweise der Termiten dramatisch auf den Kopf. Ein Mitglied des Forschungsteams versuchte 2013 die Wege zu verfolgen, die jede Termite bei ihrer Arbeit zurücklegt. Dabei wurde klar, wie einzigartig jede von ihnen ist: Zum Beispiel arbeiteten von 25 Termiten in einer Petrischale nur zwei am Bau (obwohl vier andere ihnen gelegentlich halfen), während 19 „einfach herumrannten“. Weit entfernt davon, stumpfsinnige Automaten zu sein, machte jede Termite, „was sie gerade tun wollte: graben, Erde bewegen, die Petrischale säubern, nur herumlaufen“.
Der einzig mögliche Schluß aus dieser Entdeckung war, so die Forscher, „daß informierte Individuen eine Aufgabe haben. Sie haben ein Empfinden.“ Margonelli folgert, daß „informierte Individuen“ eine nachhaltige Führungsposition in so unterschiedlichen Tierkollektiven wie Fischen, Vögeln und Ameisen einnehmen. Die Stärke dieses Systems liegt darin, daß es auf eine solche Art Nutzen aus ihren Fähigkeiten zieht, daß es „die Wahrscheinlichkeit reduziert, daß sie einem richtig versponnenem“ Individuum „mit schlechten Ideen folgen, ein Umstand, über den die Menschen mal gründlich nachdenken sollten“.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.