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Cover Lettre International 56, Pedro Cabrita Reis
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Inhaltsverzeichnis

LI 56, Frühjahr 2002

Kreolische Odyssee

Das Drama Lateinamerikas und die Mythologien der Zukunft

(... )

Constantin von Barloewen: Spanien hat den amerikanischen Völkern das ganze Spektrum der mediterranen Tradition übermittelt. Denn Spanien ist ja nicht nur christlich, sondern auch arabisch und jüdisch, es ist griechisch, karthagisch und römisch, es wurde von den Goten und sogar den Agyptern beeinflußt. Welche Auswirkungen hatte das auf Lateinamerika?

Carlos Fuentes: Der mediterrane Einfluß, der sich durch die Vermittlung Spaniens und Portugals auf uns auswirkt, ist überaus fruchtbar. Dieses vielgestaltige Erbe bedeutet ein außerordentliches Glück. Lange Zeit war uns nicht bewußt, daß Spanien mehr als Spanien bedeutete. Daß Spanien auch Rom und Griechenland hinter sich hatte und daß es außerdem aus jüdischen und islamischen Elementen bestand. Dieses Bewußtsein setzte sich erst ganz allmählich durch.

Schon seit langem erkennen wir an, daß die griechische Philosophie ein Teil unseres Erbes ist. Das römische Recht war ein wesentliches Element bei der Herausbildung der lateinamerikanischen Politik. Die jüdische und die islamische Tradition waren jedoch schwerer zu verstehen. Jorge Luis Borges hat die jüdische und die islamische Tradition den Lateinamerikanern verständlich gemacht. Durch die Erzählungen über Averroes, Almotásim oder die von ihm erfundene jüdische Heldin Emma Zunz. Ihm verdanken wir die Erkenntnis, daß wir diesen unermeßlichen Schatz besitzen. Wir haben die Möglichkeit, die großen Potenzen der jüdischen und der islamischen Tradition zurückzugewinnen, die Spanien zu seiner ewigen Schande, zu seinem ewigen Unglück im 16. und 17. Jahrhundert verbannt hat.

 

In der hispanischen Welt war der Stoizismus die Reaktion der Antike auf das Ende der Tragödie und den Verlust der Gottheit. Der von seinem tragischen Erbe des Glaubens und der Unterwerfung unter die Launen der Götter befreite Mensch wurde das Maß aller Dinge. Jedoch entdeckte er, daß seine Freiheit untrennbar mit seiner Einsamkeit verbunden war. Welche Auswirkungen hatte das auf die lateinamerikanische Kultur?

Für Lateinamerika und Spanien ist Seneca der große römische Philosoph. Seneca ist der stoische Denker, nach dessen Ansicht der Mensch nicht nur das Maß aller Dinge ist, vielmehr erklärt er auch, das Innenleben der Menschen sei der Ort, wo sie Zuflucht vor den Katastrophen finden, vor dem Unglück, das die Welt bringen kann, vor der feindseligen Welt. Immer hat man sich selbst, den Menschen als seine eigene Burg. Diese Philosophie des Stoizismus wurde in Spanien und Lateinamerika eingehend studiert. Wenn man in Spanien jemanden als einen Philosophen bezeichnen, nennt man ihn einen Seneca.

Tatsächlich folgte diese Philosophie auf die Welt der Tragödie und den Verlust der tragischen Welt, der schon an sich eine Tragödie ist. Daß man die Werte der tragischen Welt verloren hat, wie die Griechen sie sich vorstellten, ist ein ungeheurer Verlust. Meiner Ansicht nach bedeutet die Tragödie kein Verhängnis. Nehmen Sie den Prometheusmythos. Das tragische Problem ist: Wäre Prometheus freier gewesen, wenn er sich nicht um die Befreiung der Menschheit bemüht und statt dessen sein Schicksal einfach hingenommen hätte, oder ist er frei, obwohl er in Ketten liegt, weil er den anderen die Freiheit gebracht hat?

Der Sinn der griechischen Tragödie besteht darin, daß immer beide Seiten in einem gewissen Maße recht haben. Antigone hat recht, weil sie die Werte der Familie verteidigt, doch auch Kreon hat recht, weil er die Werte des Staates und der Gesellschaft verteidigt. Beide Seiten haben recht, und das bewirkt den tragischen Konflikt. Er kann mit einer Katastrophe enden, doch durch die Katharsis in der Darstellung des tragischen Schauspiels läßt er sich unendlich oft nachgestalten. Das bedeutete die Tragödie in Griechenland, und nicht ein unabänderliches Verhängnis.

Das haben wir verloren. Anstelle der Tragödie haben wir das Melodram bekommen. Der Unterschied zwischen Tragödie und Melodram besteht darin, daß in der Tragödie beide Seiten recht haben und im Melodram nur eine Seite recht hat. Es gibt einen Guten und einen Bösen. Die Voraussetzung Hollywoods ist das Melodram. In einem Western sieht jemand die Straße hinunter: Der Mann mit dem weißen Hut ist der Gute und der mit dem schwarzen Hut ist der Böse. Zwölf Uhr mittags werden sie die Sache mit einem Schußwechsel entscheiden, und wenn alles gutgeht, siegt John Wayne, der mit dem weißen Hut. Aber die tragische Spannung ist für immer verloren.

Im 20. Jahrhundert empfinden wir den Verlust der Tragödie sehr tief, denn anstelle der Tragödie und durch den Ausschluß der Tragödie haben wir das Verbrechen bekommen, den Holocaust, den Gulag, die repressiven Diktaturen, die Mißachtung der menschlichen Werte. Das ergibt sich aus dieser manichäischen Haltung: Ich bin der Inbegriff des Guten, du bist der Böse, und ich werde dich vernichten.

 

Im 16. Jahrhundert war Spanisch-Amerika das Utopia Europas. Im 19. Jahrhundert geschah das gleiche mit umgekehrten Vorzeichen, denn Europa wurde zum Utopia Spanisch-Amerikas. Guatemala-Stadt nannte sich sogar das Paris Lateinamerikas …

Als wir uns von Spanien trennten und die Unabhängigkeitsrevolutionen in den Jahren 1820 und 1821 begannen, beschlossen wir, die spanische Vergangenheit abzulehnen. Die Spanier hatten uns unterdrückt, und wir wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Die Indios und die Schwarzen verkörperten Barbarei und Rückständigkeit. Wo sollte man dann den Fortschritt finden? Er mußte in den Vereinigten Staaten und in Europa entdeckt werden. Er war viel annehmbarer, wenn er aus Europa kam, weil es weiter entfernt lag.

Die Nordamerikaner waren unsere direkten Nachbarn, und ihre Absichten erwiesen sich als recht undurchsichtig. Bereits 1823 wurde die Monroedoktrin formuliert, das Recht der USA, in Lateinamerika zu intervenieren. Das nichtspanische Europa hingegen sollte der Mittelpunkt des Fortschritts, der Demokratie und auch der Philosophie, des Stils und der Mode sein. Wir haben einfach ein anderes Modell anstelle des früheren gefunden.

Das große Drama Lateinamerikas war es, daß es diese Modelle in einer alogischen Nachahmung kopierte, wie es der französische Soziologe Gabriel Tarde genannt hat. Können Sie sich vorstellen, daß man Mansardendächer in den Tropen hat, daß man in Mérida, Managua oder Caracas ein Schneegestöber erwartet? Der nicaraguanische Romancier Sergio Ramírez erzählt, alle Damen Managuas wollten ihre Nerzjacken tragen, wenn sie im drückend heißen Monat Dezember in die Oper gingen, weil ja auch die Damen Europas im Dezember ihre Nerzjacken in der Oper trugen. Das ist ein typisches Beispiel für diese alogische Nachahmung, die es uns ungefähr ein ganzes Jahrhundert lang erspart hat, uns selbst zu beurteilen und zu prüfen, was wir wirklich gewesen und woher wir wirklich gekommen sind.

Die große Umwälzung der Mexikanischen Revolution von 1910 bis 1920 hat Mexiko gezwungen, sich selbst zu prüfen und festzustellen, was es wirklich war. Die Zapatisten und Villisten zeigten uns das wahre Gesicht Mexikos. Die modernen Künstler, Maler, Philosophen, Romanautoren, Lyriker und Komponisten entdeckten wieder, daß wir eine indianische und eine spanische Vergangenheit hatten und daß wir nur eine authentische Kunst schaffen konnten, wenn wir diese Wurzeln anerkannten. Jetzt ist das in ganz Lateinamerika zu einer Realität geworden.

Die gesamte Geschichte der lateinamerikanischen Kultur im 20. Jahrhundert ist eine fortgesetzte Selbsterkundung. Der lateinamerikanische Roman des 19. Jahrhunderts erscheint als eine bloße Nachahmung der großen französischen Vorbilder, vor allem Balzacs und Zolas. Mit einer Ausnahme. Der bedeutende brasilianische Autor Machado de Assis entdeckt, daß er in einer anderen Traditionslinie steht, in der von Cervantes und Laurence Sterne.

Doch erst im 20. Jahrhundert erklärt der Kubaner Alejo Carpentier, daß wir eine schwarze Tradition haben, und der Guatemalteke Miguel Angel Asturias erklärt, daß wir eine indianische Tradition haben. Der Argentinier Borges erklärt außerdem, daß wir auch eine islamische und eine jüdische Tradition haben. Mit all diesen Elementen konnten wir eine authentische lateinamerikanische Identität schaffen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.