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LI 128, Frühjahr 2020

Klangdenken

Ludwig van Beethovens philosophische Sendung

Kopisten nannten Joseph Haydns Symphonie Nr. 22 „Der Philosoph“, des gedankenvollen Adagios wegen, das die Komposition einleitet. Haydn erinnerte sich später, er habe beim Komponieren an ein Gespräch zwischen Gott und einem armen Sünder gedacht. Bei Beethoven kam niemand auf den Gedanken, eine seiner Kompositionen eigens „philosophisch“ zu nennen. Sein Gesamtwerk aber scheint eine denkerische Qualität zu durchwalten. So verwundert es nicht, daß schon seine Zeitgenossen in Beethovens Kompositionen mehr als nur Musik hörten. Durch sie schien das Titanische zu sprechen. Auch Beethoven selbst ging davon aus, daß man sich in „erhabener Stimmung“ befinden müsse, um die Nähe des „Geistes der Geister“ zu spüren, der allein, wie Beethoven im Tagebuch notiert, dem inneren Aufruhr zu befehlen verstehe, zur „schönen Ordnung“ zu werden und damit zu Kunst. Ob eine solche „Stimmung“ Voraussetzung oder Ergebnis musikalischen Schaffens sei – Schiller etwa bezeichnete eine „musikalische Stimmung“ als Bedingung lyrischen Schreibens –, ließ Beethoven offen.

(…)

Wenn es denn ein ästhetisches Paradoxon gibt, dann wohl dieses: Diesem menschlich offenbar unausstehlichen Künstler verdankt die Menschheit das musikalische Bekenntnis zur Humanität überhaupt. Nicht minder paradox gibt sich der Umstand, daß diese Musik, die – nach dem Urteil von Hector Berlioz – jenseits aller Worte spricht, wortsprachliche Reflexionen von besonderer Qualität hervorgerufen hat – beginnend mit den Kritiken E. T. A. Hoffmanns, hin zu Richard Wagners großer Beethoven-Abhandlung, Romain Rollands und Thomas Manns literarischen Transpositionen sowie Theodor W. Adornos ausgreifendem, aber Fragment gebliebenem Versuch über Beethoven. Man mag es für eine eigenartige Fügung halten oder für den Reiz der Gleichzeitigkeit, daß Beethovens tagebuchartige Reflexionen in dem Jahr einsetzten, 1818 nämlich, als der junge Schopenhauer seine grundstürzende Theorie von der Welt als Wille und Vorstellung vorlegen sollte. Ihre die Musik betreffende Hauptthese könnte unmittelbar Beethoven entnommen sein, die Behauptung nämlich, Musik sei unmittelbares Abbild des Willens.

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Drei Jahre nach Beethovens Tod behauptete Hector Berlioz, man erkenne in dessen Kompositionen eine sich überall offenbarende „poetische Idee“. Ähnliches bemerkte er sonst nur noch bei Carl Maria von Weber und – bei sich selbst.

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Bei Beethoven gewinnen Akkorde, Takte, Phrasen Seinsqualitäten; Ernst Blochs Forderung nach einer „Ontologie der Musik“, die einer Kritik an der gängigen metaphorischen Bestimmung von Musik gleichkam, könnte bei Bach und Beethoven ihren Ausgang genommen haben. Sie faßt eine musikalische Figur als solche auf, verfolgt aber im wesentlichen allein ihren Bewegungsablauf, ihre Veränderung – und das ganz im aristotelischen Sinne, der das Entstehen im Bewegen als Vorspiel zu seinem verändernden Vergehen verstand; wir würden im Fall der Musik hinzufügen: in der Bewegung der musikalischen Figur hin zu ihrem Verklingen. (…)
Wenn auch der Zug zum Aufbegehrend-Individualistischen bei Beethoven unverkennbar ist, findet dieser doch im Bekenntnis zur bergenden Gemeinschaftlichkeit eine gegengewichtige Entsprechung. Doch diese Gemeinschaft ist vielwertig und verpflichtet die solistischen Individualisten ästhetisch wie ethisch in Form eines programmatischen Zusammenwirkens. Ein hervorstechendes Merkmal ist hierbei bei Beethoven die kulturelle Pluralität dieser Gemeinschaftlichkeit, die sich nicht nur in seinem Interesse am Ungewohnten bis Fremden äußert, sei es am Raga-Klangsystem und der lydischen Tonart; es spiegelt sich auch in seiner sonata mulaticca, bekannter unter dem Namen A-Dur-Kreutzersonate, die er im Mai 1803 im Wiener Augarten-Saal mit seinem – in der Sprache der Zeit gesagt: mulattischen Freund, dem Geiger George Bridgetower, uraufführte, dem Sohn eines ehemaligen Sklaven von Barbados und einer Polin aus Galizien, der es zum wunderkindhaften Konzertmeister im Orchester des Prinzen von Wales gebracht hatte.
    Die Integration des Fremden, Ungewohnten in den Umkreis seiner Wahrnehmungen, die sein Bild von der Welt prägten, erstreckte sich bei Beethoven auch auf den Bereich der Technik; Erfindungen faszinierten ihn. Zu ihnen gehören die Flugversuche des Schweizer Aeronauten Jakob Degen und vor allem die Experimente von Johann Nepomuk Mälzel, der mechanische Walzeninstrumente konstruierte und einen selbstfahrenden Wagen entwarf, vor allem aber das Metronom zu einem brauchbaren Hilfsmittel über die musikalischen Tempoangaben entwickelte. In diesem mechanischen Umgang mit Zeit erkannte Beethoven kompositions- und aufführungspraktische Potentiale, was dazu führte, daß er die meisten seiner Symphonien und Quartette mit Metronom-Angaben versah. Auch das war eine Ausprägung des Zeitgeistes, wobei Beethoven durchaus bereit war, technische Erfindungen als Beitrag zum „moralischen Fortschritt“ der Menschheit zu werten. Daß er in seinen Briefen sogar einen mechanischen Fahrstuhl erwog, gehört zu diesem Aspekt seines Willens zum Fortschritt. Als musikalischer Homo ludens akzeptierte er den zum Wohle der Menschheit praktisch veranlagten Homo faber durchaus als einen Bruder.
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