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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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Inhaltsverzeichnis

LI 97, Sommer 2012

Das Kalkül der Angst

Die politische Produktivität eines Gefühls - von Machiavelli bis Nietzsche

Die Zentralität von Leben und lebendigem Körper für die Politik – die Dimension der Biopolitik – wurde schon vor der deutschen Anthropologie und dem französischen Poststrukturalismus von der klassischen modernen Philosophie offen und direkt thematisiert. Die Angst macht dieses Zentrum aus, und zwar alles andere als verborgen, sie wird vielmehr produktiv gemacht und transformiert – in Ordnung, in öffentliche Gewalt, in Geschichte. Eine Analyse der modernen Philosophie unter dem Aspekt der politischen Funktion der Angst – des Angst-Habens und des Angst-Einflößens, zwei aufs engste miteinander verknüpfte Akte beziehungsweise ein und derselbe Akt – eröffnet den Weg zu einer Genealogie der Politik anhand von Begriffen und ist weit radikaler als etwa die, wenngleich erschütternde, Phänomenologie von Jean Delumeau (Pest, Belagerungen, Kometen, Geister, Sünden und Strafen) in seinem Buch La peur en Occident. Eine solche Radikalität erreicht nicht einmal Manzonis aufklärerischer Impetus in seiner Auseinandersetzung mit der Rolle der Angst in konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn er die Reihe der Ahnen von Don Rodrigo beschreibt und wie diese durch das Verbreiten von Furcht zu Macht, Ansehen und Ehre gelangt sind (in Die Verlobten) oder die Auswirkungen der von Ignoranz und angsterfülltem Wahn begleiteten Pestepidemie analysiert.
Daß sich die moderne Politik schon mit ihrem Ursprung die individuelle Angst einverleibt, um aus ihr, zusammen mit dem Zins, den mächtigsten Operator zu machen – die öffentliche Gewalt, die konzentrierte politische Macht –, schließt nicht aus, daß im modernen philosophisch-politischen Raum bei diesen Vereinnahmungen nach unterschiedlichen Strategien verfahren wird. Dabei unterscheiden sich auch die Modalitäten der Transformation der privaten Angst in öffentliche Gewalt sowie die Zwecke der für den Übergang vom Einzelnen zum Allgemeinen notwendigen Re-Kodifikationen. Insofern muß bei einer solchen Untersuchung von Fall zu Fall, von Kontext zu Kontext, erforscht werden, wer wovor und warum Angst hat und wie alle Beteiligten reagieren. Das Thema der Produktivität der Angst thematisiert dabei implizit auch die theologisch-politische Frage. Wie lang der Weg von der Angst vor den Göttern zu der vor Gott, der vor den Menschen und schließlich der vor den Gesetzen auch immer war, es ist doch derselbe Weg.

(…)


Die der Angst eigene strukturelle Produktivität kommt erst zum Ausdruck, wenn von der anthropologischen Annahme ausgegangen wird, daß die Menschen „rei“ (schlecht; Machiavelli) oder furchtsam und aggressiv (Hobbes) sind, oder wenn die sozialen Bindungen nicht mehr durch Moralität, Natürlichkeit oder eine gegebene Ordnung begründet werden. In diesem erst eigentlich modernen Horizont passiert es, daß die Angst des Einzelnen – welche in der Antike nur dann gesellschaftlich relevant war, wenn es darauf ankam, sie als Schwäche zu vermeiden und durch Vernunft und Tugend zu überwinden – ein zentrales Gefühl wird, das von der Politik als ursprünglich konstitutives Material instrumentalisiert wird. Die Angst wird zum Anfang, zum Antrieb der Politik (Hobbes) oder zu einem ihrer wesentlichen Bestandteile (Machiavelli). Anders gesagt, die Politik macht aus ihr als einem eigentlich passiven ein aktives Gefühl. Die Politik geht von der individuellen Schwäche aus und transformiert sie in eine kollektive Kraft. Die Politik nimmt bei der furchtsamen und kargen Verschlossenheit des Individuums in sich selbst und in bezug auf seinen eigenen Besitz ihren Anfang, und sie hat ihr eigentliches Ziel in der Transfiguration dieser Verschlossenheit in Macht. Zweifellos hat Angst mit Unwissenheit zu tun (das epikureische Thema durchzieht auch die Moderne), aber auch die Gewißheit der Vernunft kann sie nicht eliminieren, sondern im Gegenteil, konserviert sie. Denn durch die Vernunft wird Angst zur untertänigen Furcht vor den Gesetzen (Machiavelli) oder auf das Nutzenkalkül zwischen den Einzelnen und der Allgemeinheit gelenkt (Hobbes), oder mittels der Bestimmung der Arbeit als Negativität zur neuen sozialen Bindung gemacht (Hegel) – aber man könnte diesbezüglich auch Webers These zum Verhältnis von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus als eine Theorie der individuellen statt der öffentlichen und politischen Produktivität der Angst interpretieren, sofern für ihn letztendlich das subjektive ökonomische Handeln durch die Angst vor Schuld und Strafe motiviert ist, die vom einzelnen Subjekt verinnerlicht und diszipliniert wird. Die moderne Angst ist also eine entmoralisierte, individualisierte und säkularisierte Angst, der Scham und pietas fremd, aber der Macht inhärent.

(…)

Hobbes, der in seiner Autobiographie (Vita carmine expressa, 1679) schreibt, das einzige Gefühl seines Lebens sei die Angst gewesen, zeigt, daß sich die moderne Politik die Angst einverleibt und zum Zweck der Einheit des Staates produktiv einbringt, ohne dazu den Weg über die Tugend zu nehmen. Stattdessen wird Angst in einer vom Ursprung her horizontalen Achse angeordnet: die gegenseitige Angst der Menschen voreinander. In neuartiger Weise wird ausgehend davon eine vertikale und rationale Vermittlung der Angst errichtet. Eine Überwindung der Angst findet auch dabei nicht statt, sondern es vollzieht sich vielmehr ihre in die Form des Gesetzes umgewandelte latente Permanenz.

Während Machiavelli zur Konstruktion der öffentlichen Gewalt noch der Tugend als Verhältnis von Furcht und Ehrfurcht bedurfte, kann man bei Hobbes Angst, Macht, Gesetze und öffentliche Gewalt in eine direkte Reihe stellen. Anstelle des persönlichen Verhältnisses tritt bei Hobbes der Leviathan hervor. Wenngleich auch nach Hobbes die Gesetze zu fürchten sind, sind sie aber unpersönlich. Es gibt also im eigentlichen Sinn keine auctoritas, sondern die Gesetze entstammen einer persona ficta, dem Souverän. Der Souverän wird nicht als zu ehrende Persönlichkeit gefürchtet, sondern ist die einzige gebieterische Instanz in einem entpolitisierten künstlichen Raum.


(…)

In einer außerordentlichen Genealogie der Zivilisation der Angst – die in ihrer Einfachheit und Radikalität jenen von Rousseau und Freud gleichkommt – sieht Nietzsche die Gesellschaft aus dem Schuldgefühl entstehen beziehungsweise aus der vornehmen Furcht vor der Macht der Vorfahren. Diese Furcht vergrößert sich proportional mit dem Zuwachs an Macht und weltlichem Erfolg der Stämme, bis die Vorfahren, allzu schrecklich geworden, selbstverständlich vergöttlicht werden. Nicht die Ignoranz schafft die Götter, Objekte der Furcht, sondern direkt die Angst. Die Schuld gegenüber der Gottheit, die von den Herren auf die geknechtete Masse übertragen und von dieser potenziert wird, ist am stärksten bei den großen Eroberungen und bei den großen universalistischen und monotheistischen Religionen.

Die Moral ist ein weiteres Ergebnis der Angst: Sie ist nicht das Fundament eines Urteils, sondern das Resultat eines Gefühls, der Feigheit. Aus der religiösen Angst wird durch die Verinnerlichung von Schuld und Furcht Moral, wird so Unruhe, Beklemmung, Furcht. Nach Nietzsche machen die Angst und die Schuld den Menschen „krank“, weil sie ihn glauben machen, gegenüber Gott in Schuld zu stehen. Darin besteht also der Grund, daß jeder Schmerz gerechtfertigt wird und zugleich der Mensch alle Grenzen zu überschreiten versucht, in beständiger Unruhe, die untrennbar ist von den großen ordnenden und stabilisierenden Konstruktionen der menschlichen Zivilisation. Die Ordnung, die Rationalität, die Moral, der Staat, die Kirche und auch die Philosophie – durch diese nämlich wird die „Bestie der That“ zur „Bestialität der Idee“ gezwungen – tragen in sich die grausame Feder der Angst und der Schuld: Sie sind eine Form des Willens zur destruktiven Macht, die sich dem Leben entgegenstellt, welches alle Bejahung und Unmittelbarkeit verloren hat und nur noch Vermitteltheit kennt. Für Nietzsche muß dieser Mensch – „überwindend“ insofern verängstigt, weil er von der Furcht vor dem Glück und der Schönheit bewegt wird, vom Haß auf das unmittelbar Menschliche, das heißt das Raubtier – selbst überwunden werden. Nicht zufällig trägt das fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft den Titel „Wir Furchtlosen“ und schlägt den „Kindern der Zukunft“, den „guten Europäern“ – die fähig sind, die tausendjährige asketisch-christliche Übersetzung der Überwindung in konservierend-transzendentem Sinn in destruktivem Sinn zu überwinden – vor, mit argonautischem Mut sich dem Tauwind und Aufbrechen, den institutionellen und intellektuellen Konkretionen des Westens, den Töchtern der Angst, zu stellen und aus der „kleinen Politik“ der um Vormacht kämpfenden Nationen herauszutreten, um sich der neuen Bestimmung der „großen Gesundheit“ zu widmen.

(…)

Die Angst, die in unserer globalen Welt als unmittelbare Reaktion auf die Risiken, die dort aufkeimen, frei zirkuliert oder von Regierungen und anderen Kommunikationsagenturen bewußt in den sozialen und individuellen Körper eingeimpft und kultiviert oder, noch brutaler, von fanatischen und erbarmungslosen Mördern hervorgerufen wird, ob an das Gesetz gebunden oder nicht, konditioniert immer noch unsere Vernunft und deren moderne Subjektivität, sei es, daß diese ihre eigenen bedrohten Rechte behaupten möchte, sei es, daß sie – innerhalb oder außerhalb des Staates – einen Feind braucht, um der eigenen Furcht einen Namen geben zu können beziehungsweise ein Ventil oder einen Sündenbock für die strukturelle Gewalt der Welt zu haben. Der Diskurs der Angst, der von ängstlichen Diskursen über die Angst getragen wird, hört nicht auf, tätig und produktiv zu sein; während die Aufgabe, ihn effizient zu depotenzieren noch unerledigt geblieben ist – was bedeuten würde, das Subjekt in seiner Autonomie aufrechtzuerhalten, indem es von der Schuld befreit wird, das Individuum ohne seine Ängste zu denken, Frieden ohne Gewalt herzustellen, ein den Differenzen gegenüber vertrauliches und freundschaftliches – nicht furchtsames – Universales.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.