LI 44, Frühjahr 1999
Weine, zerstückeltes Land!
Gute Zäune für eine gute Nachbarschaft - Balkaniens Remedur?Elementardaten
Textauszug
Es war einmal ein Land, das hieß Jugoslawien. Es war ein mittelgroßes Land im Südosten Europas, und es lebten dort über 23 Millionen Menschen. Demokratisch war es nicht, aber es hatte einen guten Namen in der Welt. Sein König wurde Tito genannt. Dieses Land, vorwiegend ländlich und sozialistisch, war kein reiches Land. Aber es wurde allmählich ein bißchen wohlhabender. Die meisten seiner Kinder wuchsen in ihrem Selbstverständnis als Jugoslawen auf. Sie hatten auch andere Identitäten, und die waren stark. Die Slowenen sprachen bereits von der "engeren Heimat", wenn sie Slowenien meinten, und der "weiteren Heimat", nämlich Jugoslawien. Seine Albaner waren immer Albaner. Aber dennoch war es ein Land.
Im letzten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts ist dieses europäische Land auseinandergerissen worden. Mindestens 150.000, vielleicht sogar 250.000 Männer, Frauen und Kinder kamen dabei ums Leben. Und wie sie gestorben sind: die Augen herausgequetscht oder die Kehle mit einem rostigen Messer durchschnitten, Frauen nach Vergewaltigungen, die bewußt ihrer ethnischen Zugehörigkeit galten, Männer mit den eigenen abgeschnittenen Geschlechtsteilen im Mund. Über zwei Millionen ehemalige Jugoslawen sind von anderen ehemaligen Jugoslawen aus ihrer Heimat vertrieben worden, viele verloren alles außer dem, was sie in überstürzter Flucht mit sich tragen konnten.
In diesem ehemaligen Land ist das groteske Schauspiel eines verbrannten, geplünderten und geschundnnen Dorfes zu einem völlig normalen Anblick geworden. "Ja ja, das Übliche", sagt der Journalist und fährt weiter. Ein paar Leute sind reich geworden, vor allem Kriegsgewinnler, Gangster und Politiker ` die drei sind manchmal kaum zu unterscheiden. Alle übrigen, außer in Slowenien, sind verarmt, heruntergekommen und korrumpiert. Die Reallöhne in Serbien liegen nach Schätzungen auf dem Niveau von 1959 - allerdings nur, wenn es überhaupt Arbeit gibt. Im Kosovo ging das Töten, Sengen, Plündern und Vertreiben im Sommer 1998 weiter, während Westeuropäer nur ein paar Kilometer entfernt Urlaub machten. Es ging weiter, obwohl alle Führer des Westens wiederholt erklärt hatten, das werde man niemals wieder zulassen. Nicht nach der Erfahrung Bosniens.
Wenn man eine politische Karte Europas auf dem neuesten Stand betrachtet, könnte man zu dem Schluß kommen, das ehemalige Land bestehe jetzt aus fünf Staaten: Slowenien, Kroatien, Bosnien, Mazedonien und der Bundesrepublik Jugoslawien (unter Diplomaten als die FRY bekannt, ausgesprochen: FREI). Aber in der Realität sind es mindestens neun Teile. Bosnien ist noch immer geteilt in eine "Serbische Republik" (Republika Srpska) und eine Kroatisch-bosniakische Föderation, die ihrerseits aufgeteilt ist in kroatisch und bosniakisch (oder "muslimisch") kontrollierte Gebiete. Die FRY teilt sich in das "eigentliche Serbien", den Kosovo und die zunehmend nach Unabhängigkeit strebende Republik Montenegro. Aber selbst das "eigentliche Serbien" müßte noch einmal unterteilt werden, um die nördliche Provinz Vojvodina mit ihrer großen ungarischen Minderheit zu berücksichtigen, sowie zum Entzücken des Historikers der Diplomatie - dem noch immer teilweise muslimisch besiedelten Sandschak von Novi Pazar. Vielleicht sollte man auch in Mazedonien die albanisch besiedelten Teile vom Rest des Landes unterscheiden. Damit sind zwölf ethnisch definierte Teile im Spiel.
Nicht nur wir im Westen verhalten uns ziemlich gleichgültig. Die meisten Einwohner der meisten dieser abgesplitterten Teile selbst empfinden wachsende Indifferenz oder aktive Antipathie gegenüber den anderen. In Llubljana erzählt mir eine gebildete slowenische Frau traurig, ihre Kinder könnten die herrlichen Werke serbischer Schriftsteller nicht mehr genießen, weil sie das kyrillische Alphabet nicht mehr schreiben können. Ja, ruft sie aus, sie verstehen nicht einmal kroatisch! In Sarajevo sagt ein lokaler Veteran der Belagerung: "Wissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll, haben wir uns in diesem Sommer die Fernsehbilder aus dem Kosovo vermutlich ganz genauso angesehen wie damals die Westler die Bilder aus Sarajevo." Aber das Gefühl ist wechselseitig. In Pri*6*stina, der Hauptstadt des Kosovo, sagt mir ein führender Vertreter der hauptsächlich muslimischen Albaner: "Wir empfinden keinerlei Gemeinsamkeit mit den Muslimen in Bosnien, denn das sind Slawen." Tatsächlich haben die beiden Gruppen völlig entgegengesetzte Ziele: Bosnische "Muslime" wollen einen multiethnischen Staat am Leben halten, die albanischen "Muslime" des Kosovo wollen die ethnische Trennung.
Über diese Landschaft außergewöhnlicher ethno-linguistisch-religiös-historisch-politischer Komplexität kriechen die weißen und orangefarbenen Fahrzeuge eines internationalen Engagements, das auf eine andere, politisch-bürokratische Art ebenso kompliziert ist. SFOR, OHR, UNHCR, MSF, CARE, OSZE, USKDOM, EUKDOM, RUSKDOM: internationale Buchstabensuppe über balkanischem Gulasch. Die Amerikaner mögen hier die neuen habsburgischen Statthalter sein, aber französische Abgeordnete konkurrieren mit Briten um den Vortritt bei Hofe, während ernsthafte Skandinavier Telefonleitungen verlegen. Auf dem Flughafen Sarajevo sitze ich neben einem Mann, dessen Schulterklappe verkündet: "Isländische Polizei". Wird dieser isländische Polizist jetzt in den Kosovo geschickt, um unter den Derwischen von Orahovac den Frieden zu wahren?
Angesichts solcher Komplexität ist es kein Wunder, daß sich die Zeitungs- und Fernsehberichte weitgehend auf ein paar einfache, erprobte Geschichten konzentrieren: bang-bang-bang, verstümmelter Leichnam, alte Frau weint in schmutziges Taschentuch, zerschossene Moschee/Kirche/Stadt, US-Botschafter Richard Holbrooke trifft sich mit dem serbischen Führer Slobodan Milosevic, Nato-Bomber auf italienischem Flugplatz vor einem Nichtangriff. Gähn. In Wahrheit müßte man ein ganzes Buch schreiben, um jedem einzelnen Teil Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. An dieser Stelle werde ich mich darauf beschränken, einiges von dem zu berichten, was ich in diesem Winter in lediglich drei eng zusammenhängenden Teilen des postjugoslawischen Puzzles gesehen habe: Kosovo, Mazedonien und Belgrad. Aber dann werde ich mir ein paar allgemeinere Schlußfolgerungen erlauben und darüber nachdenken, wie die westliche Politik aussehen sollte.
Kosovo. Das frische rote Blut auf dem frischgefallenen weißen Schnee wirkt irreal, wie ein neues avantgardistisches Ausstellungsstück in der Londoner Tate Gallery. Aber es ist völlig real. Es ist das Blut zweier toter serbischer Polizisten, die in der Morgendämmerung erschossen wurden, fast mit Sicherheit von den Soldaten eines harten lokalen Befehlshabers der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK), in Verletzung des Waffenstillstands vom Oktober 1998. Das Blut liegt, symbolisch, gerade vor einer zerstörten Moschee, mitten in einem albanischen Dorf, das die serbischen Streitkräfte systematisch zerstört haben. Nun erzählen uns die Frauen aus einer der wenigen albanischen Familien, die hierzubleiben gewagt haben, wie die serbische Polizei sie nach dem Mord verprügelt hat.
Zwei Tage zuvor fuhren wir durch die Stadt Malisevo, gelegentlich auch als der gefährlichste Ort Europas bezeichnet. In diesem Sommer war es die geschäftige inoffizielle Hauptstadt des "befreiten" Kernlands von Drenica. Sie hatten sogar eigene UCK-Autonummernschilder. Jetzt ist Malisevo vollständig zerstört und verlassen, sein Einkaufszentrum nur noch Schutt und pulverisiertes Glas. Die einzigen Menschen in Sichtweite sind schwerbewaffnete serbische Polizisten hinter ihren Sandsäcken in einer provisorischen, befestigten Polizeistation. Statt Einkaufsbummlern schweifen große Hunderudel mit zehn bis zwanzig Tieren umher, vermutlich verwilderte Haushunde. Man sieht diese Hunde überall in der Provinz, und auf den Straßen liegen ihre Kadaver.
Ein Stück weiter auf der leeren Autostraße begegnen wir einem einzelnen albanischen Bauern, der gerade versucht, sein Auto flottzumachen. Als wir anhalten, um ihm zu helfen, bietet sich ein unwirkliches Bild. Ein großer, orange gestrichener gepanzerter Wagen des amerikanischen Typs, der allgemein als Humvee bekannt ist, nähert sich langsam und leise. Aber direkt hinter ihm gondelt ein langer Konvoi blau gestrichener gepanzerter Fahrzeuge voller blauuniformierter, schwerbewaffneter serbischer Polizisten. Inmitten des Konvois fahren ein paar sehr unangenehm wirkende Männer in einem ungekennzeichneten weißen Jeep. Der Bauer ist entsetzt: "Wenn die Amerikaner nicht dabei wären, würde die Polizei uns zusammenschlagen."
Später zeigt er uns seinen Hof. Hinter den hohen rauhen Mauern, mit denen die Albaner den Besitz einer Großfamilie einfrieden, finden wir zwei größere Häuser, beide gesprengt und ausgeplündert. Die Familien drängen sich in einem kleinen Kellerraum zusammen. "Wir können nicht hierher zurückkommen, solange die Serben in der Polizeistation sind", sagen sie. "Wir können nicht unter Serbien leben."
Ein Stück weiter biegen wir in die Ortschaft Dragobilje ab. Nur hundert Meter von der Straße entfernt, auf der die serbische Polizei Streife fährt, finden wir die UCK in ihrer braungrünen Tarnkleidung. Ein untersetzter, bärtiger Mann, der um die Brust einen mit Handgranaten gespickten Gurt geschlungen hat, spricht mit uns im Namen der "122. Brigade". Als wir nach seiner Identität fragen, gibt er seinen Tarnnamen an: "Journalist". Er erzählt, vor dem Krieg sei er in Pristina wirklich Journalist gewesen. Die UCK halte derzeit den Waffenstillstand ein, sagt er, aber sie seien jederzeit bereit, für ein freies Kosovo wieder zu den Waffen zu greifen. Inzwischen kommen mehrere Wagen voller Männer in UCK-Uniformen den verschlammten Hinterweg herunter und treiben die Kühe auseinander: die lokale Version eines Ho-Chi-Minh-Pfads.
Als wir aus Dragobilje herausfahren, steht am Straßenrand der gleiche orange gestrichene Humvee. Neben ihm spricht ein stämmiger amerikanischer Beobachter mit einem lokalen Führer. "Lassen Sie Ihre Uniformierten nicht von der Straße aus sehen, das würde sie [die Serben] provozieren", sagt der Amerikaner. Als der lokale Führer über die bittere Vergangenheit zu sprechen beginnt, sagt dieser stille Amerikaner: "Sie müssen nach vorn schauen, schauen Sie einfach nach vorn." Und er bietet ihnen Hilfe an, damit sie ihre Schule und ihr Krankenhaus wieder eröffnen können: "Was brauchen Sie? Plastik? Sagen Sie einfach, was Sie brauchen."
Ein anderer Tag, ein weiteres zerstörtes Dorf im Schnee, noch eine Guerilla-Bastion: Lausa für die Serben, Llaushe für die Albaner. Hier trat die UCK zum ersten Mal öffentlich auf - am 28.November 1997, als zwei uniformierte Soldaten ihre Masken abnahmen und bei der Beerdigung eines von den Serben erschossenen Schullehrers eine Befreiungsrede hielten. Jetzt betrachten zwei der Brüder Geci ihre verwüstete Heimstatt. Früher wohnten hier sieben Brüder und ihre Familien, insgesamt etwa fünfunddreißig Menschen. Die meisten leben heute als Flüchtlinge in Albanien. Die Zurückgebliebenen sind auf Hilfe angewiesen. Ihre eigene Ernte wurde verbrannt; ihr Vieh getötet oder weggetrieben. "Die UCK ist unsere Selbstverteidigung", sagen sie. "Die Soldaten kommen alle aus dieser Gegend." Könnten sie sich vorstellen, jemals wieder zusammen mit Serben im Kosovo zu leben? Nein. Die Großmutter zeigt auf einen blanken Draht, der von der Decke herabbaumelt: "Wie kann man mit Menschen zusammenleben, die Leute an Leitungsdrähten aufhängen?"
Unsere Kenntnisse von der UCK sind nach wie vor fragmentarisch, zum Teil weil diese Guerilla-Armee selbst ziemlich fragmentarisch ist. Sie hat, wie es ein westlicher Militärbeobachter höflich umschreibt, eine "eher horizontale" Befehlsstruktur. Jede Region ist anders, und die regionalen Befehlshaber treten auf wie die Häuptlinge lokaler Räuberbanden. Dennoch können wir einige wichtige Dinge über ihre Geschichte, ihre Führer und ihren Rückhalt in der Bevölkerung in Erfahrung bringen.
Zunächst einmal läßt sich ihr Aufstieg auf die Tatsache zurückführen, daß Kosovo-Albaner am Weg der Gewaltlosigkeit verzweifelten, den sie eingeschlagen hatten, nachdem die Provinz 1989 durch Milosevic ihrer Autonomie beraubt worden war und Jugoslawien in den Jahren 1990 und 1991 zu zerfallen begann. Unter ihrem offiziell gewählten "Präsidenten der Republik Kosovo", Ibrahim Rugova, organisierten sie einen außergewöhnlichen Alternativstaat, mit eigenen Steuern, Parlamentsausschüssen, privatem Gesundheitsdienst und - besonders eindrucksvoll - einem inoffiziellen Bildungssystem, von der Grundschule bis zur Universität. Zur Enttäuschung westlicher Politiker hielt Rugova unerschütterlich an seinem Ziel, der Unabhängigkeit, fest. Zu ihrer Erleichterung fühlte er sich ebenso unerschütterlich der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Wie wollte er den Kreis schließen? Durch die "Internationalisierung" des Kosovo-Problems.
Schon in den frühen Neunzigern glaubten einige, ein Wandel werde nur mit Hilfe traditionellerer Methoden zustandekommen. Viele Albaner aus dieser Region gehen nach Westeuropa, um eine Ausbildung zu erhalten und Geld nach Hause zu schicken. Das taten nun auch sie. Ramush Haradinaj, der lokale Befehlshaber, der fast mit Sicherheit für das Blut im Schnee verantwortlich ist, verschaffte sich seine militärische Ausbildung in der französischen Fremdenlegion. In Pristina erinnern sich die Menschen, daß sie zum ersten Mal 1993 von der UCK hörten. Aber damals ähnelte sie eher einer der terroristischen Splittergruppen der westeuropäischen Studentenbewegung von 1968. Einer de wichtigsten derzeitigen politischen Führer der UCK, Hasim Thaqui, Tarnname "Schlange", war ein studentischer Aktivist in Pristina, der damals nach Albanien ging, um zu studieren und im Westen Geld aufzutreiben. Aber die meisten der politischen Aktivisten aus drei Generationen des prägenden studentischen politischen Protests - 1968, 1981 und 1990-91 - befürworteten noch immer die Gewaltlosigkeit.
Was löste den Wandel aus? Die verblüffende Antwort lautet: "Dayton". Dies sagt mir der politische Vertreter der UCK, Adem Demaci, der lange Jahre in politischer Gefangenschaft verbrachte. Er datiert das eigentliche Auftreten der UCK auf den Frühling 1996, nur wenige Monate nach dem Dayton-Abkommen über Bosnien vom November 1995. Das erzählt mir auch Veton Suirroi, eine beliebte Quelle für Besucher aus dem Westen, dessen einflußreiche Tageszeitung den bewaffneten Kampf unterstützte (manche sagen auch: anfachte). Und noch einige mehr.
Sie sagen, aus Dayton hätten sie zwei Lehren gezogen. Nach über fünf Jahren des an Gandhi erinnernden Kampfes um Unabhängigkeit schlossen die Vereinigten Staaten mit Milosevic einen Handel über Bosnien ab, ohne auch nur für die Wiederherstellung der Autonomie des Kosovo zu sorgen. Lehre eins: Die Gewaltlosigkeit hatte nicht funktioniert. Außerdem machte das Dayton-Abkommen in Bosnien selbst große Zugeständnisse an die gewaltsam durchgesetzten ethnischen Realitäten. Lehre Nummer zwei: Gewalt zahlt sich aus.
In dieser Darstellung gibt es ein Element der retrospektiven Rationalisierung. Im März 1997 in Pristina sagten mir dieselben Leute etwas anderes. Aber sie enthält auch ein unbequemes Element der Wahrheit. Solange Rugova sein eigenes Volk ruhigzustellen wußte und wir das Gefühl hatten, wir hätten es vor allem mit Milosevic und Bosnien zu tun, ließen wir ihm im Kosovo freie Hand.
Der bewaffnete Aufstand wurde dann durch zwei weitere Entwicklungen gefördert: die Plünderung der Waffenarsenale während der gewalttätigen Implosion in Albanien im Frühjahr 1997, die der UCK den Zugang zu großen Mengen Kalaschnikows eröffnete, und die Brutalität der serbischen "Repressalien" gegenüber ganzen Großfamilien und Dörfern ab Februar 1998. Wie immer waren eine unterdrückerische Armee und Polizei die besten Werber für die Guerillas.
In jeder Phase griffen mehr Menschen aus dem friedlichen Widerstand zu den Waffen. Unter ihnen war der Sprecher der UCK, Jakup Krasniqi, der zuvor im Untergrund an der Pädagogischen Hochschule in Pristina studiert hatte. "Un bon étudiant", sagt sein charmanter, französisch sprechender Professor Abdyl Ramaj, während er mich in dem schäbigen Bungalow umherführt, in dem die Schule vorübergehend untergebracht ist. Am ernüchterndsten wirkt der Fall von Shaban Shala. Bis zum Frühling dieses Jahres war Shaban Shala stellvertretender Vorsitzender des Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte, einer Gruppe, die von mehreren westlichen Stiftungen unterstützt wurde. Inzwischen ist er ein Guerilla-Kommandeur in den Hügeln seiner Heimat Drenica. "Na ja, in gewisser Weise kämpft er noch immer für die Menschenrechte", sagt ein verlegenes Komiteemitglied. Na ja, in gewisser Weise.
Verallgemeinerungen sind gefährlich - aber die Menschen, die sich der UCK angeschlossen haben oder sie aktiv unterstützen, haben häufig dreierlei gemeinsam. Zunächst waren viele von ihnen politische Gefangene im ehemaligen Jugoslawien. Demaci hält den Rekord: achtundzwanzig Jahre. Shaban Shala war neun Jahre lang gefangen - das ist etwa der Durchschnitt. Zweitens kommen sie häufig aus den am schwersten betroffenen ländlichen Gegenden. Auf dem Lande herrscht noch immer eine sehr starke Loyalität gegenüber der Großfamilie und dem Clan. Und in Dörfern wie Llaushe ist die UCK heute gleichbedeutend mit der lokalen Gemeinde in Waffen. Drittens üben sie scharfe Kritik an der ihrer Ansicht nach unflexiblen, autoritären, aber zugleich schwachen Führung durch Rugova.
Dies also sind die Kämpfer für nationale Befreiung - oder auch "Terroristen", wenn man die serbischen Behörden fragt -, die die Lage hier vollständig verwandelt haben. Westliche Militärbeobachter äußern sich ziemlich verächtlich über ihre zerlumpte Armee, wie schon über die bosniakische Armee in Bosnien. Sie sagen, die UCK habe völlig verantwortungslos gehandelt, als sie in der Befreiungseuphorie des Sommers größere Orte wie Orahovac einnahm, die sie dann nicht ernsthaft verteidigen konnte. Als die Serben zurückkamen, "liefen sie einfach davon". Sie hätten wissen müssen, daß die Serben sich dann an unschuldigen Zivilisten rächen würden - zum Beispiel an der Familie, die ich besuchte. (Insgesamt wurden in diesem Kriegssommer etwa eine Viertelmillion Menschen von Haus und Hof vertrieben.)
Das ist wahr. Aber wahr ist auch, daß die Mitglieder der UCK für die meisten Kosovo-Albaner Helden sind. Ihre Unternehmungen liefern bereits Stoff für Legenden, die in die Geschichtsbücher eingehen werden - neben den zweifellos genauso mythologisierten Taten der Kacak-Rebellen gegen die Serben vor achtzig Jahren. (Auch deren Bastion war Drenica.) Gleichgültig, wie schwach die UCK militärisch sein mag, politisch hat sie an Stärke gewonnen. In einem Vergleich mit dem irischen Osteraufstand 1916, wie er einem Engländer naheliegen mag, sagt Veton Surroi: "Wir brauchen jetzt einen Michael Collins" - eine politische Sinn Féin als Partner für ihre IRA.
Mehr noch: In der Praxis hält die UCK einen großen Teil des Landes besetzt. Die Grenze verläuft etwa so: Die serbischen Kräfte patrouillieren nach wie vor in den wichtigsten Städten, auf den wichtigsten Straßen sowie an den Grenzen zu Albanien und Mazedonien; die UCK kontrolliert den größten Teil der Gebiete dazwischen. An manchen Orten sind die beiden Seiten kaum fünfzig Meter voneinander getrennt. Das ist kein Friede. Es ist eingefrorener Krieg. Eingefroren ist der Krieg durch die plötzlichen schweren Schneefälle Mitte November, obwohl es trotzdem noch zu mehreren heftigen Gefechten kam. Eingefroren ist der Krieg außerdem, wenn auch weniger wirksam, durch die Anwesenheit internationaler Beobachter.
Diplomatische Beobachter wurden hier offiziell seit Juli akzeptiert. Nachdem Richard Holbrooke am 12. Oktober mit Hilfe der Androhung von Nato-Bombenangriffen ein Abkommen mit Slobodan Milosevic getroffen hatte, gingen sie in einem weit größeren Team von 2.000 unbewaffneten verifiers auf, nunmehr unter der Oberhoheit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zur Zeit "verifizieren" sie die Einhaltung des Waffenstillstandes sowie einiger nicht besonders klarer Zusatzvereinbarungen über Zahl und Stationierung serbischer Polizei- und Armee-Einheiten. Aber dahinter steht der Gedanke, sie sollten ab Anfang 1999 die Durchsetzung eines politischen Abkommens "verifizieren".
Seit Oktober hat sich der beeindruckende US-Botschafter in Mazedonien, Christopher Hill, mittels einer anstrengenden Serie diplomatischer Reisen um dieses neue Meisterwerk des Unsinns bemüht. Das praktisch einstimmige Beharren der Kosovo-Albaner, sie wollten nicht länger "unter Serbien" leben, und nach einem Übergangszeitraum müsse es eine klare Chance zur Unabhängigkeit geben, soll darin versöhnt werden mit dem Beharren von Milosevic wie auch der meisten anderen serbischen Politiker, der Kosovo müsse bei Serbien bleiben, ohne jede Aussicht auf Unabhängigkeit. Hill hat es mit einer frustrierend zerstrittenen Ansammlung von Führern der Kosovo-Albaner zu tun, einschließlich jener, die er die "UCK-Typen" nennt. Auf der serbischen Seite steht ihm Milosevic gegenüber.
Die lokalen Kosovo-Serben fürchten, Milosevic werde sie im Stich lassen. Sie bilden eine nervöse, traurige Gruppe, die sich in schäbigen, düsteren Kneipen über ihr Bier beugt, während die Albaner einen in modische neue Cafés führen. (Das serbisch geführte Grand Hotel wird auf grandiose Weise seinem Ruf als schlechtestes Fünf-Sterne-Hotel der Welt gerecht.) Wie viele Serben gibt es noch in dieser mittelalterlichen Wiege des Serbentums? Nach der Volkszählung von 1992 waren es kaum mehr als 200.000. Seitdem haben einige aufgegeben und sind gegangen. Dafür wurden hier aber serbische Flüchtlinge aus anderen Teilen des früheren Jugoslawien angesiedelt; ihre vorfabrizierten Einzelhaussiedlungen stechen zwischen den hingelagerten albanischen Bauernhöfen mit ihren hohen Mauern hervor.
Momcilo Trajkovic, der Führer der sogenannten Serbischen Widerstandsbewegung, sagt, seit März hätten weitere 20.000 Serben die Provinz verlassen. Pathetisch spricht er nun von ihrem Wunsch nach einem "multikulturellen, multiethnischen" Kosovo. "Multikulturell, multiethnisch!" intoniert er, als käme er direkt aus Sarajevo. Was würden die lokalen Serben tun, sollte der Kosovo unabhängig werden? Manche würden kämpfen, meint er. Manche würden fliehen. Pause. "Ich glaube, die meisten würden fliehen."
Mazedonien. "Wir alle unterstützen die UCK", sagt der stämmige Student. "Alle Albaner hier gehören zur UCK". Wir sitzen im Queen's Club Café in der vorwiegend albanischen Stadt Tetovo in Westmazedonien. In der Nähe, hinter den geschlossenen Metalltüren anscheinend halbfertiger ziegelroter Privathäuser, habe ich Räume voller Studenten der inoffiziellen albanischen Universität Tetovo gesehen.
"Ja", stimmt der Professor des Studenten zu, Zamir Dika, ein magerer, leidenschaftlicher, schwarzbärtiger Mann. "Die UCK genießt hier uneingeschränkte Unterstützung. Wir sind eine Nation." Aber noch immer besteht eine letzte Chance, innerhalb des gegenwärtigen mazedonischen Staats auf friedlichem Wege gleiche Rechte für Albaner zu erreichen. Und seine Partei, die Albanische Demokratische Partei, will diese Chance als Teil der neuen mazedonischen Koalitionsregierung nutzen. Seine Partei verlangt die legale Anerkennung der Universität Tetovo, die Freilassung politischer Gefangener und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst für ethnische Albaner entsprechend ihrer Anzahl; vor allem aber sollen die Albaner in Mazedonien als drzavotvorna nacija anerkannt werden, als "staatsschaffende Nation". (Dies ist ein Begriff aus dem jugoslawischen ethnokonstitutionellen Jargon, der sich vermutlich auf Fichtes Vorstellung von einer staatsfähigen Nation zurückführen läßt.)
Später spreche ich mit seinem Parteiführer Arben Xhaferi, einem nachdenklichen, kalten, schwarzbärtigen Mann, in einem kleinen dunklen Zimmer des Hauptquartiers, das mit dem schwarzen doppelköpfigen albanischen Adler vor rotem Hintergrund geschmückt ist. Er sagt, bei seinen Versammlungen skandierten die Leute "UCK", nicht den Namen seiner Partei. Er selbst unterstützt leidenschaftlich den bewaffneten Kampf im Kosovo. Das kann nicht überraschen, da er den größten Teil seines Erwachsenenlebens als Journalist in Pristina verbrachte. (Er war ein Kollege von "Journalist".) Kosovo ist die Wiege der albanischen Nation, belehrt er mich, Schauplatz von 180 albanischen Aufständen gegen die türkische Herrschaft. Die Albaner sind ihrem Wesen nach keine friedlichen Menschen. Sie sind Krieger. Früher oder später wird der Kosovo sich sein Recht auf Selbstbestimmung verschaffen, auch wenn die Amerikaner versuchen, ihn in eine "Zwangsjacke" zu stecken. Insgesamt, informiert er mich in einer faszinierenden Abhandlung, verläuft die gesamte europäische Geschichte zur Konstitution eigener Staaten für ethnische Gruppen. Er persönlich hätte gar nichts dagegen, wenn die Serben ihre "Serbische Republik" in Bosnien annektieren würden, solange sie dafür auf den Kosovo verzichten.
Was Mazedonien angeht, nun, so akzeptiert er, was er "den internationalen Rahmen" nennt. Er weiß, daß jedes noch so leise Gerücht über eine Abspaltung des albanischen Teils von Mazedonien den Westen nervös macht: wegen der Befürchtung, die Nachbarn Bulgarien (das die mazedonische Sprache als bulgarischen Dialekt bezeichnet) und Nato-Mitglied Griechenland (das dem Staat Mazedonien verbissen seinen Namen abspricht, weil Mazedonien in Griechenland liege) könnten mit hineingezogen werden - und das hätte einen schlimmen Fall von Balkan-Domino zur Folge, wenn nicht gar einen weiteren Balkankrieg. Eine interessante Randnote liefert Bejtulla Ademi, ein lokaler Politiker der anderen albanischen Partei, der selbst - zusammen mit mehreren gegenwärtigen Führern der UCK - neun Jahre in politischer Gefangenschaft verbrachte. Es gab, sagt er, ein Koordinationsgremium albanischer politischer Parteien im früheren Jugoslawien. Nachdem sie in Gedanken erheblich radikalere Varianten durchgespielt hatten, hätten sie 1992 beschlossen, die Albaner im Kosovo sollten die Unabhängigkeit anstreben, die Albaner in Mazedonien sich in dem neuen Staat um Gleichberechtigung als "staatsschaffende Nation" bemühen, die Albaner in Montenegro und Serbien sich dagegen mit bloßen Bürgerrechten zufriedengeben. Ein Schritt nach dem anderen.
Am nächsten Tag beobachte ich Xhaferi bei einer Pressekonferenz, auf der er die neue mazedonische Regierung in der Hauptstadt Skopje vorstellt, zusammen mit dem neuen Premierminister, dem jugendlich wirkenden Ljubco Georgievski, und dem vermutlich nächsten Präsidentschaftskandidaten, einem rundlichen alten Fuchs namens Vasil Tuporkovski, der früher dem kommunistischen Politbüro Jugoslawiens angehörte. Alle drei Führer versichern mir privat, sie seien nicht auf den Druck der Vereinigten Staaten angewiesen, damit die Albaner in die neue Regierung aufgenommen würden. Alle stimmen überein, daß die mazedonischen Nationalisten von Georgievskis Partei gemäßigter und pragmatischer geworden sind.
Die mazedonische Tragödie von heute, sagt mir der künftige Premierminister Georgievski hinterher in einem Gespräch, ist nicht mehr die fremde Besatzung, ob nun durch Türken, Serben, Bulgaren oder die kommunistischen Jugoslawen. Es ist die Armut. Das Land hat eine Arbeitslosenrate von 30 Prozent. Um die Wirtschaft wiederzubeleben, bedarf es der konstruktiven Zusammenarbeit mit Griechenland und Bulgarien. Die Aufgabe, sagt Tuporkovski, laute schlicht, einen lebensfähigen Staat zu schaffen. Dazu sei die Mitarbeit der Albaner erforderlich. Und auch viel Hilfe aus dem Westen. Im letzten Jahr flossen ganze sechs Millionen Dollar an ausländischen Investitionen ins Land.
Kurzfristig sieht es für diesen zerbrechlichen neuen Staat mit seinen lediglich zwei Millionen Einwohnern einigermaßen ermutigend aus. Mazedoniens alaanische Führer wollen ihre Leute nicht in einen bewaffneten Aufstand führen. Aber langfristig? Junge Albaner in Mazedonien erzählen, sie alle seien Unterstützer der UCK. Im Gespräch mit Arben Xhaferi erinnere ich mich an Walter Scotts Aufrührer Red Gauntlet. Vielleicht werden die Albaner hier wirklich niemals zu den Waffen greifen müssen. Sie brauchen nur, was sie ohnehin haben: viele, viele Kinder. Die Albaner stellen heute mindestens ein Viertel der mazedonischen Bevölkerung. Bei der gegenwärtigen Geburtenrate werden sie etwa 2025 die Mehrheit stellen. Und bedeutet Demokratie nicht die Herrschaft der Mehrheit?
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