LI 95, Winter 2011
Musik als Schwellenkunst
Der Komponist – Mittler zwischen Himmel und Erde, Gott und MenschElementardaten
Textauszug
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Die mittelalterliche Musiktheologie griff die Vorstellungen des Pythagoras via Neuplatonismus gleichwohl begeistert auf und verband sie mit der biblischen Weisheit, daß Gott alle Dinge nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet habe. Entsprechend schlicht fiel die „kunstvolle“ Mehrstimmigkeit aus, wie sie um 800 n. Chr. von gelehrten Mönchen in französischen Klöstern ausgeheckt wurde. Die Zusammenklänge im frühen „Organum“ beschränkten sich nämlich auf Oktave, Quinte und Quarte! In der Melodielehre orientierte man sich am Hexachord, das innerhalb des Oktavraums nur sechs Töne kennt. Demgemäß war die Schichtung von drei Ganztönen, die dem Hexachord-Prinzip widerspricht, verboten: Ein solcher Tritonus (zum Beispiel das Intervall f–h) galt als widernatürlich und wurde deshalb als diabolus in musica bezeichnet. Widernatürlich erschien ein solches „Teufelsintervall“ den Pythagoras-Jüngern vor allem deshalb, weil es sich nicht aus der Obertonreihe ableiten ließ, vielmehr die Halbierung einer Oktave bedeutete; eine solche aber war naturwidrig, weil sie auf dem Frequenzverhältnis Wurzel aus zwei zu eins und damit auf einer irrationalen Zahl beruhte. Irrationale Zahlen entstehen, wenn man beispielsweise die Fläche eines Kreises mathematisch genau in die eines Quadrates umrechnen, also die sprichwörtliche „Quadratur des Kreises“ versuchen will. Das darin liegende Problem mußte ein Pythagoreer rundweg leugnen, weil es Zweifel an der Eindeutigkeit der Schöpfung und ihrer sinnvollen Zahlenordnung nähren konnte; der Meister – so berichtet die Sage – ließ seinen Schüler Hippasos einstmals ertränken, als dieser sich zu intensiv für das Thema interessierte.
Im europäischen Mittelalter ersäufte man dafür niemanden mehr – wenn auch bloß deshalb nicht, weil das Thema nicht solche Brisanz hatte wie etwa dasjenige, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne drehe. Gleichwohl dauerte es Jahrhunderte, ehe sich die komponierenden Kleriker von der Vorstellung lösten, nur ein Jünger des Pythagoras oder ein Schüler des Apoll dürfe in die heiligen Hallen der musikalischen Kunst eintreten – also einer, der alles Weltliche, Laszive, Ichbezogene hinter sich gelassen hat, und der bereit ist, die Schwelle zu einer Kunstübung zu überschreiten, der es nicht um sinnliches Wohlgefallen, sondern um die Ausführung ewiger Naturgesetze geht. In diesem Sinne verstand das Mittelalter unter ars musica nichts Dionysisch-Unreines, auch nicht die Kunstleistungen eines Komponistengenies, sondern die Fähigkeit und Bereitschaft, Gottes Schöpfungsplan auch im Reich der Töne sinnfällig zu machen. Und selbstverständlich waren den frühen Organa, von denen oben die Rede war, biblische und liturgische Texte unterlegt – geradezu als Nachhall der Auffassung Platons, daß Musik nur dort Daseinsberechtigung habe, wo sie sich mit wertvollen Inhalten verbinde.
Gemessen an dem einzigartigen Aufstieg, den die abendländische Kunstmusik im Laufe der Jahrhunderte nehmen wird, könnten diese Anfänge naiv und – im Blick auf die gleichzeitige, viel kreativere Volksmusik – schon fast borniert erscheinen. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man dasselbe Phänomen vor dem Hintergrund mittelalterlicher Mystik betrachtet. Dann wird die frühmittelalterliche Kunst der Komposition im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Schwellenkunst: Das Zusammensetzen der Töne nach den einfachen Gesetzen, welche die natürlichen Zahlen vorgeben, wird zu einem kontemplativen Akt, in dem der Musiker von sich selbst absieht, um statt dessen über die Geheimnisse der Schöpfung nicht nur zu meditieren, sondern sie zugleich nach dem Motto „Gott in allen Dingen“ mit den eigenen Sinnen in sich aufzunehmen. Und nachdem er sich von allem weltlichen Tand befreit hat, darf er mit seinen nunmehr leeren Händen die Schwelle zu jenem Raum überschreiten, in dem die Vereinigung mit dem Göttlichen stattfindet. Es ist kein empirischer, sondern ein spiritueller Raum – letztendlich das eigene Innere.
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Ausdruck und Ordnung
Der Mensch sehnt sich jedoch nicht nur nach Ordnung, sondern auch nach sinnlichem Ausdruck seiner Persönlichkeit. Deshalb waren dem Versuch, Musik als Sinnenkunst zu verteufeln und alles Dionysisch-Rauschhafte von ihr fernzuhalten, schon in der griechischen Antike enge Grenzen gesetzt. Friedrich Nietzsche hat in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik darzustellen versucht, daß sich im alten Griechenland apollinisches und dionysisches Prinzip antagonistisch gegenüberstanden, um in der attischen Tragödie versöhnt zu werden. Spätestens seit der Renaissance siegte dieser Gedanke auch über die puristischen Vorstellungen von Musik, welche die mittelalterliche Diskussion bestimmt hatte. Schon Luther preist seinen Zeitgenossen Josquin Desprez als ein kompositorisches Genie, das auch ohne Rekurs auf das Wort, allein durch sein künstlerisches Genie, das Evangelium zu predigen wisse. Und im Italien des 16. Jahrhunderts setzt sich vollends der bis dahin fast blasphemische Gedanke durch, daß der Mensch via Kunst die Schwelle zum Göttlichen betrete, ohne sich seiner selbst entäußern zu müssen, vielmehr mit seinen „Gaben“ in der Hand: Künstler sind nicht länger Interpreten göttlicher Wahrheiten, vielmehr Mittler zwischen Gott und Mensch.
Es ist kein Zufall, daß das erste herausragende Werk der Operngeschichte, Claudio Monteverdis L’Orfeo von 1607, einen Sänger in den Mittelpunkt rückt, dem es durch seine Kunst gelingt, seine verstorbene Gattin aus dem Totenreich zurückzuholen, also den Göttern zu entreißen. Zwar erreicht er dies nur für einen Augenblick; danach muß Orfeo seine Euridice wieder hergeben. Jedoch wird ihm am Ende der Handlung gestattet, gemeinsam mit seinem Vater Apollo zum Himmel aufzusteigen und dort in der Schönheit der Gestirne die Gattin wiederzuerkennen. Monteverdis favola in musica ist zum Schlüsselwerk des Epochenumbruchs geworden, weil es den hohen Stellenwert der Musik nicht aus der Sicht des spekulativen Theoretikers definiert, sondern aus der des Praktikers, der auf die Macht des Gesanges abhebt und damit auf eine Größe, die einem Pythagoreer und Neuplatoniker eher unheimlich sein müßte. Zum anderen ist mit dem Orfeo das Schicksal der künftigen Musik besiegelt: Diese wird sich weder dem apollinischen noch dem dionysischen Prinzip ausliefern, sondern den Ausgleich von numerus und affectus, von „Ordnung“ und „Ausdruck“, von „An-sich-Sein“ und „Da-Sein“, von „objektiver Struktur“ und „subjektivem Erleben“ zum Prinzip erheben.
Je mehr wir in der Musikgeschichte fortschreiten, um so weniger geht es um die Frage, was die Musik schlechthin oder ein Werk als Ganzes dazu beizutragen habe; nunmehr interessiert, wie es dem Künstler gelingt, in einem bestimmten Moment des Werkes für Schwellenerfahrungen zu sorgen, die als solche bewußt wahrgenommen werden können, weil sie sich stilistisch von ihrer Umgebung abheben und damit jenen Schock auslösen, welcher zu intensiver Schwellenerfahrung gehört.
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Horizontverschmelzung
Daß Musik im 19. Jahrhundert zu einer Schwellenkunst werden konnte, die auf einzigartige Weise zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen vermittelt, verdankt sie nicht zuletzt den kunstreligiösen Intentionen der Romantik, wie sie sich zum Beispiel in Eichendorffs Mondnacht niederschlagen. „Es war, als hätte der Himmel / Die Erde still geküßt“, beginnt die Dichtung, um mit der Strophe zu schließen: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“ "Meine Seele“ – das ist die Seele des Künstlers; und daß diese tatsächlich zwischen Himmel und Erde, zwischen Endlichem und Unendlichem vermitteln darf, ist nicht zuletzt der Vertonung Robert Schumanns zu verdanken, die gleichwohl zu erkennen gibt, daß es sich in der Tat nur um eine „Vermittlung“ handeln kann: Gesang und Begleitung enden im Trugschluß, und das bedeutet, daß die Seele auf der Schwelle ihres Zuhauses verharrt oder gar wieder umkehrt, um zu einem neuen Flug anzusetzen.