LI 69, Sommer 2005
Portugal - Die Angst zu Existieren
Elementardaten
Genre: Briefe und Kommentare, Gespräch / Interview
Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Curt Mayer-Clason
Textauszug
RODRIGUES DA SILVA: Was veranlaßt einen Philosophen, ein Buch zu schreiben mit dem Titel Portugal heute. Die Angst zu existieren?
JOSÉ GIL: Das war keine Laune. Das Denken nährt sich nicht nur vom Denken. Es besitzt affektive Wurzeln, gebietbedingte, geschichtliche, in der Gemeinschaft verwurzelte.
Das Buch beginnt mit dem Zitat eines Satzes, mit dem ein Sprecher des Radio Televisão Portugues häufig endet: „Das ist das Leben.“ Trägt das für das Fernsehen charakteristische fließende Kontinuum der Bilder, sein Mangel an Dichte und das Zapping nicht dazu bei, daß in Portugal nichts geschieht in dem Sinne, daß nichts sich umformt, weil alles sich auflöst?
Es trägt dazu bei. Für eindrücklicher halte ich aber, daß die Initiativen der Menschen keine Wirkung zeitigen. Das nenne ich eine Nichteinschreibung, eine Phasenverschiebung zwischen dem, was wir denken, dem, was wir fühlen und der eigentlichen Wirklichkeit. Natürlich besitzt das Fernsehen enorme Verantwortung, weil es den bisherigen Kommunikationsraum der Menschen ersetzt hat. Das ist in allen Ländern geschehen, aber in Portugal wog es vielleicht schwerer, weil der vom Salazarismus zerstörte öffentliche Raum nicht neu erschaffen oder gewebt wurde.
Was nennst du öffentlichen Raum?
Es ist ein Raum mit Handlungsaustausch. In ihm wirken Begegnungen, echte Verbindungen von Denken, Arbeit und so weiter in der wirklichen Zeit. Bevor dies nach dem 25. April 1974 (dem Tag der Nelkenrevolution) wieder eintreten konnte, begann die Welt der Bilder, des Fernsehens zu erscheinen. Alle Welt sah sich die Telenovela an …
Die Telenovela erscheint nicht gleich nach dem 25.April. Die erste (Gabriela) stammt von 1976. Der 25.April brachte jedoch mit sich, daß Haushalte mit Fernsehern zunahmen, da die Menschen die Geschichte aus der Nähe erleben wollten.
Damals hatte das Fernsehen eine andere Aufgabe: sichtbar zu machen. Jetzt macht es sichtbar, indem es abrückt und ein Alibi liefert für alles, was man nicht tut: die wirkliche Solidarität, das wirkliche Gefühl, die echte Mitteilung und Tätigkeit. Sitzend, passiv sehen wir zu. Und das Bild saugt uns auf. Es entsteht eine Kluft zwischen dem, was wir sehen, und dem, was vorgeht; das erzeugt eine Anästhesie. Konfrontiert mit einer Tragödie rechtfertigen wir uns, indem wir Fernsehen schauen und uns gleichzeitig von dieser Tragödie und dieser Wirklichkeit entfernen. Das Fernsehen saugt den öffentlichen Raum, der sich nach dem 25.April nicht wiederhergestellt hat, auf und besetzt ihn.
Du sprichst von einem schwarzen Salazar-Loch, das den öffentlichen Raum verschlang. Aber seltsamerweise gab es während des Salazarismus einen öffentlichen Raum des Streitgesprächs und der Kommunikation zwischen den Regimegegnern. Er funktionierte im geheimen auf den einfachen Ebenen der Mundpropaganda, des verbotenen Buchs, das man einander auslieh, des Films, den man sich ansah und gruppenweise besprach. Diese Tradition ging verloren.
Während des Salazarismus gab es zwei unwirkliche Lebensebenen. Die erste war geheim und bedeutete als solche eine Verstümmelung. Die zweite war wirklich, wurde aber imaginär erlebt, weil wir alle wild auf das waren, was wir nicht besaßen. Es gab eine Vielfalt und eine intellektuelle Gemeinschaft, ausgehend von der Gegnerschaft zum Salazarismus. Doch all das fand in der Einbildungskraft statt, weil es nicht im Augenblick zu verwirklichen war. Und in der Einbildungskraft stellte die portugiesische Intelligenzija eine in die Zukunft gerichtete Gemeinschaft her. Sie besaß Projekte. Heute besitzt sie keine! Wir alle hatten einen utopischen Traum, den wir nach dem Ende des Salazarismus für realisierbar hielten. Wir waren eine der Zukunft zugewandte Gemeinschaft. Heute gibt es keine Zukunft, und die schreckliche Gegenwart, die wir erleben, hat auch keine Vergangenheit.
Warum nicht?
Weil der 25. April mit der hagiographischen Geschichtsschreibung der Diktatur (die Könige, die Entdeckungen und so fort) Schluß machen wollte und wir von da an ohne Vergangenheit waren. Was die Zukunft als Dimension betrifft, so tritt sie nicht in unsere Gegenwart ein. Daher gibt es keine Möglichkeit einer Veränderung, daher gibt es diese Trägheitskräfte. Das Projekt ist die Zukunftsdimension einer jeden Modernität. Wir haben diese Modernität, die das ganze entwickelte Europa erlebt hat, nicht durchgemacht. Im Kern unserer Gegenwart gibt es keine von der Zukunft geschaffene Schicht. Wir sind nicht auf die Zukunft ausgerichtet. Das ist schlimm, weil es lähmt und der Gegenwart gegenüber selbstgefällig macht. Um unsere Gegenwart, die nicht allzu befriedigend ist, wertzuschätzen, müssen wir unsere Wünsche und unsere Hoffnungen beschränken. Also beschränken wir uns und bleiben winzig. Die Möglichkeit, ein anderer zu sein, Erfahrungen zu machen, zu verändern, sich ein anderes Leben zu wünschen, all das, was während der Salazarzeit ein Traum war, hat sich nicht verwirklicht. Und heute ist es verschwunden.(…)