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Inhaltsverzeichnis

LI 116, Frühjahr 2017

Die Anthropologie

 Tod und Geburt
    Die erste allen – monotheistischen oder polytheistischen, stammeseigenen oder universellen – Religionen gemeinsame Invariante ist die Tatsache, daß der Tod nirgendwo dem Leben, sondern immer der Geburt entgegengesetzt ist. Der Tod ist für alle Religionen nicht das Ende des Lebens. Der Tod trennt, was die Geburt verbunden hatte. Der Leib stirbt, doch ein Teil des menschlichen Wesens verläßt nun den Leichnam und beginnt ein anderes Leben. Was den Leib verläßt, kann etwas Einziges oder Vielfältiges sein, je nachdem, ob eine Religion die Existenz einer einzigen Seele – wie in den monotheistischen Religionen – oder mehrerer Seelen – wie im Buddhismus oder Taoismus – postuliert.
Bei den Christen setzt Gott die Seele in den Fötus ein, wenn er es will und in der Form, die er gewählt hat. Für die Chinesen besitzt das Individuum zehn Seelen, sieben schwere und drei leichte Seelen, die alle aus derselben Energie (Qi) bestehen. Beim Tod begleiten die schweren Seelen den Leib des Verstorbenen in die Erde, die leichten Seelen dringen in die Ahnentafel ein, die der Sohn des Verstorbenen trägt. Der Tod ist somit eine Trennung, weil die Geburt eine Verbindung, eine Kombination aus Körperstoffen – Blut, Fleisch, Knochen – und gewöhnlich unsichtbaren Wirklichkeiten ist, wie etwa dem Geist eines Ahnen, der sich im Leib eines männlichen (oder weiblichen) Nachkommen reinkarniert. Im Hinduismus ist jedes Individuum die Wiedergeburt eines anderen, und der Tote wird sich, außer wenn ihn seine Verdienste dem Rad der Wiedergeburten entgehen lassen, nach seinem Tod in einem Wesen reinkarnieren, von dem er im voraus nicht weiß, welche Natur und Identität es haben wird.

Todeserlebnis, Todeserwartung
    Hieraus ergibt sich das Vorhandensein einer zweiten Invariante, die allen Religionen gemeinsam ist. Nach dem Tod muß die Seele (oder der Geist) des Verstorbenen an einen Ort kommen, wo dieser sich zukünftig aufhalten und eine neue Daseinsform beginnen wird. Bei diesem Punkt zeigt sich eine Diskrepanz zwischen den Stammesreligionen auf der einen Seite und den Heilsreligionen (Judentum, Christentum, Islam) sowie den Erlösungsreligionen (Hinduismus, Buddhismus) auf der anderen Seite. In den Stammesreligionen wird der Verstorbene, selbst wenn er in seinem Leben Verbrechen begangen hat und dafür nicht bestraft wurde, nach dem Tode die gleiche Existenz wie die übrigen Toten genießen. Am Aufenthaltsort der Toten wird er Krankheit, Hunger, die Notwendigkeit zu jagen usw. nicht kennenlernen. Aber manche von ihnen, wenn ihre Angehörigen die Riten nicht richtig ausgeführt haben oder wenn sie ermordet wurden oder wenn eine Frau im Kindbett gestorben ist usw., werden zu „bösen Toten“, die bei den Lebenden spuken und immerzu versuchen, ihnen zu schaden. In diesen Stammesreligionen gibt es also nicht die Vorstellung eines Gerichtsurteils nach dem Tode, das eine Gottheit oder Gott verkündet und bei dem die Taten, die der Verstorbene in seinem Leben begangen hat, bewertet werden: Aus der aufgestellten Bilanz ergibt sich dann, ob der Tote wieder in das Rad der Wiedergeburten zurückgeschickt wird, um ein neues Leben zu beginnen (Hinduismus, Buddhismus), ob er in die Hölle gestürzt wird oder ins Paradies eingeht (Christentum, Islam).
    Man hat es also mit zwei Invarianten zu tun, die sich danach unterscheiden, ob zur Sicht des jenseitigen Lebens ein Urteilsspruch nach dem Tode, dem sich der Verstorbene oder die Verstorbene stellen muß, gehört oder nicht. Das Todeserlebnis und die Todeserwartung können nicht gleich sein, wenn der einzelne damit rechnet oder nicht, nach seinem Tode für seine Taten und sein Verhalten während des Lebens gerichtet zu werden. Die Stammesreligionen, von denen ich spreche, sind selbstverständlich die lokalen Religionen jener Stämme, die noch nicht zum Christentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus bekehrt worden sind. Daher stellt sich die Frage, wann, wo und warum die Vorstellung eines von Göttern (in Indien gilt dies für Yama, den Todesgott) oder von einem einzigen Gott verkündeten Gerichtsurteils nach dem Tode in der Menschheitsgeschichte aufgetaucht ist und bis in unsere Tage weitergegeben wurde.
    Offenbar hat sich diese Vorstellung im alten Orient, zur Zeit der Entstehung der Staaten und Reiche, herausgebildet. Denn die Entstehung der Staaten und Städte in Ägypten, Mesopotamien und China hat die Stammesstrukturen der Gesellschaften, die sie hervorbrachten, zutiefst verändert. Auf ihr Erscheinen folgten Kriege und Massaker in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Neuartige Ungleichheiten zwischen den Menschen sind hervorgetreten – und manche erschienen wie Götter, die unter den Menschen lebten und den Gang der Welt und der Gesellschaft beherrschten (das pharaonische Ägypten), während andere von sich behaupteten, sie seien von einem Gott auserwählt, so etwa dem Gott Assur, damit sie als König ihre Stadt führten (Mesopotamien): Diese Ungleichheiten waren so beträchtlich, daß die Vorstellung entstehen konnte, selbst der allergrößte König könne die Gerechtigkeit unter den Menschen nicht vollständig gewährleisten. Die Vorstellung eines Gerichtsurteils über die Lebenden nach ihrem Tode muß also wohl im vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung aufgekommen sein; sie wurde weiter ausgearbeitet und danach in den Erlösungsreligionen und den Heilsreligionen auf unterschiedliche Weise ausgeschmückt. Diese Vorstellung wäre also mit dem Erscheinen von in Kasten, Klassen oder andere hierarchische Ordnungen aufgeteilten Gesellschaften und mit der Entwicklung eines Verlangens nach Billigkeit und Gerechtigkeit eng verbunden, das sich in den weitaus weniger ungleichen Stammesgesellschaften niemals so sehr erforderlich machte.

Der unnatürliche Tod
    Beim Vergleich mehrerer Religionen, ob Stammesreligionen oder nicht, die auf sehr alten Mythen beruhen, war ein weiteres invariantes Schema vorhanden: die Vorstellung, daß der Tod für die Menschen nicht „natürlich“ sei und daß die Menschen ursprünglich zwar nicht unsterblich wie die Götter, aber auch nicht sterblich gewesen wären. Der Tod wäre infolge eines Unglücksfalls, eines Irrtums oder einer Täuschung aufgetreten (Melanesien, Amazonien) oder die Folge einer Schuld, der Übertretung eines Verbots. In der Bibel werden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, weil sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis stehlen und allwissend wie Gott werden wollten. Um sie zu bestrafen, wurden sie dazu verurteilt, zu arbeiten, damit sie überleben konnten, und unter Schmerzen zu gebären und zu sterben. Nach Ansicht der Griechen lebten die ersten menschlichen  Wesen bei den Göttern, ohne zu arbeiten, ohne zu sterben, ohne Frauen. Doch als Prometheus das Himmelsfeuer gestohlen hatte und es den Menschen gab, kettete Zeus erzürnt Prometheus an einen Felsen, wo ihm ein Adler jeden Tag die Leber zerfraß, und er bestrafte die Menschen, indem er sie nun zwang, für ihr Überleben zu arbeiten, zu sterben und zu heiraten. Zeus hatte tatsächlich Pandora erschaffen lassen, das Trugbild einer Frau nach dem Ebenbild der Göttinnen, um sie den Menschen zu geben. Aber Pandora war nicht allein gekommen. Sie brachte einen Krug mit, der den Tod, die Krankheiten und alle Übel enthielt, welche die Menschen treffen sollten. Prometheus warnte seinen Bruder Epimetheus, der sich in Pandora verliebt hatte, man dürfe diesen Krug auf keinen Fall öffnen, aber Epimetheus konnte nicht widerstehen, und seitdem ist der Tod das Los der Menschen.

Jenseitsvorstellung
    Die Analyse dieser Todes- und Jenseitsvorstellungen zeigt deutlich, daß sie kontraintuitiv und rein imaginär sind. Sie sind unanschaulich, weil niemals jemand wirklich gesehen hat, daß, wenn ein Mensch stirbt, seinem Leib eine oder mehrere Seelen entfahren. Unanschaulich sind sie auch, weil in den Jahrtausenden, in denen die ältesten Mythen der Menschheit ausgestaltet wurden, diese von Jagd, Sammeln und Fischfang lebte, und die Menschen konnten durch ihre eigene Erfahrung feststellen, daß die Tiere in ihrer Umgebung starben, ohne daß man sie tötete, und auch die Pflanzen, ohne daß man sie abschnitt. Sie sind imaginär: Wenn nämlich die Mythen erzählen, wie der Tod infolge eines Unglücksfalls oder des Bruchs eines Verbots entstand, äußern sie die Vorstellung, daß die Menschen der ursprünglichen Zeiten den Göttern nahe, also nicht sterblich waren, ohne unsterblich zu sein, daß aber dieser Zustand endgültig verloren ist, außer für die Schamanen (und Priester), die einzigen Menschen, die noch fähig sind, mit Geistern und Göttern zu kommunizieren – ohne allerdings den Pharao zu vergessen, einen unter den Menschen lebenden Gott, sowie viele andere große Männer, die einen Bruchteil unseres Planeten beherrscht haben. (…)

(Aus einem Gespräch mit Michel Lussault)

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