LI 148, Frühjahr 2025
Augenblickserfahrungen
„Verweile doch, du bist so schön“ – Von unwiederholbarer Einmaligkeit
Elementardaten
Textauszug
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Um den Augenblick zu verstehen, muß man auf Zeitreise gehen. Es gilt zu unterscheiden, ob man den Augenblick als etwas Statisches oder Übergangshaftes begreift. Goethe weist letzteres der bildenden Kunst zu, sofern in ihr das Interesse vorherrscht, einen Verlauf zu zeigen: „Wenn ein Werk der bildenden Kunst sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender Moment gewählt sein.“ Gewählt vom Künstler, versteht sich. Das etwa trifft für den literarischen Augenblickskünstler schlechthin zu, Stefan Zweig. Seine Sternstunden der Menschheit, aber auch der größte Teil seiner Erzählungen sehen im Augenblick, im Sinne Schillers, den handlungsmotivierenden Anstoß beziehungsweise laufen die Erzählungen auf den alles entscheidenden Augenblick zu. Um bei einem seiner größten Erfolgstitel zu bleiben, den später noch erweiterten Sternstunden der Menschheit von 1927: Sie bieten als „historische Miniaturen“, wie er sie nannte, das Paradoxon erzählter Zeitkondensate. Im Vorwort erläuterte Zweig sein Verfahren: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. […] Ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.“ Da scheint sie wieder auf, die astrale Überhöhung oder Ableitung des geschichtlichen Augenblicks, der als Zeitbild zur lektürefähigen Anschauung gebracht wird.
Das widerfährt der „Weltminute von Waterloo“ am 18. Juni 1815, der Begnadigung Dostojewskis vor seiner geplanten Hinrichtung am 22. Dezember 1849, von Zweig mit „Heroischer Augenblick“ überschrieben, oder der Geburt der Marseillaise am 25. April 1792. Sternstunden – sie gehören dank Zweig zu unserer gemeinsamen Sprachwährung. Wir bezeichnen Debatten- oder Redehöhepunkte im Parlament als dessen Sternstunden – denken wir an Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, als er vom 8. Mai 1945 erstmals als dem Tag der Befreiung für die Deutschen sprach, oder an die Debatte im Bundestag über die Frage, ob Bonn Hauptstadt des vereinten Deutschlands bleiben oder Berlin dieselbe werden solle. Als Schüler las ich erstmals Zweigs Sternstunden der Menschheit genau zu dem Zeitpunkt, als der Bundestag die Ostverträge der Regierung Brandt/Scheel diskutierte und wir in unserem Gymnasium im mittleren Schwarzwald nachmittags schulfrei bekamen, um diese Debatten im Fernsehen uns anzuhören. Vermutlich hat das Erlebnis keiner parlamentarischen Debatte mich politisch mehr geprägt als diese. Politische Wendepunkte verbunden mit politischen Reden – eine sehr Zweig-hafte Vorstellung. Die politische Rede als Sternstunden-Augenblick. Zweig hätte Mirabeaus Wort vom 23. Juni 1789 anführen können, mit dem er die Versammlung des Dritten Standes gegen den Auflösungsbefehl des Königs verteidigte. Doch hatte Heinrich von Kleist diese Episode eines schicksalhaften politischen Augenblicks in seiner Entstehung, zunächst eben nicht in seiner Plötzlichkeit, bereits verarbeitet; und das in seinem Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Pointe: Das Allmähliche führte dann doch zu dem, was Kleist einen rhetorischen „Donnerkeil“, einen in sich nochmals gerafften sprachlichen Augenblick, nannte. Nur die Gesamtstelle erklärt das Ungeheure dieses Vorgangs, den Kleist, der versierte Analytiker der rhetorischen Kunst, hier entwickelt:
„Mir fällt jener ‘Donnerkeil’ des Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs am 23ten Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten? ‘Ja’, antwortete Mirabeau, ‘wir haben des Königs Befehl vernommen’ – ich bin gewiß, daß er, bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen er schloß: ‘ja, mein Herr’, wiederholte er, ‘wir haben ihn vernommen’ – man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er will. ‘Doch was berechtigt Sie’ – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf – ‘uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation.’ – Das war es, was er brauchte! ‘Die Nation gibt Befehle und empfängt keine’ – um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. ‘Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre’ – und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: ‘So sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.’ – Worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte.“
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