Direkt zum Inhalt
Lettre International 146
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 145, Sommer 2024

Stock und Stiefel

Das Wandern ist des Romantikers Lust. Unterwegs zu einer Legende

(…)

Hölderlins Wanderer – ein Romantiker?

Poetisch raumgreifender nie als das Wandern in Friedrich Hölderlins Dichtungen, des Wanderers zwischen den klassischen und romantischen Welten. Zwei Elegien und eine Hymne war ihm dieses Motiv wert, unvergleichlich im Anspruch, wobei die Behauptung kritischen Überprüfungen standhalten dürfte, daß dieses Werk vom Geist unsteten Wanderns durchdrungen und dabei um nichts mehr bemüht war, diesem unablässigen Wandern einen Ruhepunkt abzugewinnen. Kein Dichter zu seiner Zeit wagt einen solchen Anfang einer Wanderer-Phantasie: „Einsam stand ich und sah in die Afrikanischen dürren / Ebnen hinaus; vom Olymp reegnete Feuer herab; / Reißendes! Milder kaum, wie damals, da das Gebirg hier / Spaltend mit Stralen der Gott Höhen und Tiefen gebaut.“ Aus der Sicht des Wanderers, der in dieser Elegie zunächst gar nicht vorkommt, ist die Welt, die er erkunden will, „entbunden“ (V. 34). Das Sich-Losreißen bestimmt die Atmosphäre dieser unabsehbaren Wanderungen, bis schließlich die Rückkehr „an den Rhein“ erfolgt, durchaus nicht reu- oder gar kleinmütig; denn in dieser Rückkehr ist die große Perspektive aufgehoben. Und in der Hymne Die Wanderung ist das „Glükseelig Suevien“ nur in Schwesternschaft mit der „Lombarda“, und mit ihr in der Entgrenzung, erfahrbar.
     Gleich zweimal nahm Hölderlin zu dieser elegischen Wandererphantasie Anlauf: Im Jahr 1797, wie es sich fügt, das Geburtsjahr Franz Schuberts, veröffentlichte Schiller in seiner Zeitschrift Die Horen die Erstfassung der Elegie Hölderlins Der Wanderer. Was aber bedeutet das, wenn ein junger Dichter dem frohsinnigen Wandern einen solchermaßen dramatisch-elegischen Ton verleiht? Erst nach eingehender Beratung mit Goethe hatte sich Schiller zum Abdruck dieser Dichtung seines ihn seinerzeit noch maßlos bewundernden Landsmannes entschlossen, freilich ohne Nennung des Verfassernamens. Will man diesen Umstand mit einiger Mühe wohlwollend interpretieren, könnte man zu dem Schluß kommen, durch diese Anonymisierung sei die in der Elegie so betonte Einsamkeit des Wanderer-Ichs noch verstärkt worden. 
      Was der siebenundzwanzigjährige Dichter, der sich zu diesem Zeitpunkt als Hauslehrer bei den Gontards in Frankfurt verdingt, an „Wandererphantasie“ hier elegisch entwirft, ist schwer an Kontrastivität zu überbieten. War das schon oder noch nicht „romantisch“? Klassisch in der Form zumindest, zerrissen dem Inhalt nach:

(…) Fernhin schlich das haagre Gebirg, wie ein wandelnd Gerippe, / Hohl und einsam und kahl blikt’ aus der Höhe sein Haupt. / Ach! nicht sprang, mit erfrischendem Grün der schattende Wald hier / In die säuselnde Luft üppig und herrlich empor, / Bäche stürzten hier nicht in melodischem Fall vom Gebirge, / Durch das blühende Thal schlingend den silbernen Strom, / Keiner Heerde vergieng am plätschernden Brunnen der Mittag, / Freundlich aus Bäumen hervor blikte kein wirthliches Dach. / Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos, / Ängstig und eilend flohn wandernde Störche vorbei.

Dieser Wanderer ist nicht nur in der Fremde angekommen, sondern auch in der Entfremdung von der Natur. Er zeigt sich entsetzt über ihren Zustand. Nichts mildert diesen Eindruck, der sich spiegelbildlich in den nördlichsten Gefilden wiederholt:

Auch den Eispol hab’ ich besucht; wie ein starrendes Chaos / Thürmte das Meer sich da schröklich zum Himmel empor. / Todt in der Hülse von Schnee schlief hier das gefesselte Leben, / Und der eiserne Schlaf harrte des Tages umsonst. / Ach! nicht schlang um die Erde den wärmenden Arm der Olymp hier, / Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang. / Hier bewegt’ er ihr nicht mit dem Sonnenblike den Busen, / Und in Reegen und Thau sprach er nicht freundlich zu ihr. / Mutter Erde! rief ich, du bist zur Witwe geworden, / Dürftig und kinderlos lebst du in langsamer Zeit. / Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender Liebe, / Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, ist der Tod. (V. 19–30)

Entfernter von romantischer Naturverklärung, von Tiecks Franz Sternbald zumal, könnte Hölderlins Wanderer nicht sein, aber doch vorzeitig angekommen in Caspar David Friedrichs von organischem Leben verwaisten Eismeer-Gemälde von 1823/24, in dem nur noch ein havariertes Segelschiff an Menschen erinnert. „Mutter Erde …, du bist zur Witwe geworden“, verwunderlich genug, daß Klimaschützer dies nicht längst auf ihre Fahnen geschrieben haben. Dieser Wanderer ist innerlich von Aporien gequält, gepeinigt sein Ich von erlebten oder imaginierten Bildern. Der eigentliche Umschlag ins geradezu Idyllische erfolgt in der Mitte der Elegie; und er ist an die Rückkehr zum Ursprung gebunden: „Aber jezt kehr’ ich zurük an den Rhein, in die glükliche Heimath, / Und es wehen, wie einst, zärtliche Lüfte mich an.“ (V. 37–38) 

(…)

Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.