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Cover Lettre International 101, Jürgen Klauke
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Inhaltsverzeichnis

LI 101, Sommer 2013

Reise nach Tschewengur

Auf den Spuren Platonows und seiner Allegorie des russischen Geistes

(…)

Kurz und gut, wir waren von Platonow magnetisiert, weshalb eine Gruppe von Freunden, welche die Idee einer „humanitären Geographie“ verband (Dmitri Samjatin, Andrei Baldin und meine Wenigkeit), 2001 eine Expedition unternahm, die auf eine radikale Lektüre des Hauptwerks von Platonow, Tschewengur, abzielte. „Tschewengur“ – das ist unter anderem ein geographisches Konzept, die Stadt der Utopie. Ziel unserer Expedition war es, Tschewengur geographisch zu verorten, es mit noch existierenden Toponymen in Verbindung zu bringen und, sofern dies gelänge, auch mit Bildkonzentraten des Romans, mit metaphorischen „Ruinen“ des Ortes; und gelänge auch dies, so galt es, Erben jenes Geistes aufzuspüren, der dieses labyrinthische Buch hervorgebracht hatte. Jede Generation interpretiert und bewertet die großen Texte der Vergangenheit zwangsläufig neu. Auch unsere „Reise zu den Ruinen von Tschewengur“ war eine eigenständige Form der Wiederlektüre von Platonows Roman: Wir wollten den Geist des Buches mit unseren Sinnesorganen erleben, wollten ihn reisend wortwörtlich „am lebendigen Leib“ erfahren. Eine Idee, die uns zweifellos Platonow selbst eingegeben hatte, nennt er seinen Roman im Untertitel doch „Wanderung mit offenem Herzen“. Wir würden uns einkleiden müssen in die von anderen Zeitschichten überdeckte Wirklichkeit des Romans mit ihren furchtlosen Hauptprotagonisten, dem Steppenengel Sascha Dwanow und dem sich ihm anschließenden „Feldbolschewiken“ Stepan Kopjonkin, jenem Ritter im Dienste Rosas (Rosa Luxemburgs), der auf dem mächtigen, wahrlich einem russischen Heldenlied entsprungenen Roß namens „Proletarische Kraft“ in die Welt zieht …

Doch ehe von der Expedition berichtet werden kann, muß noch Genaueres über Tschewengur gesagt werden. Der berühmte, 1928 abgeschlossene Text hat den Autor keineswegs berühmt gemacht, im Gegenteil: Er hat ihm, wie jedes unterdrückte Wort, bis ans Lebensende die Luft abgeschnürt. 1972 – 21 Jahre nach Platonows Tod – kam der Roman in einem Pariser Emigrantenverlag in gekürzter Fassung heraus; in Rußland erschien er schließlich 1988. Er schlug fulminant ein, wurde aber eindimensional gelesen als eine Groteske, eine Art Antiutopie, die davon handelt, wie am Ende des Bürgerkriegs in einem der abgelegenen südlichen Kreisgebiete Rußlands eine Gruppe von Revolutionären aus „Ungeduld des Lebens“ den sofortigen Kommunismus ausruft; die Folgen: Stillstand der Zeit, unüberwindbares Befremden, Leid für die Bevölkerung, die von den Wohltaten des Kommunismus keineswegs profitiert. Diesem setzt zuletzt eine aus der großen Steppe kommende wilde feindliche Reiterabteilung ein Ende.

Daß die Bedeutungstiefe des Buches unendlich viel größer ist, haben als erste jene Philosophen erkannt, die Kommentare zu dem Roman verfaßten, aus denen mit den Jahren Einzeluntersuchungen erwuchsen. Denn Tschewengur gehört – neben Bulgakows Der Meister und Margarita, Oleschas Neid und Nabokovs Einladung zur Enthauptung – zweifellos zu den wichtigsten Romanen der zwanziger und dreißiger Jahre, entstand der Text doch am Schnittpunkt einer apokalyptisch ausgerichteten Zeit und einer Reihe von räumlichen Vektoren, die nach dem Scheitern des „Petersburger Projekts“ der russischen Geschichte – dessen Schlußpunkt Revolution, Bürgerkrieg und Zusammenbruch der Weißen Garden waren – von Petersburg wegstrebten. Als Antipetersburg ist Tschewengur eine apokryphe Schrift über eine von bolschewistischer Theorie unbeleckte finstere Steppenrevolution; ein Buch über das Armenparadies, den Versuch derer, die da geistlich arm sind, in das verheißene Himmelreich zu gelangen; über die Errichtung des Paradieses in der wörtlichen Nachfolge zweier höchst paradoxer christlicher Gebote: Werdet wie die Kinder und wie die Vögel unter dem Himmel … Es ist – ganz nach Lunatscharski – der Versuch eines von der Revolution aufgepeitschten Völkchens, „auf den Ruinen der Herrscherkultur die dunkel schimmernde Idylle einer diffus erwarteten göttlichen Wahrheit zu erschaffen“. Aber im allerweitesten Sinne ist Tschewengur ein Buch voller Freiheit und Herzensstärke, eines der erschütterndsten literarischen Bilder Rußlands. Deshalb ist Tschewengur nicht einfach eine von Platonow erfundene Stadt oder ein erfundener Raum, in dem diese Stadt liegen könnte, sondern auch ein Seelenzustand oder – noch weiter gefaßt – eine Allegorie des „russischen Geistes“ im allgemeinen.

Die Minimalaufgabe unserer Expedition war, wie gesagt, ganz bescheiden, die Grenzen Tschewengurs zu umreißen, indem wir erspürten, wo die Bilder des Romans mit der Wirklichkeit ineinanderwuchsen, so daß sie kartographierbare Konzentrate bildeten. Gewiß würde sich der Raum auf die eine oder andere Weise in unsere aufgeklärte Wünschelrutensuche einmischen; genau da, wo die Rute ausschlüge, würde etwas hervorblitzen, wovon wir in Moskau weder etwas wissen noch ahnen konnten. Wir brachen auf voller Hoffnung, die Vergangenheit der Platonowschen Texte als Gegenwart zu erleben und einzutauchen in den Raum/Text seines Paradieses und seiner Apokalypse, die untrennbar miteinander verbunden sind, in einen Landstrich, wo die Zeit stehengeblieben und der Himmel so nah war, daß tagsüber eine angenehm warme Sonne direkt über dem Kopf des Wanderers ihre Bahn zog und nachts Sternenkühle ihn umwehte …

(…)

Morgens erschoß mich ein Knirps mit einem Spielzeugstutzen. Ich hatte Proletarische Kraft zum Straßenhydranten gelenkt, wo ich sie wusch; er näherte sich von hinten, schaute und schoß. Ich hatte noch den abgesägten Lauf sehen können, als er herankam. Folglich waren wir an Ort und Ziel. Bei Platonow heißt es: „Am Abend wollten Dwanow und Kopjonkin weiterreiten – ins Tal des Flusses Tschornaja Kalitwa, wo in zwei Dörfern unverhohlen Banditen lebten, die planmäßig Mitglieder der Sowjetmacht im gesamten Kreis töteten.“ Das stimmt bis ins Detail. Der Bauernaufstand, den Ataman Kolesnikow 1920 anzettelte, begann in der Vorstadt Staraja Kalitwa, griff sofort auf Nowaja Kalitwa über und steckte alle umliegenden Kreise in Brand. Als roter Kommandeur wußte Kolesnikow, daß er sich mit der Erhebung selber zum Tode verurteilte. Diese Todesoption hatte mich schon bei Machno frappiert. Aber erst in Tschewengur, in den an die Ukraine grenzenden Gebieten, wo sich aus den Köpfen der Bauern die Erinnerung an ein „vorstädtisches“ (also freies) Leben noch nicht verflüchtigt hatte, das zurückreicht bis auf jene Saporoger Kosaken, denen Zar Alexei Michailowitsch erlaubt hatte, sich hier anzusiedeln – erst hier begriff ich, warum die Steppenkämpfer genau wie die Machno-Anhänger unversöhnliche Feinde der Bolschewiki waren. Die Steppe, dieses Antipetersburg, erhebt sich politisch zunächst gegen Petersburg, dann aber auch – in Gestalt des Banditentums – gegen das rote Moskau. Das Banditentum stellt sich der verstandesbetonten Mechanik und der staatlichen Geometrie der Städte entgegen. Fanatisch zerreißt es die Ketten jeglicher Macht. Nicht zufällig wurde am Ende der zwanziger Jahre, unmittelbar vor der Kollektivierung, das bis dahin aus zwölf Kreisen bestehende Gouvernement Woronesch in hundert neue Kreise, die jetzt Rajons hießen, aufgeteilt. Sprich: Es wurde im wahrsten Sinne des Wortes mit einem administrativen Netz überzogen, denn ein Rajon, das bedeutet: ein Exekutivkomitee, ein Bevollmächtigter, eine Garnison usw. In Rossosch standen 1928 vier Kompanien Soldaten und zwei Geschütze – offensichtlich eine Reaktion auf den Kolesnikow-Aufstand. Und kann es Zufall sein, wenn heute auf der Ehrentafel von Rossosch zwei Aufständler und Räuber, Rasin und Pugatschow, als „Ehrenbürger“ geführt werden? Das besagt doch etwas?!

Nämlich dies: Auf der einen Seite gibt es sozusagen die Zivilisation, das Rajonzentrum Rossosch, mit Eisenbahn- und Busbahnhof, mit einer der größten agrochemischen Fabriken im Süden Rußlands, einem Fleisch- und einem Milchkombinat, zwei Märkten, einem beachtlichen Transit von Waren und folglich einer erklecklichen Menge Geld, welches nunmehr Administration und örtliche „Opposition“ untereinander aufteilen; zudem für jeden einzelnen Bürger drängende Alltagssorgen: der Gemüsegarten, die „Kaufe“- und „Verkaufe“-Angebote und die Stellenausschreibungen des örtlichen Arbeitsamts. Und auf der anderen Seite lebt, hinter einer Scheidewand, so dünn wie eine Nervenzellmembran, ein quälender, unbezähmbarer Drang des menschlichen Geistes hinaus: hinaus in den weiten Raum, unter die Sonne, zu Freiheit, Aufstand, Räuberei oder nach Tschewengur.

Psychologisch ist Tschewengur nomadische Unbegrenztheit, freie räumliche Weite, unvollkommene – noch nicht verläßlich im genetischen Gedächtnis eingeschriebene – Seßhaftigkeit. In Europa, wo die historische Zeit ein stetiger Fluß ist, wo, eine um die andere, die Kulturschichten allmählich anwuchsen, konnten selbst die entsetzlichsten Erschütterungen die Kulturschale nicht bis auf den Grund, den Lehm (ein zentrales Bild bei Platonow) herunterreißen. Die Schutzschichten der verschiedenen Niveaus in Europa sind zahlreich: Es ist ein mehrdimensionales Lebensmilieu, das infolge jahrhundertelang investierter Arbeit seine eigene Energetik besitzt, die zu erschöpfen nicht einmal der greisen Historie gelingt, dieser Liebhaberin von Pyrotechnik, öffentlichen Hinrichtungen, Kriegen und anderen Äußerungen kollektiver Brutalität. Bei uns dagegen verläuft die historische Zeit katastrophisch; sie spült wortwörtlich alle Geschichtsprojekte vom Antlitz der Erde, gibt sie der Zeit (und dem Lehm) zurück. Wo ist das Itil der Chasaren, wo das Bolgar der Wolgabulgaren? Oder wo das Sarai der Goldenen Horde? Wo Kitesch? Die geschichtliche Katastrophe, das ist Explosion, „Aufruhr, sinn- und erbarmungslos“, Sturz in die Ewigkeit, Rückkehr ins Nichts, nach Tschewengur. Das besondere an der russischen Weltkonstruktion wie der russischen Denkkonstruktion nach der Revolution ist das „Alles oder nichts“. Alles läßt sich nicht gleich erreichen, bleibt also das Nichts – daher Tschewengur, die Anarchie. Wir fühlen uns prächtig mit unserem Nichts.

Uns verlockt das Spiegellabyrinth der europäischen Kultur; zwischen unseren Silikatziegeln ist uns langweilig. So langweilig! Deshalb sind wir zur Sprengung bereit; wir provozieren Katastrophen und Unglücke, Explosionen der historischen Zeit. Wir verlangen nach einem Leben auf der Grenze der Zeiten, auf der Grenze zwischen Sein und Nichtsein. Daher die apokalyptischen Sekten, die Revolutionen, Rasin und Pugatschow unter den Ehrenbürgern, das alltägliche Abenteurertum und die Trunksucht – als radikale existentielle Wahl …

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.