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Inhaltsverzeichnis

LI 139, Winter 2022

Wanderer sein ...

Leo Tolstoi und die Erfahrung der Gewalt in der russischen Geschichte

(…)

Kehren wir nun auf Alexijewitschs Zeugnis zurück. Das Zeugnis einer mit Hilfe von Gewalt geschaffenen Gesellschaft.
     Das deutlichste Beispiel für diese Wahrheit in Alexijewitschs Arbeit ist die im nahen Umfeld herrschende Gewalt, die Gewalt, die den „neuen“ Menschen umgibt. Zum Beispiel erzählt sie die Geschichte einer Frau, die vom NKWD festgenommen wurde, nachdem sie denunziert worden war, und ihre Nachbarin Olga bittet, ihr Kind zu adoptieren. Olga nimmt das Mädchen an, und dann beziehen sie einen schönen Raum für zwei Personen in einer Kommunalka-Wohnung. Sie zieht das Mädchen auf, und als die Mutter zurückkehrt, küßt sie ihrer Wohltäterin, die ihr Kind gerettet hat, schier die Hände, bis sie erfährt, daß es ausgerechnet Olga war, die sie in Wirklichkeit denunzierte. Daraufhin erhängt sich die Mutter: Das Opfer wird sich selbst zum Henker. Den Gulag überlebt, nach Haus zurückgekehrt zu einem „Happy End“ nach all den Torturen, die sie erduldet hat – statt dessen findet sie sich im letzten Akt eines Dramas wieder, in welchem ihr die Gewalt den vorletzten Schlag versetzt: Die Retterin und die Verräterin entpuppen sich als ein und dieselbe Person; die Wahrheit kehrt sich um, und alles erweist sich als unwahr. Es gibt viele solcher Strukturen einer vorläufigen Wahrheit, einer Wahrheit, die sich in ihr Gegenteil verkehrt, die implodiert; sie liegen jedem persönlichen Narrativ und der menschlichen Erfahrung zugrunde, die Alexijewitsch entdeckt. Sie zeigt uns, das ist es, was Gewalt ist: eine Art Spirale, in dem jemandes Erzählung sich in zwei Richtungen dreht. Die Autorin scheint in jedem der von ihr präsentierten Fälle immer dieses doppelte Signal zu erfassen. Die Weigerung der „Verräter“, sich in diesen Fällen zu erklären, suggeriert, daß ihr Wort und ihr Recht auf Verrat als historische Kraft fortbestehen und fortbestehen werden gegenüber den Forderungen der Opfer. Wenn die Verräter sich schließlich aussprechen werden, ist im Grunde alles, was sie vorbringen können, daß sie ihrerseits jeden Moment hätten Opfer werden können. In Alexijewitschs stärkster Erzählung trifft das Enkelkind eines Opfers der Repressionen zufällig auf den Henker seines Großvaters – sie sitzen buchstäblich am selben Tisch. Im Gespräch mit diesem Mann findet es heraus, daß die Männer von den Erschießungskommandos ebensolche „Notfallkoffer“ unter ihrem Bett hatten (für den Fall, daß man sie plötzlich in den Gulag geschickt hätte), genau wie die Menschen, die sie erschossen. „Jeder lebte damit“, sagte er, „vom Soldaten bis zum General.“
     Und warum? Die Denunzianten, die Henker, hatten darauf nur eine Antwort: Das war es, was die Zeit verlangte. Auch sie fühlten sich in Wahrheit wie ebenjene Opfer, wie diejenigen, die sie denunzierten, verurteilten und an denen sie das Urteil vollstreckten. Sie sahen sich derselben Gewalt ausgesetzt, die sie so handeln hieß, wie sie es taten, wobei sie das, was die Zeit verlangte, ausgerechnet als „Forderung“ und „Befehl“ empfanden. So wie in der Armee, einer staatlichen Institution oder innerhalb der kirchlichen Hierarchie, das heißt in jeder beliebigen der mächtigen Institutionen, die Tolstoi seinerzeit anprangerte – nur hängt der Befehl während der Zeit des Terrors in der Luft und diktiert ihre Gesetze, ohne direkt einzugreifen. Es ist eine „unsichtbare Kirche der Gewalt“, deren Befehle von den empfänglicheren Ohren gehört werden. Und es herrscht eine Überlegenheit und ein Primat von Gewalt, und deshalb sind diejenigen, die zur Gewalt fähig sind, immer im Recht, als ob dies Recht dem Individuum einen sakralen, autoritären Status verleihen würde. Die Henker beginnen nur in einem Fall zu sprechen, wenn die Geschichte die Waagschalen vertauscht und sie sich plötzlich letztlich als „Opfer“ fühlen.

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Der Punkt ist, daß Tolstoi (und Ludwig Wittgenstein stimmte darin mit ihm überein) nicht dachte, daß das Leben irgendwie „beängstigend“ ist. Wenn man vom Staat und allem übrigen abstrahiert, was bleibt dann übrig? Übrig bleiben die Menschen zwischen Himmel und Erde. Diese sind die zwei Bedingungen, die unumgänglich sind – Erde und Himmel. Die Menschen vermehren sich, verrichten sinnvolle Arbeit, leben und sterben. Und all ihre „Gesetze“ sind ungeschrieben – sie sind qua Geburt gegeben, vom Körper vorgegeben, von seinen Grenzen und Bedürfnissen, von der Familie, der Erziehung (der Tolstoi viel Aufmerksamkeit widmet, da er gegen das bestehende Schulsystem war). Und das sind die „Tatsachen des Lebens“ – eines Lebens, das mit einer spirituellen Vorbestimmung des Menschen in Einklang steht, seinen grundlegenden Bewegungen, seinem Verständnis von Gut und Böse, das ihm bereits eingeschrieben ist, weil dies das Gesetz des Lebens selbst auf Erden ist. Die Erde folgt, wenn man so möchte, ohne jede Schriftlichkeit einer Grammatik, sie lehrt uns leben und schult uns, wie man auf ihr lebt. Wenn wir unbedingt ein Buch brauchen, das uns anleitet, dann soll es das heilige Buch der Nomaden, Wanderer und Hirten sein, genannt die Bibel, worin zu lesen ist: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“  Das bedeutet: Behandle andere so, wie du behandelt werden willst – so einfach ist das.

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Felix Dserschinski, Leiter der Außerordentlichen Kommission,7 die den Roten Terror leitete, bezeichnete das Projekt, eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen, als das „Zeitalter der Barmherzigkeit“ – eine Ära von gleich starken Menschen auf der Oberfläche des Planeten Erde; seine Rolle verglich Dserschinski mit der, die Robespierre während der Französischen Revolution spielte. Genau wie die französischen Revolutionäre glaubten die russischen Marxisten, sie würden durch die Abschaffung sozialer Schichten und Hierarchien allgemein den Boden für Gerechtigkeit und eine Weltgemeinschaft aller Menschen ebnen. Um diese Weltgemeinschaft zu schaffen, mußten sie den Monarchen töten und die Menschen, die früher ihrem König untertan waren, in Bürger eines einzigen Mutterlandes transformieren und ein abstraktes „Patria“ an jene Stelle setzen, die zuvor das historisch konkretere Königreich Frankreich eingenommen hatte. Es waren diese französischen Revolutionäre, die als erste eine Maschine der Egalisierung schufen, welche wie die Maschinen des Schmerzes und der Lust, die Marquis de Sade beschrieb, aus einer extrem intimen Interaktion zwischen Henkern und Opfern bestand, jede Person spielte beide Rollen zugleich (wie de Sade auch in seinen Notizbuchaufzeichnungen zeigt). Diese Maschine der reinen Kontrolle, des Schmerzes und der Lust erhält einen anderen, äußerst abstrakten Namen: Staat. Staat und Terror sind intim verbunden, sie beide brauchen eine flache soziale Oberfläche, die sie Volk nennen – das Volk ist scheinbar gleich vor der Herrschaft des Gesetzes oder des Terrors, in dessen Namen die Staaten agieren und in der Tat ihr Recht auf Gewalt offen ausüben – nun ungehindert durch gesellschaftlichen Status oder Konventionen. In dieser Hinsicht war die Französische Revolution der erste protomodernistische Versuch, in die neue Welt einzutreten, welche im 20. Jahrhundert zu voller Blüte gelangte.
     Nur Tolstoi wollte die Revolution rückgängig machen, die Menschen sollten ohne Staat, ohne nationale Identitäten und Heimatländer sich überlassen sein. Er wollte mit der Herrschaft des Volkes in das moderne Zeitalter einziehen, die Mechanismen der Gewalt ersetzen, die diesem Prozeß implizit waren, durch neue Praktiken der Gewaltfreiheit, die speziell für diesen Zweck zu erschaffen waren. Und er hoffte, daß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu spät dafür war. Offenbar hat er sich geirrt. Die russische Revolution trat in die Fußstapfen der französischen und stieß die Gesellschaft in eine neue Moderne, in welche die europäischen Staaten bereits Einzug gehalten hatten. Die Revolution von 1917 erbte die Grundzüge der Französischen Revolution. Wie immer stand am Anfang das Anprangern der Heuchelei und der verdeckten Gewalt des bestehenden Systems und am Ende die Einführung offener Gewalt als Kontrollmechanismus, der eine ganze Gesellschaft mit einer noch nie dagewesenen Säuberungsaktion auf Linie brachte. Und wieder ist es die Gewalt, die wir genauer betrachten müssen – die Gewalt als causa sui. Aber wie gelingt uns das?

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Einer der besten postsowjetischen Philosophen, Merab Mamardaschwili, pflegte zu sagen, daß die sowjetische Erfahrung nicht ungeschehen zu machen ist, weil etwas, das keinen „Anfang“ hatte, nicht enden kann. Denselben Gedanken brachte auf seine Weise sein Schüler Walerij Podoroga zum Ausdruck, der sagte, im Gegensatz zu Europa, das imstande gewesen sei, in eine Zeit nach Auschwitz einzutreten und die Gewalt als seine eigene Schuld anzuerkennen und als kollektive Schuld zu akzeptieren, sei Rußland nie in eine Zeit nach dem Gulag10 eingetreten. Diese Zeit kam nicht. Sie wurde einfach „abgeschafft“, was aber nur bedeutet, daß sie derselben Gewalt unterworfen war, welche sie selbst gegen ihre Opfer ausgeübt hat. Diese sind wieder einmal zum Schweigen verdammt, zu einer Halbexistenz, als ob es wieder zum Vorteil des Staates wäre, daß sie das Schweigen über die Vergangenheit aufrechterhalten, um diesen nicht zu „beschämen“; was nur eines bedeutet: Die Natur dieser Obrigkeit hat sich nicht geändert. Es ist wieder die Gewalt. Und in der Tat wird diese nicht zurückkehren, weil sie niemals irgendwo anders war.
     Nach dem Zerfall der UdSSR blieben nur die „sowjetischen“ Menschen übrig. Also etwas anderes als bloß „Menschen auf der Erdoberfläche“. Für diese Menschen ist die Gewalt ein nicht wahrnehmbares Trauma der Existenz, wie für die Häftlinge, die aus den Lagern herauskamen, für die Soldaten, die aus dem Krieg nach Hause zurückkehrten. Die Menschen sind kein „Volk“, sondern eine eingefrorene Form des Krieges, die der Staat nicht länger konsolidiert. Auch das entspricht wieder nicht so ganz dem klassischen Schema Girards. Weil die Krise des Opferkultes im postsowjetischen Raum jetzt nicht den Charakter einer schweren Erstarrung hat, einer Unbeweglichkeit, im Inneren zurückgehalten und nach außen einem raschen Wandel unterzogen. Da gibt es Schießereien, Mafia, Banditen, Korruption. Die Pest des Wandels überzieht die Oberfläche, das festgesetzte Trauma das Innere. Es ist, als ob alle in etwas feststeckten, unfähig sich zu rühren und doch angetan mit theatralen, neuen Kostümen. Mit anderen Worten, die „Form Tragödie“ bleibt, nur ist es jetzt eine postmoderne. Das ist genau, was sie ist: eine Fortsetzung des Alptraums, der nie enden wird oder, präzisier ausgedrückt, der erst mit einem neuen Umbruch enden wird, wenn außen und innen erneut die Plätze tauschen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß nach den 1990ern, nach dem Trauma der 1990er, dem Trauma des „Verlusts des Sowjetischen“, und seit dem Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs wieder ein „starker Staat“ im Begriff war zu entstehen. Ein Staat, der seine Schuld nicht anerkennt und seine Ursprünge wieder vergessen will, der in seiner Schlaflosigkeit jedoch wieder Gewalt anwenden wird.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.