LI 72, Frühjahr 2006
Zukunftskino
Elementardaten
Genre: Essay, Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Englischen von Jean Paul Ziller
Textauszug
Das Kino starb am 31. September 1983, als auf der ganzen Welt die Fernbedienung Einzug in die Wohnzimmer hielt.
Das Kino ist ein passives Medium. Möglich, daß es viele Erwartungen eines Publikums erfüllt hat, das aus unseren Vätern und Großvätern bestand. Sie waren bereit, sich zurückzulehnen, Illusionen zu betrachten und ihre Skepsis zu unterdrücken – heute reicht das nicht mehr aus. Neue Technologien haben die menschliche Phantasie in neue Richtungen katapultiert. Es gibt eine völlig neue Zuschauerschaft, die nicht nur eine Fernseh-, sondern auch eine Post-Fernseh-Generation ist; Zuschauer, für die die Eigenschaften des Laptops bedeutsam sind und neue Bedürfnisse wecken, neue Maßstäbe setzen. Die Ideen einer unbegrenzten Auswahl, persönlicher Recherche, privater Kommunikation und enormer Interaktivität sind seit dem September 1983 ein gutes Stück vorangekommen. Das Kino mußte damit Schritt halten und Partner in einer neuen Welt von Multimedia-Aktivitäten werden, die den Film an sich radikal umgestaltet haben. Interaktivität und Multimedia sind mittlerweile dermaßen alltägliche Begriffe, daß man ihnen kaum noch Aufmerksamkeit schenkt, aber sie sind die entscheidenden kulturellen Anreize unserer Zeit. Wie soll es das Kino – und es wird nicht darum herumkommen – damit aufnehmen? Wenn es überleben will, muß es eine Beziehung zu den Konzepten der Interaktivität finden oder einen Pakt mit ihnen schließen und sich selbst nur als Teil eines kulturellen Multimedia-Abenteuers sehen.
Es war einmal eine Zeit, da stellte sich das Kino der neuen Technologie des Tonfilms, setzte sich mit ihm auseinander und paßte sich ihm an – nachdem es dieser Frage lange ausgewichen war und sich einredete, daß der Patient nicht krank, das Ding nicht kaputt war. Warum sollte man versuchen, den einen zu heilen und das andere zu reparieren? Die traditionelle, weltbeherrschende Unterhaltungstechnologie des Stummfilmkinos veränderte sich beinahe über Nacht, und damit war sie so gut wie tot. Heute ist sie begraben. Wer schaut sich in unserer Zeit noch Stummfilme an? Buster Keaton und Charlie Chaplin im Fernsehen: eine kleine Minderheit von Filmliebhabern.
Dasselbe Schicksal könnte schon bald dem sogenannten Tonfilm bevorstehen. Wir müssen das Kino neu erfinden.
Jedes Medium muß sich immer wieder erneuern. Wir müssen heute nicht neuen Wein in alte Schläuche füllen und erst recht nicht alten Wein in neue Schläuche, aber neuen Wein in neue Schläuche. Man darf den Wein anerkennen, also den Einfallsreichtum und die Phantasie des Menschen, ebenso wie die Schläuche, nämlich das Kino, doch den Namen werden wir verändern müssen.
Der Kinofilm ist zweifelsohne nicht mehr die populäre Kunstform, die er früher einmal war. In den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts sahen europäische Familien im Schnitt zwei Filme pro Woche im Kino. Heute würde es – darin sind wir uns sicher einig –
schwerfallen, eine europäische Familie zu finden, die zweimal pro Jahr ins Kino geht.
Statistiken aus Hollywood, dem größten filmproduzierenden Zentrum des Westens, besagen, daß 75 Prozent der Leute ihre Filme im Fernsehen sehen, zwanzig Prozent kaufen ihre Filme als Video oder DVD, und nur fünf Prozent sehen ihre Filme an Orten, die man Kinos nennt.
In Holland, so habe ich gehört, liegt die Durchschnittsrate bei zwei Kinofilmen pro Kopf in drei Jahren. Und der Chef von Kodak hat erklärt, daß seine Firma in zehn Jahren kein Zelluloid mehr herstellen wird.
Das Elend der Filmverleihbranche führt dazu, daß Sie oder ich nicht jeden Film unserer Wahl in jedem beliebigen Kino sehen können: weder heute nachmittag noch nächste Woche oder nächsten Monat und wahrscheinlich niemals. Für mich ist es einfacher, ein unbedeutendes Gemälde von Caravaggio in einer kleinen umbrischen Stadt zu sehen als Kubricks 2001 in einem Kino, das diesen Film so zeigen würde, wie er konzipiert wurde.
(...)
4 000 potentielle Spielfilme pro Jahr sind in den letzten vier Jahren in den Vereinigten Staaten gedreht worden: 350 davon finden einen Verleih, fünfzig erreichen größere Aufführungszahlen in achtzig Städten der USA und laufen durchschnittlich zehn Tage pro Kino. Das bedeutet einen gut vertriebenen Film für jede Woche des Jahres. Zwanzig Spielfilme pro Jahr schaffen den Durchbruch, zehn werden zu Kassenschlagern und vier zu ganz großen Erfolgen. Vier von 4 000. Wo landen die Filme ohne Verleih? Das übliche Verfahren heißt „Videovermarktung“ oder Fernsehen, und ein Drittel verschwindet ganz von der Bildfläche, auch wenn die meisten Filmemacher das nicht zugeben würden.
Lautstark ließen sich europäische Zeitungen darüber aus, daß das Filmfestival von Cannes auch 2005 von bescheidener Qualität gewesen sei und das von Venedig sei nicht viel besser. Diese beiden Festivals gelten traditionell als eine Art Lackmustest für den Zustand einer kultivierten Kinowelt. Die Reaktion der Medien ist kein Wunder. Es gibt so gut wie keine Neuerungen in der Kinowelt, weil die traditionelle Montagetechnik, das narrative, illusionistische Kino, seine besten Zeiten hinter sich hat. Wir müssen weiter gehen.Wir müssen das Kino neu erfinden.
Tatsache ist, daß jedes Jahr mehr Filmfestivals ins Leben gerufen werden und eine immer größere Zahl von Festivalfilmen in ihr Programm aufnehmen, die anschließend in der Versenkung verschwinden und sich keine Hoffnung auf einen Verleih machen dürfen. Es gibt immer weniger fundierte Filmkritiken in unseren Zeitungen, immer weniger seriöse Kinoberichterstattung im Fernsehen, sinkende Auflagenzahlen von Filmzeitschriften, und größer und größer wird die Zahl neu geschaffener Medienlehrgänge an den Universitäten der westlichen Welt. Verwirrende, scheinbar widersprüchliche Statistiken? Nicht unbedingt. Eine sehr ähnliche Entwicklung hat es wohl beim Niedergang der Oper und des klassischen Tanzes als hauptsächlichen kulturellen Kräften gegeben – über einen längeren Zeitraum hinweg. Man beobachtete ein Übermaß an Interesse, während Qualität und Popularität zurückgingen; sah die Institutionen durch diejenigen gestützt, die betroffen darüber waren, daß die Energie verpuffte, und mußte ein Nachlassen an Qualität und Einsicht konstatieren zu einem Zeitpunkt, da die Produktionsmittel leichter zugänglich schienen.
Mallarmé hat gesagt, die Welt sei erschaffen worden, um daraus ein Buch zu machen. Heute könnte man sagen, daß die Welt dazu erschaffen ist, um daraus einen Film zu machen. Jeder möchte Filme drehen. Es ist ein Zeichen von Overkill und ein Zustand der Erschöpfung, die sich in Banalität und Wiederholung äußern. Zudem sind wir mittlerweile bei einem einzigen, monokulturellen Modell des Kinos angekommen, das auf der ganzen Welt verbreitet ist. Hollywoodprodukte entstehen in Sydney, Tokio, Schanghai, Rotterdam und London – vor allem in London.
(…)
In Verbindung mit den Feiern zum hundertjährigen Bestehen des Kinos führte ich 1995 eine Untersuchung der Filmsprache durch, um herauszufinden, was daran investigativ, nützlich, autonom, erhaltenswert und vor allem einzigartig ist. Was machte das Kino nach einem Jahrhundert allen anderen Medien überlegen?
Immer wieder stellte ich fest, daß sich der Film problemlos zerlegen ließ, zurück in andere Medienformen, in denen sich das, was er zu sagen hatte, auf andere Art einfacher und vermutlich kraftvoller und effizienter ausdrücken ließ.
Wir konzentrierten uns auf zehn Charakteristiken, die dem Film eigentümlich zu sein schienen – Beleuchtung, Text, Einstellung, Projektion, Requisiten, Musik, Umfang, Zeit, Schauspieler und Kamera –, und organisierten eine Reihe von Ausstellungen unter dem Oberbegriff The Stairs. Wir installierten eine große Ausstellung in den Straßen und auf den Plätzen, in den Parks und Gebäuden von Genf, die auf das Thema Einstellung fokussiert war. Wir bauten in der Stadt verteilt hundert Holztreppen auf und ermunterten die Zuschauer, ein paar Stufen zu einem Okular hinaufzusteigen, um einen bestimmten Ausschnitt der Umgebung zu betrachten – als Totale, Halbtotale oder Großaufnahme. Die Holztreppen verblieben hundert Tage in Genf, und die Einstellungen waren rund um die Uhr für alle Besucher zugänglich, bei Sonne und Regen, Mondschein und Nebel.
Die jeweiligen Szenarien dieses lebendigen Kinofilms von hundert Aussichtspunkten an hundert Tagen waren das, was geschah. Man konnte sehen, wie ein Mann mit seinem Hund spazierenging. Wenn man Glück hatte, konnte man sehen, wie ein Hund einen Mann biß. Und wenn man ein echter Glückspilz war, konnte man sehen, wie ein Mann einen Hund biß – das Normale, das Ungewöhnliche und das Außergewöhnliche.
Als erstes überlegten wir, warum das Kino, wie alle anderen bildenden Künste, die Welt als vierekkigen Ausschnitt wahrnimmt, als Parallelogramm, innerhalb der Grenzen von vier rechten Winkeln. Was könnte das bedeuten? Muß das auch in Zukunft so bleiben? In welcher Hinsicht ist der Akt des Rahmens relevant für den Akt des Filmens? Welche Einstellung ist die relevanteste, und ist es möglich, Einfluß auf das Timing zu nehmen? Ist die Einstellung überhaupt notwendig, könnten wir sie nicht durchbrechen, sprengen, neu erfinden? Was sind die Vor- und Nachteile? Die wichtigste Frage: Läßt sich die Aktion, das Event, die Aktivität einer Einstellung von der Einstellung an sich trennen?
1995 konnten wir eine zweite Ausstellung in München realisieren, und diesmal ging es um das Thema Projektion. Wir projizierten Bilder auf die Frauenkirche, das Rathaus, die Oper, Geschäfte und Einkaufsstraßen, auf Bürogebäude, das Polizeirevier, Gasometer, Kirchen und Theater, um das Entscheidende der Kinoerfahrung zu simulieren – hundert beleuchtete Leinwände –, wobei wir einer Chronologie der Kinogeschichte von einfachen Schwarz-weiß-Lumière-Projektoren aus dem Jahr 1895 über Farbe und experimentelle Formate der fünfziger und sechziger Jahre bis zum Beginn der Fernsehformate folgten – hundert Kinoleinwände, die in den Nachtstunden unter dem projizierten Licht zum Leben erwachten.
Es ging darum, die zentrale Kinoerfahrung zu demonstrieren: die Projektion von Licht über eine Entfernung auf eine gerahmte Fläche, damit ein Massenpublikum sie gleichzeitig sehen kann.
Die Ausstellung in der Reihe The Stairs, die sich den Requisiten widmete, also der Bedeutung unbelebter Objekte im Kino – können Sie sich einen Gangsterfilm ohne Waffe, Telefon und Wagen, eine Shakespeare-Verfilmung ohne Totenschädel, Dolch und Krone, Othello ohne Desdemonas Taschentuch vorstellen? – verwandelte sich in eine Installation mit dem Titel Hundert Objekte zeigen die Welt in Wien und schließlich in eine gleichnamige, weltweit aufgeführte Oper.
Kein einzelnes Merkmal des Kinos läßt sich von allen anderen trennen, und so fing ich an, diese Merkmale als Tyranneien zu sehen, die das Kino einengen, ihm eine Zwangsjacke verpassen, es sogar mißbrauchen – Tyranneien, die vielleicht jede weitere Emanzipation von der Vorstellung bewegter Bilder im Kino zunichte machen. Am Ende definierte ich die wichtigsten Tyranneien des Kinos als Rahmen, Text, Schauspieler und Kamera.