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LI 106, Herbst 2014

Kunstaktivismus

Die totale Ästhetisierung der Welt als Eröffnung der politischen Aktion

(…)

Design möchte den Status quo der Realität verändern: möchte ihn verbessern, attraktiver, verwendbarer machen. Kunst scheint den Status quo zu akzeptieren, wie er ist. Aber sie akzeptiert ihn nur als dysfunktionalen, bereits gescheiterten, das heißt aus revolutionärer oder gar postrevolutionärer Perspektive. Gegenwartskunst schiebt unsere Gegenwart ins Kunstmuseum ab, weil sie an der Stabilität der heutigen Bedingungen unseres Lebens zweifelt, und zwar so sehr, daß sie nicht einmal versucht, diese Bedingungen zu verbessern. Indem sie den Status quo defunktionalisiert, weist sie auf seine kommende revolutionäre Aufhebung voraus. Oder auf einen neuen globalen Krieg. Oder auf eine neue globale Katastrophe. Jedenfalls auf ein Ereignis, das die ganze Kultur der Gegenwart, einschließlich all ihrer Bestrebungen und Entwürfe, obsolet macht – so wie die Französische Revolution alle Bestrebungen, Entwürfe und Utopien des Ancien régime obsolet gemacht hat.

Der heutige Kunstaktivismus ist der Erbe dieser beiden miteinander unvereinbaren Traditionen von Ästhetisierung. Denn einerseits politisiert er die Kunst, macht er von Kunst als politischem Design Gebrauch, das heißt als einer Waffe in den politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit (was völlig legitim ist: Design ist ein integraler Bestandteil unserer Kultur, und es wäre unsinnig, seine Verwendung durch die einander bekämpfenden politischen Bewegungen unter dem Vorwand zu verbieten, daß sie zur Spektakularisierung und Theatralisierung des politischen Protests führe; schließlich gibt es gutes Theater und schlechtes Theater).

Andererseits steht der Kunstaktivismus in einer viel radikaleren, revolutionären Tradition der Ästhetisierung von Politik, nämlich der Tradition, das eigene Scheitern als Vorahnung und symbolische Vorwegnahme des unabwendbaren Scheiterns des Status quo in seiner Totalität akzeptieren zu müssen. Die Tatsache, daß der heutige Kunstaktivismus in diesem Widerspruch gefangen ist, ist aber nicht schlimm, im Gegenteil. Es ist gut so: erstens, weil nur in sich widersprüchliche Formen der Praxis in einem tieferen Sinne des Wortes wahr sind, und zweitens, weil in der heutigen Welt nur Kunst auf die Möglichkeit einer Revolution als einer radikalen Veränderung über den Horizont all unserer Wünsche und Erwartungen hinaus verweist.

(…)

Anfang der siebziger Jahre ließ Joseph Beuys sich von der Idee des Humankapitals inspirieren. In seinen unter dem Titel Kunst = Kapital veröffentlichten berühmten Achberger Vorträgen forderte er, jedes Wirtschaften als kreatives Handeln und damit jeden Menschen als Künstler zu begreifen, was bedeuten würde, daß der erweiterte Kunstbegriff mit dem erweiterten Ökonomiebegriff zusammenfiele. Beuys wollte so die Ungleichheit überwinden, die sich für ihn in der Unterscheidung von kreativer, künstlerischer und unkreativer, entfremdeter Arbeit symbolisierte. Zu sagen, daß jeder ein Künstler sei, bedeutete für Beuys, universelle Gleichheit durch Mobilisierung jener Aspekte und Komponenten von jedermanns Humankapital einzuführen, die unter den normalen Marktbedingungen verborgen bleiben, nicht aktiviert werden. In den sich an die Vorträge anschließenden Diskussionen wurde jedoch klar, daß Beuys’ Versuch, soziale und ökonomische Gleichheit auf die Gleichwertigkeit von künstlerischem und nichtkünstlerischem Tun zu gründen, nicht funktionieren würde. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Beuys zufolge ist ein Mensch kreativ, weil die Natur ihm das humane Startkapital dafür gegeben hat – eben die Fähigkeit, kreativ zu sein. Kunstpraxis bleibt insofern von der Natur abhängig – und damit von der ungleichen Verteilung der natürlichen Begabungen.

Doch auch viele linke, sozialistische Theoretiker konnten sich nicht aus dem Bann der Idee vom (individuellen oder kollektiven) Aufstieg lösen. Die berühmte Schlußpassage des ersten Teils von Leo Trotzkis Buch literatur und revolution ist ein gutes Beispiel dafür: „Der gesellschaftliche aufbau und die psychisch-physische selbsterziehung werden zu zwei seiten ein und desselben prozesses werden. Die künste: wortkunst, theater, bildende kunst, musik und architektur – werden diesem prozess eine herrliche form verleihen. Genauer gesagt: jene hülle, in die sich der prozess des kulturellen aufbaus und der selbsterziehung des kommunistischen menschen kleiden wird, wird alle lebenselemente der gegenwärtigen künste bis zur höchsten leistungsfähigkeit entfalten. Der mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine bewegungen werden rhythmischer und seine stimme wird musikalischer werden. Die formen des alltagslebens werden dynamische theatralität annehmen. Der durchschnittliche menschentyp wird sich bis zum niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben, und über dieser gebirgskette werden neue gipfel aufragen.“ 

Von diesem künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Alpinismus – sowohl in seiner bürgerlichen als auch in seiner sozialistischen Erscheinungsform – will moderne, zeitgenössische Kunst uns erlösen. Moderne Kunst wird gegen jede natürliche Begabung geschaffen. Sie entfaltet „menschliches Potential“ nicht, sondern sie suspendiert es. Sie operiert nicht mit Expansion, sondern mit Reduktion. Echte politische Transformation ist ja nicht nach derselben Logik von Talent, Bemühung und Wettbewerb erreichbar, auf der die heutige Marktwirtschaft basiert, sondern nur durch Metanoia und Kenosis – durch Umkehr, bezogen auf die Bewegung des Fortschritts und den Druck zum Aufstieg. Nur so können wir dem Druck unserer Begabungen und Talente entkommen, die uns erschöpfen und versklaven, indem sie uns antreiben, einen Berg nach dem anderen zu erklimmen. Nur wenn wir lernen, sowohl den Mangel an Begabungen als auch das Vorhandensein von Begabungen zu ästhetisieren, also nicht zwischen Sieg und Niederlage zu unterscheiden, entgehen wir der theoretischen Blockade, die den heutigen Kunstaktivismus bedroht.

Kein Zweifel, wir leben im Zeitalter der totalen Ästhetisierung. Diese Tatsache wird oft als Zeichen dafür interpretiert, daß wir das Stadium nach dem Ende der Geschichte erreicht haben oder das Stadium totaler Erschöpfung, das weiteres historisches Handeln unmöglich macht. Ein Zusammenhang zwischen totaler Ästhetisierung, dem Ende der Geschichte und der Erschöpfung der Lebensenergien besteht jedoch nicht, wie ich zu zeigen versucht habe. Wenn wir die Lehren der modernen, zeitgenössischen Kunst befolgen, sind wir in der Lage – und zwar ohne daß wir dafür am Ende der Geschichte stehen oder am Ende unserer Kräfte sein müßten –, die Welt vollkommen zu ästhetisieren, das heißt sie so zu sehen, als ob sie schon ein Leichnam wäre.

Man kann die Welt ästhetisieren und gleichzeitig in ihr handeln. Ja, totale Ästhetisierung blockiert politisches Handeln nicht, sondern sie erweitert es. Totale Ästhetisierung bedeutet, daß wir unsere Epoche als schon tot, den Status quo als aufgehoben betrachten. Es bedeutet weiter, daß jede Aktion, die auf Stabilisierung des Status quo zielt, letztlich fruchtlos – und jede Aktion, die auf Zerstörung des Status quo zielt, letztlich erfolgreich sein wird. Totale Ästhetisierung schließt eine erfolgreiche politische Aktion also nicht nur nicht aus, sondern sie eröffnet ihr einen äußersten Horizont, sofern sie – die politische Aktion – eine revolutionäre Perspektive hat.

(…)
 

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