LI 51, Winter 2000
La città ideale. Der verschwundene Platz.
Essay und GedichtElementardaten
Textauszug
LA CITTÀ IDEALE
Pienza, Urbino, Rimini...
Ein Mensch wird Herzog, Papst und Condottiere.
Er schenkt der Stadt, in der er Kind war, einen Platz.
Wer seine Zukunft liebt, ob Lehnsmann, Kardinal,
Soll dort Paläste bauen, Kirchen stiften, Brunnen.
Und es entsteht ein Raum wie keiner weit und breit,
Traum eines Herrschers, irdisches Gehäuse
Für Philosophen, Freskenmaler, Bauern, Mönche,
Mit einem Stadttor streng als Purgatoriumsschleuse.
Dort ließ sich‘s leben. Unter hohen Rathausbögen
Bei Regen standen sie und wurden Bürger
Beim Debattieren, wenn ihr Blick die Steine maß.
Über den Schultern wölbten sich im Blau Volumen.
Die schlanken Säulen in den Fenstern riefen
Das eigne Rückgrat in Erinnerung, den Gang
Des jungen Christus, eh das Kreuz ihn krümmte.
Heller als irgendwo war hier der Glockenklang.
Willkommen schien der Turm zu rufen, Salve
Das flache Dreieck überm Domportal. Vitruvius
Wies den Aposteln ihren Platz zu in den Nischen.
Dreifaltigkeit war hier ein Wunderwerk in Marmor,
Ein Resultat des Goldnen Schnittes das Geviert.
Kein Mensch mehr vogelfrei und keiner Sklave...
Das Schwalbennest, ein Imitat der Mutterbrust,
Klebte als Gütesiegel an den Architraven.
Gesprengt die Enge. Aus dem Fluchtpunkt tretend,
Gestreift von Flügeln, die ins Umland zogen,
Fand sich der Einzelne im Zentrum wieder,
Zum erstenmal seit Rom und seinem Niedergang.
Alles war hier versammelt und nach Augenmaß:
Profane Bauten, Tempel und die schönen Villen,
Vor denen Roß und Reiter edler wirkten im Profil.
Die vierte Dimension war nun die Atemstille.
Geschickte Hände hatten und bossierte Stirnen
Im Herbst des Mittelalters eine ideale Stadt erbaut.
Jerusalem war keinen Kreuzzug wert seither.
Wie alt sah Babylon nun aus, die Stadt der Städte,
Die Zikkurat aus Bimsstein in Gewitterwolken.
Bewohnt von Leuten, die kaum ihre Straße kannten,
Ein Ort wie Hongkong, Kairo, Rio und New York,
Wo nachts der Mond die Erde tröstet als Trabanten.
Ganz anders hier: kein Polizist im Racherausch,
Durch dunkle Viertel patrouillierend, schußbereit.
Und keine Kamera, die über tote Zonen wacht,
Wo halbe Kinder sich für ein Gramm H verkaufen.
War da ein Mörder, hielt er eine Shakespearerede,
Aus der das Wort Familie ragte wie ein Dolch.
Wo heute Vespas parken hing an den Mauerecken
Fürs Pferd der Eisenring, der Pranger für den Strolch.
Wozu der Wandel also? Weil der Wappensaal,
Adonis‘ Garten sich verstecken ließ in einem Loft?
Weil wir zuviele wurden, zu denselben Zentren
Wie Frösche drängend, um denselben braunen Teich?
Wo einmal Fackelhalter hingen, blinken Ampeln,
Und keine Schweizergarde fragt nach dem Begehr.
Ein Mensch wird Zahnarzt, Architekt und Barfrau.
Im Ohr die Brandung, taucht er unter im Verkehr.