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LI 129, Sommer 2020

Notizen zu María Kodama

Gespräche über Kindheit, Literatur und ein Leben mit Jorge Luis Borges

(…)

HEKTOR
Vor dem Interview, wir hatten uns kaum begrüßt und das Aufnahmegerät war noch nicht eingeschaltet, hat María Kodama kurz ihre akademische Laufbahn an der Philologischen Fakultät in Buenos Aires zusammengefaßt (sie hat ihre gesamte Ausbildung in öffentlichen Einrichtungen absolviert) und dabei eine Stelle aus der Ilias auf altgriechisch zitiert. Als ich sie eine Woche später, während unseres zweiten Gesprächs, darum bitte, sie mir noch einmal zu wiederholen, sagt sie:
    „Als Borges von uns ging, haben mich die Journalisten gefragt, was ich empfinde. Ein Japaner darf seine Gefühle nie offenbaren, es wäre ein Zeichen mangelnder Erziehung. Aber es war phantastisch, denn ich habe mich daran erinnert, was Andromache zu Hektor vor dessen Kampf gegen Achilles sagt, um ihn aufzuhalten: ‘Hektor, du bist für mich ein Vater, ehrwürdige Mutter und Bruder, vor allem aber bist du mein blühender Gatte.’ Es ist göttlich. Das sagt einem ja im Grunde auch die Kirche: ‘Dieser Mann ist deine Stütze, deine Familie.’ Ich finde das ganz wunderbar. Als ich von den ganzen Verrückten umgeben war, richtige Bäder in der Menge nahm, las ich griechische Tragödien und sagte zu mir: ‘Keine Sorge, es ist alles gut, denen da erging es viel schlechter als dir, bleib ganz ruhig ...’“
    Sie sagt fast nie „als Borges starb“, sondern immer „als Borges von uns ging“ oder „als Borges ins große Meer einging, wie die Florentiner sagten“. Mit „den Verrückten“ – oder „den Ungeheuern“ – meint sie diejenigen, die sie nach Borges’ Tod in Genf, wenige Monate nach ihrer Heirat, verdächtigten, ihn dazu gebracht zu haben, sie zu seiner Alleinerbin zu ernennen. Die Stelle aus der Ilias zitiert sie rhythmisch und versonnen, doch als sie die Bäder in der Menge erwähnt, klingt ein spöttischer Humor aus ihrer Stimme, den sie wirkungsvoll einzusetzen weiß.

 

VATER UND MUTTER
Die Kindheit. Ein Vater, mit dem sie Englisch und Spanisch sprach, der in ihrer Erinnerung würdevoll, zugänglich und streng ist und ihr einen Respekt einflößte, der sie manchmal dazu brachte, aufzustehen, wenn sie zu ihm sprach. („Er sagte dann: ‘Aber was machen Sie denn? Setzen Sie sich, wenn wir uns unterhalten.’“) Ein Mann, der sie dazu erzog, die Freiheit als das höchste Gut zu erachten, war man bereit, die Konsequenzen zu akzeptieren.
    „Ich weigerte mich zu essen. Mein Vater sagte: ‘Schön. Wenn Sie nicht essen wollen, werden Sie sterben.’ Ich fragte ihn: ‘Was ist sterben?’ Und er erklärte mir: ‘Dann werden Sie nicht mehr den Mond sehen können, der Ihnen so gefällt.’“
    Außerdem war er ein äußerst diskreter Mensch.
    „Als ich ein Kind war, ging er häufig mit mir in den Zoo und brachte mir die Namen der Tiere auf japanisch bei. Doch eines Tages hörte er damit auf. Als ich älter bin, sage ich zu ihm: ‘Kodama, warum haben Sie es mir nicht mehr beigebracht? Es wäre jetzt meine zweite Sprache.’ Darauf sagt er: ‘Nun ja, Sie wollten Literatur studieren, Ihre Sprache ist Spanisch. Wenn Ihnen irgendwann einmal danach ist, werden Sie es lernen, machen Sie sich keine Sorgen.’ Mein Vater stirbt, und ich sage zu meiner Mutter: ‘Himmel, Kodama war doch ein komischer Mensch. Er bringt mir die Namen der Tiere bei, dann hört er auf, mich im Japanischen zu unterrichten, sonst wäre es jetzt meine zweite Sprache.’ Meine Mutter hätte dazu einfach schweigen können, doch sie war ehrlich genug, mir zu sagen: ‘Es war nicht er, der es nicht wollte. Ich habe es ihm verboten.’ Denn meine Großmutter hatte sie gewarnt, ich verstünde mich so gut mit meinem Vater, und er würde mich, würde er mir Japanisch beibringen, mit nach Japan nehmen und sie würde mich nie wiedersehen. Das zeigte mir den Respekt, den sie sich entgegenbrachten. Denn er hätte mir ebensogut sagen können: ‘Als hätte ich das nicht gewollt! Ihre Mutter, diese Hexe, hat es mir verboten!’ Deshalb liebte ich sie beide sehr.“
    „Wann starb Ihr Vater?“
    „Ich erinnere mich nicht mehr genau an das Jahr. Ich war um die Zwanzig.“
    Während ihr Vater ihr den Begriff der Freiheit mitgab, lernte sie von ihrer Mutter – „Sie war sehr liebevoll. Ich werde nicht gern umarmt, aber sie war jemand, die einen ständig umarmte, küßte. Sie gab mir viel Zärtlichkeit“ –, keine Angst zu haben. Nicht, weil ihre Mutter so mutig gewesen wäre, sondern weil sie sich vor allem und jedem fürchtete.
    „Meine Mutter war sehr ängstlich. Wir waren zum Beispiel im Wohnzimmer, da sagte sie zu mir: ‘Mach das Licht an, Liebes, deine Mami hat Angst.’ Und ich dachte: ‘Ob da irgendwo ein Ungeheuer ist?’ Doch dann sagte ich mir: ‘Nein, Mami wird mich ja nicht in die Fänge eines Ungeheuers schicken.’ Also stieg ich auf einen Stuhl und schaltete das Licht an. Meine Großmutter mütterlicherseits lebte wie eine Nonne. Eines Tages hat sie mir erklärt, Gott sei allmächtig. Darauf sagte ich zu ihr: ‘Aber dann verstehe ich nicht, warum er das Böse auf den armen Luzifer übertragen hat, den schönsten aller Engel, und ihn aus dem Paradies verstoßen hat.’ Darauf meine Großmutter: ‘Ach, das kommt von deinem Vater, der setzt dir diese Flausen in den Kopf.’ Dabei hat mein Vater mir immer nur gesagt: ‘Stör deine Großmutter nicht, stell ihr keine Fragen, frag mich.’ Da wurde mir bewußt, daß die Menschen jemanden, den sie nicht mögen, häufig für Dinge beschuldigen, die der andere gar nicht getan hat. Das war mir eine große Lehre.“
    „Wie hieß Ihre Großmutter?“
    „Sie trug den schönen Namen Dorila. Und es war wirklich lustig ...“

 

SCHICKSAL
Die Vorsehung. Als sie sieben Jahre alt war, erzählt sie, habe ihre Englischlehrerin im Unterricht Borges’ Two English Poems vorgelesen: „I can give you my loneliness, my darkness, the hunger of my heart“. Sie habe gefragt, was „der Hunger des Herzens“ sei, und die Lehrerin habe geantwortet, wenn sie älter sei, werde sie lernen, daß das die Liebe sei.
    Die Vorsehung. Sie erzählt, sie sei mit acht Jahren in einer Zeitschrift – vermutlich in Sur – auf den Satz gestoßen „Niemand sah ihn an Land gehen in der einmütigen Nacht“, den Beginn der Erzählung Die kreisförmigen Ruinen, und habe nicht mehr aufhören können zu lesen. Borges war bereits tot, als sie erfuhr, er habe einmal zu Victoria Ocampo gesagt: „Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich in einem Text die Eindringlichkeit erreicht, mit der ich diese Erzählung geschrieben habe.“ Seitdem erstaunt es sie, daß ein achtjähriges Mädchen diese Eindringlichkeit spüren konnte.
    Die Vorsehung. Sie erzählt, mit zwölf Jahren habe sie einen Freund ihres Vaters zu einem Vortrag von Borges begleitet. In einem überfüllten Saal habe sie ihn reden hören, fast wispernd, und sich gesagt: „Wenn dieser Mann, der noch schüchterner ist als ich, unterrichten kann, dann kann ich es auch.“
Das Schicksal. Als sie mit 16 eines Tages die Calle Florida entlangging, rempelte sie gegen Borges, der aus einer Buchhandlung kam. Er war 54.

 

ALTE SPRACHEN
An ihrer literarischen Berufung hatte sie keinen Zweifel, sie zeigte sich aber auch talentiert fürs Ballett. Doch als die Lehrerin vorschlug, sie solle der Tanzakademie des Teatro Colón beitreten, legte ihr Vater ihr Folgendes dar:
    „Er sagte: ‘Ich werde Ihnen etwas erklären, dann können Sie entscheiden. Der Tanz hat eine Altersgrenze.’ Er sagte nicht: ‘Danach können Sie Choreographin werden, unterrichten.’ Er sagte: ‘Ab einem bestimmten Alter werden Sie nicht mehr tanzen können. Lesen und schreiben können Sie jedoch schon, dafür sind Sie begabt.’ Er sagte nicht: ‘Du könntest gaga werden, verrückt im Kopf ...’ Und daß ich, sollte ich einmal gaga werden, weder lesen noch schreiben können würde. Ich hatte also die Wahl zwischen der Aussicht, mit dreißig Jahren nicht mehr tanzen zu können, und der anderen Möglichkeit, die zeitlich unbegrenzt war, und ich wählte die andere.“
    „Bis wann hatten Sie Ballettunterricht?“
    „Ich weiß nicht mehr, bis etwa 15. Danach wurde mein Leben zu kompliziert. Ich ging zur Schule, studierte mit Borges.“
Die üppigen Anekdoten aus der Kindheit werden rar in der Jugendzeit, wo sie der einzigen Geschichte Platz machen, die von Bedeutung ist – ihre Begegnung mit Borges –, zeigen sie aber wieder als junge Frau, um das Leben zu illustrieren, das sie mit ihm teilte. Jenes Kennenlernen hat sie so erzählt: Sie ging als Sechzehnjährige die Calle Florida entlang – „Ich bin immer ziemlich schnell gegangen – jetzt nicht mehr so, meine Bänder sind überdehnt, ich wurde zweimal operiert, aber es ist nicht richtig geheilt“ –, stieß gegen Borges, woraufhin er sie einlud, mit ihm Altenglisch zu lernen.
    „Einfach so, aus heiterem Himmel ...?“
    „Weil ich ihm sagte: ‘Als junges Mädchen war ich einmal in einem Ihrer Vorträge.’ Darauf sagte er: ‘Natürlich, jetzt sind Sie ja schon ein altes Mädchen. Als was arbeiten Sie denn?’ Ich sagte: ‘Ich gehe aufs Gymnasium.’ ‘Und was wollen Sie einmal studieren?’ ‘Literatur.’ ‘Interessieren Sie sich für alte Sprachen?’ ‘Ja, sehr.’ ‘Hätten Sie nicht vielleicht Lust, Englisch mit mir zu studieren?’ Um mein Wissen zu demonstrieren, sagte ich: ‘Shakespeare?’ Darauf er: ‘Nein, viel älter.’ Ich antwortete: ‘Oh nein, das ist bestimmt ziemlich schwierig, ich glaube nicht, daß ich das kann.’ Darauf er: ‘Ich kann es auch nicht, wir lernen es gemeinsam.’ Und so fingen wir an, uns in Cafés zu treffen, bis er eines Tages sagte: ‘Meine Mutter sagt, sie seien ein junges Mädchen und ich könne sie nicht von Café zu Café zitieren, besser, wir treffen uns bei mir zu Hause.’ Er nahm mich mit zu sich, und seine Mutter war fantastisch. Im Ernst, mein Leben war einfach zu lustig. Später haben die Verrückten es mich bezahlen lassen, aber mein Leben war faszinierend.“

(...)

 

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