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Lettre International 146 / Tina Merandon
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Inhaltsverzeichnis

LI 146, Herbst 2024

Macbeth im Kaukasus

Allmacht und Einsamkeit – Bidsina Iwanischwilis georgischer Traum

(...)

Die „Globale Kriegspartei” 

Georgien steht seit Februar 2022 unmittelbar unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine. Die Ukraine ist ein weiteres Nachbarland Rußlands, das wegen seiner Westorientierung ins Fadenkreuz des Kremls geraten ist. Georgische Reformer aus der Saakaschwili-Zeit sind seit 2014 in der Ukraine engagiert. Die Georgische Legion, eine reguläre Einheit der ukrainischen Armee, kämpft mit vielen Freiwilligen und gilt als besonders tapfer. 
     Mehr als hunderttausend Russen fliehen ab Februar 2022 nach Georgien. Eine neue slawische Mittelklasse zieht damit ein in die georgische Hauptstadt. Im Zentrum von Tbilissi verdreifachen sich die Mieten. Es sind goldene Zeiten für Vermieter und die georgische Wirtschaft, die von der Umlenkung der Handelsrouten bis nach Zentralasien hinein profitiert. 
     Mit einer langen Grenze zu Rußland ist der Krieg besonders nah. Die Bevölkerung unterstützt die Ukrainer. Die Regierung hingegen ist auf anderem Kurs. Anfangs mag die Willfährigkeit dem Kreml gegenüber als Realpolitik und als ein Balancieren in einer wackeligen Region erscheinen. So jedenfalls wird die Außenpolitik von den wenigen internationalen Claqueuren des Georgischen Traums gerechtfertigt.
     Eher schaurig als pragmatisch wirkt die Politik, wenn man die tatsächlichen Äußerungen der georgischen Regierung betrachtet. Zunehmend abseitig wirkende Vorstellungen tauchen in den Reden der Regierung auf. Diese kulminieren darin, daß man ab 2024 von einer „Globalen Kriegspartei“ spricht, der Georgien entgegentreten müsse. 
     Ob sie es damit ernst meinen können? Die Vorstellung scheint zu absurd. Dann aber tritt Iwanischwili am 29. April vor das Volk und bestätigt seine verschwörerische Weltsicht. Die Globale Kriegspartei ist seit Jahrzehnten am Werk, hat Saakaschwili gesteuert, die Ukraine in Konflikte gestürzt und zwingt jetzt „die Europäische Union, die europäischen Werte mit ihren eigenen Händen [zu] zerstören“. Seine Rede mutet an wie Macbeth’ Begegnung mit dem Geist von Banquo. Macbeth und Iwanischwili reden mit einer schrecklichen Projektion, die für andere unsichtbar bleibt. („Avaunt! and quit my sight! Let the earth hide thee! Thy bones are marrowless, thy blood is cold; Thou hast no speculation in those eyes Which thou dost glare with!“) 
     Die Abgeordneten des Georgischen Traums demonstrieren Loyalität, indem sie dieselben Gespenster beschwören. Die adrette Regierungsab-geordnete Mariam Laschchi, zuvor für Tech-Start-ups zuständig, versucht im Mai 2024 vor laufender Kamera, die Welt zu erklären. Wer denn die Globale Kriegspartei sei, erkundigt sich ein britischer Journalist? Laschchi antwortet: „Die Freimaurer zum Beispiel. Da sind die, von denen wir schon jahrzehntelang gehört haben, und wir sehen, daß sie tatsächlich einen Einfluß auf die Weltpolitik und alle Dinge haben. Heute, wo ich selbst in den auswärtigen Beziehungen involviert bin, da haben wir Partner, und die sagen, daß ich okay bin und ich die Dinge gut mache. Aber dann gibt es da eine zusätzliche Stimme.“ 
     Eine zusätzliche Stimme? Der Journalist kann seine Verblüffung nicht verbergen, als sei er hier einer Gestalt direkt aus einem Roman von Dan Brown oder gar aus dem Foucaultschen Pendel von Umberto Eco begegnet. Diplomaten sind ratlos, wie sie in solchen Gesprächen eine Verständigungsebene herstellen sollen.
     Ein mutiger Geschäftsmann fragt bei einem Treffen den neuen Premier Kobachidse, um wen es sich genau bei der Globalen Kriegspartei handelt? Seine Investoren wollten das von ihm wissen. Der Premier sagt, die Staatssicherheit habe alle Informationen. Diese seien aber geheim. Kobachidse glaubt fest an üble Machenschaften, wittert sie schon seit Jahren im Umfeld des inzwischen verstorbenen US-Senators John McCain, und er mag sogar Iwanischwili damit beeinflußt haben. 
     Solche Projektionen sind auch die Refraktion von Iwanischwilis Ängsten. Weil er so genau hinhören will, sprechen die Georgier nicht mehr frei. Bei Gesprächen in Restaurants wird sein Name nicht genannt – wie beim „schottischen Stück“ scheint die direkte Erwähnung ominös. Stattdessen sagt man „er“ und deutet auf sein Anwesen, als sei es ein negativer Pol, oder spricht vom „Mann auf dem Berg“. Wer sich für Politik interessiert, hat inzwischen die verschlüsselte Nachrichten-App Signal installiert. Ein Bekannter, der bei einer Oppositionspartei arbeitet, erzählt, daß sein Telefon, das auf dem Tisch liegt, von selbst angeht. Erstaunt sieht er dann zu, wie eine fremde Hand aus der Ferne wie in einem Spuk auf seinem Telefon auf Suche geht. 

(...)

Ängste des Oligarchen 

Woher kommt diese radikale Abkehr vom Europakurs? Wenn Menschen sich drastisch ändern, blicken wir meist mit neuem Interesse auf ihre Vergangenheit. Jetzt schaut man sich Iwanischwilis Zeit in Rußland wieder genauer an. Der Oligarch Boris Beresowski hat über ihn gesagt, daß er immer nach den Regeln des Kremls gespielt habe.9 Im Gegenzug dafür war er als der einzige Nichtrusse in atemberaubend kurzer Zeit in den engsten Kreis der mächtigen Männer aufgestiegen, den sogenannten Semibankirschina („die sieben Bankiers“), die im Sommer 1996 die Wiederwahl von Boris Jelzin mit Mitteln und Manövern sicherten und damit die Rückkehr der Kommunisten verhinderten. Mit dabei war damals sein Kompagnon Witali Malkin. 
     Ein befreundeter Journalist erinnert daran, daß Bidsina Iwanischwili sich in seinen russischen Zeiten „Boris“ nannte, was ein Grund dafür ist, daß sein Interview mit der Zeitschrift Wedomosti aus dem Jahr 2005 bei Google-Suchen oft übersehen wird. Man verweist auf die Verbindung zu einem Mann, der mit den als Angolagate bezeichneten Waffengeschäften und Schuldentauschvereinbarungen viele Millionen auf Kosten der Bürger Angolas und Rußlands verdient hatte. Iwanischwili wies schon 2005 jede Beteiligung an diesen Geschäften weit von sich, aber in seiner Vergangenheit bleibt viel Zwielicht. Fast vergessen hatte man andere Geschichten, so beispielsweise, daß er nach der Entführung seines Bruders in den 1990er Jahren aus eigener Tasche eine russische Spezialeinheit finanziert hatte, oder, weniger spektakulär, daß es Unstimmigkeiten mit Heiratsurkunden und Ungereimtheiten bei anderen offiziellen Vorgängen gab. 
     Es scheint, daß Iwanischwili viele Jahre später noch mit der feinnervigen Aufmerksamkeit manövriert, die ihm geholfen hat, in den Aufwühlungen der frühen 1990er Jahren in Rußland ein riesiges Vermögen zu verdienen – und diese Manöver zu überleben. Selbst einige seiner Vertrauten räumen ein, daß Finesse kein geeigneter Ansatz für den Aufbau und die Stärkung eines funktionierenden Staatswesens ist. Seine ausgeprägte Fähigkeit, Trends und Chancen zu erahnen, bevor andere sie sehen, hat ihn in der Vergangenheit nicht vor Fehlschlüssen bewahrt. Einen Oppositionspolitiker, der unter Saakaschwili im Sicherheitsapparat gearbeitet hatte, soll er bei der Machtübergabe 2012 gefragt haben, ob der Anschlag vom 11. September 2001 vom israelischen Mossad verübt worden sei.
     Iwanischwilis Furcht vor Attentaten ist wieder ein Thema. Wird er derzeit vom Kreml bedroht? Es heißt, er trinke keinen Tee, angeblich aus Angst vor Gift. Das Wasser für seine Rede am 29. April bringt sein Leibwächter in versiegelten Flaschen, das Glas ist sorgfältig eingewickelt. Beeindruckt berichten Filmemacher von Iwanischwilis Besuch in einem abgeschiedenen Tal. Als sich seine Ankunft ankündigte, haben sie vorsichtshalber demonstrativ ihre Kameras eingepackt. Nach Iwanischwilis Abreise sind ein Dutzend Scharfschützen, die seine Präsenz überwacht hatten, aus ihren Verstecken gekommen. Besuchern soll er vor vielen Jahren erzählt haben, daß allein der Tarnanzug seiner Heckenschützen zehntausend US-Dollar pro Stück koste. 
     Unbegründet ist seine Angst nicht. Andere Oligarchen der 1990er Jahre sind unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Die offizielle Untersuchung zum Tod von Boris Beresowski im Jahr 2013 kommt zu einem offenen Urteil, es sei nicht abschließend zu sagen, ob es ein Freitod oder ein Mord war. Bis heute sterben immer wieder prominente russische Geschäftsleute in merkwürdigen Vorfällen. Unabhängig von Iwanischwilis Ansichten zu Putin kann man seine antiwestliche Politik vielleicht dadurch erklären, daß er nicht aus einem Fenster stürzen will. 

Mörderische Vermutung, ein umgekehrter Krimi

Es gibt eine spektakulärere Erklärung für diese gespenstische Politik. In diesem Szenario geht man davon aus, daß der Mann auf dem Berg etwas verstecken muß. „Es ist die Umkehrung der klassischen Mordgeschichte“, sagt ein langjähriger Beobachter Iwanischwilis. „Bei den meisten Krimis kennen wir den Mord, aber üblicherweise nicht den Täter. Hier kennen wir den Täter, aber wir wissen nicht, welchen Mord er begangen hat.“ 
     Ob es gleich ein Mord sein muß? Immerhin müsse die Tat so unumkehrbar sein, so die Antwort, daß er sich auch nicht mit seinen Milliarden freikaufen könne. Das umstrittene Transparenzgesetz zeige, daß er mit hohem Einsatz eine noch größere Heimsuchung verhindern wolle. Es sei vielleicht nicht eine eigene Tat, sondern eher, daß er russisches Morden in Georgien gebilligt haben könnte. 
     Es sei auffällig: Russen sind seit Jahren von der Regierung in Rußland ermordet worden; Russen sind in Großbritannien 2006 und 2016 Ziele von Anschlägen gewesen; ein Georgier wurde 2019 im Berliner Tiergarten von einem russischen Agenten getötet; auch ein Ukrainer ist im September 2016 in Riwne in der Ukraine wohl wegen seiner Tätigkeit in einer Flugabwehreinheit im georgisch-russischen Krieg erschossen worden. Weitere russische Anschläge ereigneten sich in der Türkei, der Tschechei, in Bulgarien und Katar.
     Nur in Georgien, so der Kommentar, habe man seit 2012 nichts von russischen Morden gehört. Dabei gibt es mysteriöse Todesfälle. Acht von 15 Kommandosoldaten, die 2007 bei einem Feuergefecht in Abchasien beteiligt waren, leben nicht mehr. Bei dem Schußwechsel waren zwei russische Offiziere getötet worden. Die georgischen Kommandosoldaten sind seither bei verschiedenen Zwischenfällen ums Leben gekommen. Zwei von ihnen sind bei separaten Explosionen, offiziell als Gasexplosion erklärt, umgekommen. Einige der überlebenden Soldaten halten sich im Ausland versteckt. Sollte sich herausstellen, daß Iwanischwili die Ermordung von Georgiern durch russische Häscher gebilligt oder geduldet hat, wäre er politisch am Ende. Selbst seine Kinder könnten ihm dann kaum noch zur Seite stehen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.