LI 142, Herbst 2023
Wie die Würfel fallen
Das politische 20. Jahrhundert – Von Sarajevo zum Krieg um die UkraineElementardaten
Textauszug
Mit dem brachialen Angriff Rußlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich die Weltpolitik dramatisch verändert. Darin sind sich die meisten Menschen einig. Seitdem hat sich der Begriff „Zeitenwende“ weit über Deutschland hinaus verbreitet und Eingang in zahllose Kommentare gefunden, die auch Bezüge herstellen zu den Debatten über das „Ende der Geschichte“, die Rückkehr der Geopolitik oder den Clash of Civilizations (Samuel Huntington). All diesen Beiträgen ist gemein, daß die Ereignisse als historisch angesehen werden. Jedoch wird dabei ein zentraler Aspekt übersehen, der einen neuen Blick auf das weltpolitische Geschehen des 20. Jahrhunderts eröffnet.
Es spricht sehr viel für die These, daß das politische 20. Jahrhundert (bzw. das 20. Jahrhundert im politischen Sinne) erst am 17. Juli 2014 zu Ende gegangen ist. An diesem Tag schossen von Moskau unterstützte Milizen ein Flugzeug der Malaysia Airlines über der Ostukraine ab. Der Flug MH-17 war auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur und hatte 298 Menschen an Bord. Weniger als zehn Minuten vergingen vom Start der Rakete des Buk-Flugabwehrsystems, bis alle Flugzeugteile – und alle Menschen – am Boden waren.
(…)
SCHLAFEN UND SCHLUMMERN
Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen den Ereignissen, die den Beginn und das Ende des politischen 20. Jahrhunderts markieren. Ein Monat nach dem Attentat in Sarajevo von 1914 brach ein verheerender Krieg aus. Nach dem Abschuß des Flugs MH-17 geschah wenig. Zumindest für Deutschland erinnert die spärliche Reaktion im Jahr 2014 an die Ereignisse in Sarajevo hundert Jahre zuvor.
Im März 2014 hatte das Auswärtige Amt mehrere Historiker eingeladen, um unter der Ägide von Außenminister Frank-Walter Steinmeier darüber zu diskutieren, welche Rolle Diplomaten bei der „Eskalation in der Julikrise 1914“ gespielt hatten. Der Hauptredner war Christopher Clark, der mit Die Schlafwandler „eine der beeindruckendsten und anregendsten Studien über diese Zeit, die jemals veröffentlicht wurde“ vorgelegt hat, wie es in der Sunday Times hieß.
Der Staatssekretär Michael Roth aus dem Auswärtigen Amt beschrieb sein Fazit bei einer Veranstaltung für das „Junge Europa“, am symbolisch aufgeladenen 28. Juni 2014 in Sarajevo mit den Worten:
„Sie haben vielleicht schon von dem australischen Historiker Christopher Clark gehört. Er erklärt in seinem Buch, wie seiner Meinung nach europäische Politiker, Militärs und Diplomaten wie ‘Schlafwandler’ in einen vermeidbaren Krieg gestolpert sind. Er beschreibt damit, was passiert, wenn die Diplomatie versagt, wenn der Dialog nicht gesucht wird. Was sich in der Ukraine abspielt, ist die größte Bewährungsprobe für die Diplomatie seit dem Ende des Kalten Krieges. Aber wir suchen weiter nach Gelegenheiten, die einen Dialog ermöglichen, der zu einer Deeskalation führt.“
Als der Flug MH-17 drei Wochen später abgeschossen wurde, suchte das Auswärtige Amt weiter den Dialog, obwohl vier deutsche Staatsbürger unter den Opfern waren. Im Juli 2015 bezeichnete Steinmeier das Schicksal von MH-17 als „Absturz“ und machte einen Rückzieher von der klareren Formulierung eines „Abschusses“, die er zuvor verwendet hatte.
Wer seine Wortwahl nicht im Griff hat, dem fehlt die überzeugende Linie. Es gab nach der Annexion der Krim zwar einige Sanktionen, aber die deutsche Regierung setzte bei der Energieversorgung weiter auf Rußland. Man hielt am Bau der umstrittenen Nord-Stream-2-Pipeline fest. Im Jahr 2015 genehmigte die Bundesregierung den Verkauf der strategischen Gasspeicher an Gazprom. Der Anteil des Verteidigungshaushalts am Gesamthaushalt, rund elf Prozent, ging 2015 und 2016 leicht zurück und stieg erst wieder ab 2019 an.
Im Juni 2019 setzte sich das Auswärtige Amt dafür ein, Rußland im Europarat das Stimmrecht zurückzugeben, das seit der Besetzung der Krim im Jahr 2014 suspendiert worden war. Die Resolution wurde gegen den Widerstand ukrainischer, georgischer, polnischer, litauischer, lettischer und estnischer Delegationen durchgesetzt.
Der damalige Außenminister Heiko Maas, ein Parteigenosse Steinmeiers, begründete die Rückgabe des Stimmrechts damit, daß die volle Wiederaufnahme Rußlands in den Europarat den russischen Bürgern den Schutz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bieten würde. Die Begründung war wenig glaubwürdig. Rußland hatte die Autorität des Straßburger Gerichtshofs bereits im Dezember 2015 unterlaufen, als es dem russischen Verfassungsgericht per Gesetz erlaubte, die Vollstreckung von Urteilen des Straßburger Gerichtshofs auszusetzen.
Es wurde versäumt, darauf zu bestehen, daß Rußland die Verantwortung für den Abschuß des Fluges MH-17 übernimmt – wofür die Wiederaufnahme in die wichtigste Organisation zum Schutz der Menschenrechte in Europa eine passende Gelegenheit gewesen wäre. Dieses Versäumnis steht im Gegensatz zu der Erklärung des Auswärtigen Amtes vom 20. Juni 2019, fünf Tage vor der Abstimmung im Europarat, daß „Deutschland … die Untersuchungen des gemeinsamen Ermittlungsteams zum Abschuß von Flug MH17“ unterstützt, mit der Hinzufügung: „Rußland ist aufgerufen, konstruktiv an der weiteren Aufarbeitung mitzuwirken“.
Hätten deutsche Diplomaten ihre eigenen Forderungen ernst genommen, hätten sie die Auslieferung der vier identifizierten Verdächtigen oder zumindest eine Entschädigung verlangen können. Statt dessen erhielt der Kreml einmal mehr einen Freibrief.
Bei der zeitgleichen Wahl des künftigen Generalsekretärs des Europarates blockierte das Auswärtige Amt die Kandidatur von Andrius Kubilius, dem engagierten ehemaligen Ministerpräsidenten Litauens, der ein Programm für „werteorientierte Reformen“ des Europarats mit konkreten Vorschlägen vorgelegt hatte. Kubilius, der die politischen Realitäten besser einschätzte als die deutsche Diplomatie, sagte 2019 treffend voraus, daß die „bedingungslose Unterwerfung unter die Forderungen des Kremls … dessen weitere Aggressivität nur fördern wird“.
Im nachhinein scheint es, daß die deutschen Diplomaten derart darauf bedacht waren, ein Schlafwandeln zu vermeiden, daß sie sich selbst in einen tiefen Schlummer versetzt hatten. Durch den langen Schatten, den er warf, verbindet sich der Sommer 1914 mit den Ereignissen hundert Jahre später.
Im Herbst 2022 fand Steinmeier, inzwischen Bundespräsident, endlich zu einer klareren Sprache. Es wirkte, als sei er gerade erwacht:
„… viele Menschen in unserem Land sehnen sich nach Frieden. Einige glauben, es fehle an ernsthaften Bemühungen unsererseits, ja gar an Bereitschaft zum Verhandeln. Ich kann Ihnen versichern: Niemandem, der bei Sinnen ist, fehlt der Wille. Aber die Wahrheit ist: Im Angesicht des Bösen reicht eben guter Wille nicht aus.“
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