LI 117, Sommer 2017
Europas genetischer Code
Griechische, römische, biblische Quellen und das Erbe der BarbarenElementardaten
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Textauszug: 11.453 von 57.744 Zeichen
Textauszug
EUROPA STECKT in der Krise. Es hat sich vielleicht immer schon in der Krise befunden. Es könnte sogar sein, daß die Krise nicht zu trennen ist von seiner ureigensten Seinsweise. Doch inwiefern? Denn der Krisenstatus ließe sich auch von anderen geopolitischen Entitäten aussagen. Sie sind allesamt seit jeher in Veränderungsprozessen begriffen, die erworbene Erbschaften und überlieferte Institutionen immer wieder neu in Frage stellen. Was im Falle Europas jedoch erstaunt, ist – über die Jahrhunderte hinweg – der Umfang, das Tempo und bisweilen auch die Heftigkeit der Transformationen. Diese waren untrennbar verbunden mit wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen, die hier früher stattfanden als anderswo und die vor allem implizierten, daß Staaten miteinander konkurrierten und nicht selten gar gegeneinander Krieg führten, so daß Europa der Schauplatz beider Weltkriege war, deren Bilanz sich auf Millionen von Toten (mehr als 70 Millionen) sowie materielle Zerstörungen beläuft, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte beispiellos sind. Ein tragisches Schicksal, das die Schaffung der Europäischen Union beginnend mit den Römischen Verträgen des Jahres 1957 überwinden wollte und zu überwinden verstand. Europa scheint seit dem Zweiten Weltkrieg kollektives Selbstvertrauen gewonnen zu haben hinsichtlich seiner Identität als Raum einer integrierten Wirtschaftsentwicklung, als eine Gemeinschaft von Nationen sowie als Friedensraum.
DER NAME „EUROPA“
Und doch wird Europa von Zweifeln gequält; es geht ihm schlecht. Es hat einen Ruck nötig. Insofern ist die derzeitige Krise heilsam. Sie ruft den Europäern in Erinnerung, daß sie ihre gemeinsame Existenz neu denken müssen. Die Tatsache, daß diese Frage sich ihnen als Europäer stellt, ist für sich allein schon bemerkenswert. Das bedeutet, daß es nunmehr das Gefühl eines geteilten Schicksals und einer kollektiven Verantwortung gibt. Noch hundert Jahre zuvor war nichts weniger evident. Die Feststellung, daß eine bestimmte Gruppe von Ländern (EU-Mitglieder oder nicht) sich als Europäer erkennen und Europäer sein wollen, sollte deren Staatsangehörige eigentlich in Erstaunen versetzen und sie vor allem beruhigen.
Da ist aber noch mehr. Wenn man die Geschichte der Zivilisationen bilanziert, ist die Geschichte Europas heute die einzige, die wahrhaft weltumspannend geworden ist. Zu Recht rühmt sich Europa dessen nicht im Überschwang, denn es weiß um die negativen Aspekte dieser Globalisierung. Dennoch stellt sein demokratisches Politikmodell, untrennbar verbunden mit dem Rechtsstaat, nunmehr eine überall akzeptierte Norm dar, selbst wenn sie unzureichend verwirklicht ist. Europas Methoden und Errungenschaften auf dem Gebiet der Wissenschaften und Technologien haben sich überall durchgesetzt, wie auch seine Formen des höheren Bildungswesens und der Forschung. Seine Rechtsmodelle im öffentlichen Recht wie im Geschäfts- und Vertragsrecht sind ebenfalls weltweit akzeptiert. Europa ist unbestreitbar das Mutterland der Moderne. Hinzu kommt die internationale Verbreitung einiger seiner Sprachen: Englisch als weltweite Lingua franca, aber auch Spanisch, Französisch und Portugiesisch. Dem wäre hinzuzufügen, daß die aktuelle Europäische Union (von den europäischen Nichtmitgliedern ganz zu schweigen) mit ihren 500 Millionen Einwohnern die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt ist (mit einem „Bruttoinlandsprodukt“ von 18 500 Milliarden Dollar), noch vor den USA (320 Millionen Einwohner, BIP 18 000 Milliarden Dollar) und China (1,3 Milliarden Einwohner, BIP 12 000 Milliarden Dollar). Wenn man diesen Maßstab anlegt, gilt es, die aktuelle Schwäche Europas also zu relativieren. Es ist unvermeidlich und normal, daß sich sein wissenschaftlicher und ökonomischer Vorsprung nunmehr mit der Konkurrenz und den eigenen Beiträgen neu aufsteigender Mächte konfrontiert sieht.
Wenn es Europa schlecht geht oder wenn es sich schlecht fühlt, ist das nicht in erster Linie eine Frage ökonomischer Schwäche oder erlahmender Innovationskraft. Europa geht es nämlich nicht nur gut, sondern es ist auch recht begehrenswert aufgrund seines Reichtums, seiner Institutionen, seiner Bildungs- und Gesundheitssysteme sowie seiner Systeme sozialer Sicherheit. Das schlechte Gefühl hängt mit etwas Profunderem zusammen, das schwer auszudrücken ist und das diffus bleibt: Europas Identität. Oder vielmehr: Mit seinem Mangel an Identität. Jeder in Europa kann sich Europäer nennen; aber niemand kann von seinem Vaterland Europa oder von der Nation Europa sprechen. Die fehlende Identifikation vermittels dieser zwei kanonischen Formen kollektiver Zugehörigkeit betrifft einen wesentlichen Aspekt dessen, was eine feste, starke emotionale Bindung an eine politische Gemeinschaft definiert. Man kann von der Notwendigkeit der Union der europäischen Nationen vollkommen überzeugt sein, Europa selbst aber ist keine Nation. Man kann sich sogar fragen, ob es je eine solche sein wird.
Wir müssen diese Fragen nun weiter vorantreiben
(…)
Wenn sich Europa, wie wir es heute kennen, als eine Konstellation von Demokratien erweist, dann ist das ein Glücksfall, der einem jahrtausendealten Erbe zu verdanken ist. Es gibt da etwas, das lange Zeiträume überdauert hat. Diese lange Zeitspanne (die „longue durée“ gemäß Fernand Braudel) ist etwas ziemlich Rätselhaftes, denn sie setzt überaus komplexe Vermittlungsmechanismen voraus, über die man noch wenig weiß. Es überrascht uns aber nicht, wenn wir erfahren, daß auf der biologischen Ebene viele genetische Merkmale Tausende, ja Millionen von Jahren überdauern. Was die Geschichte betrifft, so müssen wir erst noch verstehen, wie kulturelle Merkmale überdauern können, wie etwa jene Schemata, die über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg kollektive Verhaltensweisen oder Institutionen hervorbringen. Ein gutes und gut dokumentiertes Beispiel dafür wäre das Fortleben der drei Grundfunktionen innerhalb des indoeuropäischen Ensembles, von den indischen Veden bis ins europäische 18. Jahrhundert hinein: die Funktion der Souveränität, die Kriegerfunktion und die Funktion der Fruchtbarkeit/Produktion. Gleiches gilt auch für das Modell der Polis, wie es für die griechisch-römische Welt charakteristisch ist, und mit ihm für eine bestimmte Konzeption des Rechts und der Demokratie. Dieses Modell bildet den Kern dessen, was Europa noch im 21. Jahrhundert definiert, und es ist gleichsam das vibrierende Nervenzentrum seiner Seinsweise, seiner politischen Vitalität, seines Sinns für die Ordnung des Rechts und für staatsbürgerliche Freiheiten, und zwar trotz all der Kräfte, die Europa bisweilen in Richtung antidemokratischer oder gar totalitärer Versuchungen zerren.
(…)
Man hat gerne gesagt – und sagt noch immer gerne –, daß Europa aus der Verschmelzung dreier großer unterschiedlicher Traditionen hervorgegangen sei: Athen, Rom und Jerusalem. Sie hätten sich auf wundersame Weise verbunden, verschmolzen und ergänzt, um diese neue und beispiellose Gestalt hervorzubringen: die europäische Kultur. Der Erfolg ist unbestreitbar. Man ruft in Erinnerung, was jeder in den Korb hineinlegte: die griechische Tradition brachte das demokratische Modell, das argumentierende rationale Denken und seine philosophischen Begriffe, die Wissenschaft der Mathematik und der Geometrie; die römische Tradition wiederum hat ihr Modell des Rechts und ihre Verwaltungskunst beigetragen und verbreitet; die jüdische Tradition schließlich steuerte ihren radikalen Sinn für Transzendenz, ihren monotheistischen Glauben, ihre Konzeptionen der Person und unbedingter moralischer Postulate bei. Die Kombination dieser drei Merkmale war alles andere als evident. Die Religion, die sich nach und nach durchsetzte, das Christentum, war der erste Schmelztiegel dieser Synthese: Seine grundlegenden Texte wurden auf griechisch verfaßt, und seine Theologie war eine einzigartige Verschmelzung aus griechischem Denken und biblischer Tradition; auch die Kirche selbst hat sich institutionalisiert und organisiert, indem sie das römische Rechts- und Verwaltungsmodell übernahm.
DER BLINDE FLECK
Dieses Bild ließe sich noch durch alle möglichen Detailanalysen bereichern, welche die vielfältigen Aspekte dieser außergewöhnlichen Synthese beleuchten könnten. Es gilt jedoch festzuhalten, daß diese Sicht auf die Spezifität Europas an einem massiven und überraschenden Vergessen krankt, ja eine merkwürdige Art von blindem Fleck aufweist. Europa ist nämlich nicht im Dreieck Athen-Rom-Jerusalem entstanden, sondern vor allem in einem geographischen Gebiet, das Gallien, die Iberische Halbinsel, die britischen Inseln, die germanische und die skandinavische Welt sowie den Osten Europas einschließlich der slawischen Welt umfaßt. Nun waren diese Regionen aber Teil dessen, was die Griechen wie die Römer als „Barbaren-Gebiet“ bezeichneten.
(…)
Es gilt also, zum ersten, folgende evidente Tatsache zu ermessen: Das postimperiale Europa entstand im Westen und im Norden Italiens, das heißt auf dem Gebiet der „Barbaren“. Das Römische Reich hatte sich zunächst nach Osten und Südosten hin orientiert: Griechenland, Kleinasien, Ägypten, Syrien, denn dort existierten bereits alte, glanzvolle städtische Zivilisationen, dort lockten überreich sprudelnde Steuereinnahmen. Vielleicht kann man vergleichend sagen, daß das barbarische Europa für Rom das war, was vom 15. Jahrhundert an die Neue Welt für die Europäer war: ein wilder und unbestimmter Raum, den es zu besetzen und zu kolonisieren gilt. Nordwesteuropa war für das mediterrane und orientalische Rom also in gewisser Weise das, was Nordamerika später für Europa selbst sein sollte. Dem müssen wir jedoch, zum zweiten, folgende bemerkenswerte, aber zu wenig beachtete Tatsache hinzufügen: Das postimperiale Europa hat sich, ideologisch betrachtet, unter Zurückweisung – oder zumindest unter Mißachtung oder Delegitimierung – der Kulturen der Barbaren herausgebildet, nennen wir sie die „Vernakularkulturen“, das heißt die „vor Ort vorhandenen“ Kulturen. Diese haben uns, da sie vor dem Prozeß der Christianisierung keine Schrifttradition besaßen, kein einziges schriftliches Dokument direkt hinterlassen; wir kennen sie nur über die Texte ihrer römischen Herren oder ihrer christlichen Kleriker. In der Herausbildung Europas hat es da also eine Art Bruch, ja sogar Trauma gegeben (dessen Nachwirkungen während der Reformation und der Geburt der Nationalismen erneut zutage treten). Der Vorgang, dem die „Barbaren“ ausgesetzt waren, nämlich des eigenen Gedächtnisses beraubt zu werden oder zumindest dessen Legitimität in Frage gestellt zu sehen, ist eine Tatsache, deren Langzeitwirkungen noch nicht genügend ermessen wurden. All dies hat tiefe Wunden geschlagen, und der Prozeß der Vernarbung ist vielleicht immer noch nicht abgeschlossen. Dieses Herausgerissenwerden oder diese Trennung hat aber eine unglaubliche erzieherische Wirkung entfaltet. Man war gezwungen, sein Selbstbild stets in einer gewissen Distanz zum eigenen Selbst zu entwickeln. Diese Erfahrung vollzog sich im Zuge der zunehmenden Aneignung des griechisch-römischen kulturellen Erbes über die christliche Verkündigung, die Schrift, die Schule, die Universität und schließlich den neu aufkommenden Buchdruck.
Im Grunde genommen ist Europa, als römische Kolonie und christlicher Raum, kulturell geformt worden durch stete Selbstenteignung, indem es gegenüber seiner Vergangenheit und seiner eigenen, vor Ort vorhandenen Kultur ständig eine exzentrische Position einnehmen mußte.
(…)