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Cover Lettre International 95, Maki Na Kamura
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LI 95, Winter 2011

Globale Urbanität

Die Stadt als Monument, Maschine, Netzwerk und öffentlicher Raum

(Auszug : 8.683 von 103.396 Zeichen)

Wie sehr die Stadt mit diesem Bild einer – ideell durch die Silhouette ihrer Monumente definierten – baulichen Gesamtheit identifiziert wurde, zeigt sich an der Gewaltsamkeit, die man empfand, als dieses alte Gleichgewicht zerstört wurde. Als Beispiel sei hier Baudelaires Klage angesichts der einschneidenden Veränderung des alten Paris durch die Bauvorhaben des Barons Haussmann genannt: „Die Gestalt einer Stadt / Wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen“ (Die Blumen des Bösen, „Der Schwan“). Die industrielle Revolution bewirkte in der Tat eine tiefgreifende Desintegration der traditionellen Stadt, wie wir in Europa sehen können – es handelte sich jedoch um ein weltweites Phänomen. Diese Revolution wird oft (etwa von Lewis Mumford oder Arnold Toynbee) als etwas dargestellt, das der Stadt als solcher von außen zugestoßen wäre, als Einbruch einer unkontrollierbaren, bösartigen Macht, die in einem anderen Bereich unserer Zivilisation entstanden und dann über unsere Städte hereingebrochen sei, jene sanfte Einfriedung verwüstend, die als Widerspiegelung des Himmels und Zusammenfassung der Welt galt und der die Chiffre der Natur und die Ordnung der Vernunft eingeschrieben war.

Diese Legende müssen wir wahrscheinlich ad acta legen und statt dessen folgende Hypothese aufstellen: Die industrielle Revolution war die direkte Konsequenz des Erfolgs der Stadt selbst, das heißt der dem urbanen Phänomen selbst innewohnenden Entwicklungslogik. Denn die Stadt als solche implizierte – und zwar in allen Zivilisationen – noch etwas ganz anderes als monumentalen Glanz allein. Dieses weitere Element, das für die Entstehung des urbanen Phänomens von wesentlicher Bedeutung war, besteht in der Tatsache, daß die Stadt eine Maschine, ja sogar eine Megamaschine ist, wie Lewis Mumford sich ausdrückte, der hier eine schöne Intuition hatte, deren Konsequenzen aber erst noch vollständig zu entwickeln sind. Diese Maschine läuft und produziert jedoch nur, wenn sie in einen administrativen Rahmen eingefügt wird, der die Bevölkerung organisiert, die nötigen Dienstleistungen liefert und das stabile Funktionieren des Ganzen gewährleistet. Unter solchen soziotechnischen Bedingungen wird die Stadt als neues Organisationsmodell des Sozialen zu einem Motor des Wirtschaftswachstums.

(…)

Es wird also niemanden verwundern, wenn die industrielle Revolution, die in Westeuropa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an schrittweise in Gang kam, zunächst an die Existenz urbaner Zentren gebunden war. Die Städte, in denen sich die großen Industrien konzentrierten, sahen sich mit einem unvergleichlichen demographischen Wachstum konfrontiert. Es begann eine unkontrollierte Entwicklung der Wohnungsimmobilien. Im 19. Jahrhundert wurde das Thema „Stadt“ dann von der düsteren Geschichte der Vorstädte beherrscht, die auch heute noch eines der Hauptprobleme darstellt. Sigfried Giedion hat es wie folgt beschrieben:

„Die industrielle Revolution, die plötzliche Produktionssteigerung, die im 18. Jahrhundert durch die Einführung des Fabriksystems und der Maschine ausgelöst wurde, änderte das gesamte Bild der Welt gründlicher als die soziale Revolution in Frankreich. Ihre Auswirkung auf Denken und Gefühl war so groß, daß wir heute noch nicht zu ermessen vermögen, wie tief sie in die innerste Natur des Menschen gedrungen ist und was für große Veränderungen sie dort hervorrief. Niemand konnte diesen Auswirkungen entgehen, denn die industrielle Revolution war nicht eine politische Umwälzung, die in ihren Konsequenzen begrenzt ist. Vielmehr nahm sie Besitz vom ganzen Menschen und seiner ganzen Welt. Auch enden politische Revolutionen nach einer gewissen Zeit in einem neuen sozialen Gleichgewicht; das Gleichgewicht hingegen, das dem menschlichen Leben mit der industriellen Revolution verlorenging, wurde bis heute nicht wiederhergestellt.“

Wir stehen also vor dem Paradox, daß die Stadt, entstanden als Monument, das mit der Welt der Götter rivalisiert und sich als irdische Verkörperung einer potentiell vereinten, organischen und im Gleichgewicht befindlichen Welt präsentiert, zum Werkzeug ihrer eigenen Auflösung wurde; sie scheint ihre geistige Einheit und ihre symbolische Form für immer verloren zu haben. Begonnen hat diese Krise mit dem Aufstieg jener Zivilisation, welche die Stadt selbst angestoßen und zum Triumph geführt hat, ohne daß dies ein explizit verfolgtes Ziel gewesen wäre. Darin besteht eben das Paradox: Der weltweite Siegeszug der urbanen Form scheint mit der Niederlage der Stadt zusammenzufallen – oder zumindest mit dem Niedergang dessen, was jahrtausendelang unter der Idee der Stadt gewünscht und gebaut wurde.

(…)

Diese Auflösung der Stadt durch die Stadt, die von der industriellen Revolution in Gang gesetzt wurde, läßt uns die Krise der Architektur besser verstehen, die sich zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und der Bewegung der Moderne entwickelte. Das Problem scheint wie folgt zu lauten: Der Bruch mit der klassischen Stadt wurde so erlebt und interpretiert, als ob äußere Kräfte in die Stadt eingefallen seien, als ob der Siegeszug der Maschine etwas der urbanen Welt völlig Fremdes gewesen sei. Je bedrängender die Bedrohung wurde, desto stärker bestand die Reaktion im Laufe des 19. Jahrhunderts darin, das Ideal des traditionellen Monuments gegen die neue „Barbarei“ aufrechtzuerhalten.

Wir stehen hier erneut vor dem erwähnten Paradox: Die Stadt als technische Macht bewirkt die Auflösung, ja Zerstörung der Stadt als Monument. Der Widerstand der letzteren scheint lächerlich zu sein, ja wird selbst von denjenigen als rückschrittlich erachtet, die zugeben, daß die ausufernden Vorstädte der industrialisierten Welt in architektonischer Hinsicht eine schwere Niederlage bedeuten. Demgegenüber bleibt der im Gleichgewicht befindliche Raum der traditionellen Stadt ein Modell urbaner Integration. Dieser Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, sich den neuen technischen Gegebenheiten zu stellen, und der Unmöglichkeit, sich mit der Auflösung der alten Stadt einfach abzufinden, scheint uns ein Zeichen für ein anderes Problem zu sein, mit dem man sich damals nicht auseinandersetzte: Es war ein neues Modell des Raumes in Erscheinung getreten, das auf anderen Erfahrungen und Vorstellungen beruhte: das Modell des Netzes.

(…)

Netzeffekte finden sich auf sämtlichen Ebenen des Systems Stadt: bei den Verkehrswegen, der Wasserversorgung, der Abwasserkanalisation, seit Ende des 19. Jahrhunderts auch bei den Energieversorgungsnetzen für Strom und Gas sowie schließlich bei den Fernkommunikationsnetzen mittels Telefon- und Glasfaserkabeln. Allmählich zeichnet sich ab, wie tiefgreifend diese durch die Stadt angebotenen oder geschaffenen Netze verschiedenster Art die alte Figur des Netzes verändert haben. Die ersten Verkehrs- und Austauschnetze gehörten zu den Entstehungsbedingungen des Faktums Stadt. Jene Netze, die das zivile Gemeindeleben und die Beamtenkultur ermöglichten, haben die politische Macht der Städte besiegelt. Und die heute sich weltweit durchsetzenden Kommunikationsnetze scheinen den Siegeszug dieses Modells, das mit den Städten entstanden ist, zu verkünden.

Gleichwohl: So wie die industrielle Revolution die organische Einheit der traditionellen Stadt zerbrach und eine Suburbanität der Vorstädte entstehen ließ, die ein ungelöstes Problem moderner Gesellschaften bleibt, so wird das exponentielle Wachstum der elektronischen Netze schließlich die Idee der Stadt selbst in Frage stellen. Ein zweites Mal wird eine in der Stadt selbst entstandene und durch sie beschleunigte Dynamik gewissermaßen dazu führen – wenn auch auf andere Weise als zuvor –, daß die traditionelle Stadt als solche obsolet wird. Denn die Netze sind derart mächtig und allgegenwärtig geworden, daß es von nun an keinen Niederlassungsort mehr gibt, der einem anderen gegenüber prinzipiell privilegiert wäre. Die Kommunikationsnetze sind von der Geographie – die urbane Geographie eingeschlossen – immer unabhängiger geworden. Die Produktions-, Verwaltungs- und Entscheidungszentren können sich mit der Stadt verbinden oder sich von ihr lösen. Sie können von einem bekannten Ort an einen unbekannten, ja obskuren Ort wandern, ohne daß ihr jeweiliges Funktionieren dadurch beeinträchtigt würde. (Beeinträchtigt wäre nur das Sozialleben der Ausführenden; es hat jedoch den Anschein, daß auch ihnen die Sozialität im eigentlichen Sinne des Wortes immer gleichgültiger wird.) Sollte dies das wahre „Ende der Stadt“ sein? Und wäre dies, wenn die Idee eines öffentlichen Raumes tatsächlich in Verbindung mit der Stadt entstanden ist, auch das Ende der Möglichkeit eines solchen Raumes? Das sind die Fragen, die wir diskutieren müssen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.