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LI 120, Frühjahr 2018

Monument, Stadt, Macht

Die Geschichte des öffentlichen Raums und das Szepter der Souveränität

(…)

Marcel Hénaff: Wovon spricht man, wenn man „öffentlicher Raum“ sagt? Es scheint, daß uns da für gewöhnlich zwei unterschiedliche Begriffe in den Sinn kommen. Entweder man versteht das Wort „Raum“ buchstäblich: dann denkt man an Räume, die allen offenstehen (Straßen, Plätze, aber auch Cafés, Kultstätten, Parks), oder an Dienstleistungen, die für alle erbracht werden (Post, Banken, Rathäuser, Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, Gerichte), oder noch allgemeiner an jedwedes sichtbare Gebäude, unabhängig davon, ob es nun zugänglich ist oder nicht. Es handelt sich also um einen Raum, in dem man sehen und gesehen werden kann, in dem man anderen begegnen und als Person handeln kann; man setzt sich dort aus, um beurteilt zu werden, um geschätzt und anerkannt zu werden oder eben nicht; man ist dort gehalten, Regeln der Höflichkeit, des Verhaltens und der Zurückhaltung zu beachten. Unter diesem Blickwinkel präsentiert sich jede Stadt in allen Zivilisationen als öffentlicher Raum, bei allen Unterschieden hinsichtlich der erwähnten Elemente.
   Es gibt aber auch eine andere Bedeutung des Ausdrucks „öffentlicher Raum“: Dabei geht es um geteilte Meinung, um Informationen, Debatten, Gesetze. Das Wort „Raum“ wird hier bildlich verstanden und bezeichnet ein immaterielles Ensemble von Beziehungen und Gedanken oder auch Institutionen. In diesem übertragenen Sinne bezeichnet der Ausdruck „Raum“ nunmehr das, was wir häufig virtuell nennen. Unter diesem Blickwinkel lassen sich mindestens drei Ebenen ausmachen: 1. die Ebene einer gemeinsamen Meinung, die von den verfügbaren Informationen abhängt; 2. die Ebene einer Debatte zwischen den Meinungen, die von den Kommunikationsmitteln abhängt; 3. die Ebene einer Beratung unter Repräsentanten jener Gruppe, die über die juridische und verfassungsrechtliche Macht verfügt, Gesetze oder Regelungen zu verkünden und sie zur Anwendung zu bringen; das ist die institutionelle Ebene. Diese zweite Bedeutung des Ausdrucks „öffentlicher Raum“ (man spricht auch von „öffentlicher Sphäre“ oder kurz „Öffentlichkeit“), die sich auf die Meinung bezieht, kann mehr oder weniger stark mit der ersten Bedeutung, der Sichtbarkeit, verbunden sein.
   In den Städten der griechischen und römischen Antike war diese Verbindung stark ausgeprägt; in den Städten des Mittleren Ostens, Indiens, Chinas oder des präkolumbischen Amerika war sie nicht oder schwächer ausgeprägt. Diese Unterschiede haben sich mit der weltweiten Verbreitung des westlichen Modells verschärft. Wir stoßen hier erneut auf die Spezifität der europäischen Städte, wie Max Weber sie aufgezeigt hat. Von ihren griechisch-römischen Ursprüngen her waren das typischerweise Stadtstaaten, also eigenständige Einheiten, mit Traditionen hinsichtlich Repräsentation und Beratung, die zu einem Machtsystem demokratischen, vor allem aber oligarchischen Stils führten. Diese Tradition war jedoch untrennbar mit einem Begriff der Stadt verbunden, dem gemäß der urbane Raum in seiner Materialität darauf abzielte, eine institutionelle Ordnung zu vermitteln und zu stärken, die auf geregelter Debatte, Mehrheitsentscheidungen und der Vorherrschaft des Rechts beruht. Die Stadt besteht folglich aus Orten, die dieser Öffentlichkeit als Mittel dienen: Stätten der Zusammenkunft, Versammlungsplätze, Tempel, Orte für öffentliche Spiele – Stadien, Arenen, Theater.

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Marcel Hénaff: In der Tat, denn die heutigen Wolkenkratzer und die meisten Gebäude in den Städten beruhen zweifellos eher auf einer Logik der ökonomischen als der politischen Macht. Das liegt jedoch darin begründet, daß die beiden Logiken tendenziell in der Politik selbst konvergieren. Als Emblem dafür mag das Verhältnis zwischen dem Trump Tower in New York und dem Weißen Haus in Washington dienen. Es hat den Anschein, als habe zwischen ersterem und zweiterem eine feindliche Übernahme stattgefunden. Der Eigentümer des großen kommerziell genutzten Gebäudes okkupiert den Ort der politischen Macht. Der Kapitalismus des entertainment ergreift Besitz vom symbolischen Ort der Souveränität (zumindest vom Sitz der Exekutive). Diese Übernahme der Kontrollmacht hat sich auf legale Weise vollzogen und ist, im Prinzip, keine Bedrohung für die Institutionen. Es gibt jedoch Anlaß zu ernster Sorge hinsichtlich der Art, wie sich der Eigentümer des Wolkenkratzers in jenem die Souveränität der Nation symbolisierenden Monument verhält. Plötzlich wird klarer ersichtlich, was wesentlich mit dem Monument verbunden bleibt: die grundlegende Tatsache, dem öffentlichen Raum anzugehören, welcher der Raum des Gemeinwohls ist, der nicht angeeignet werden kann.
   Was am Ort dieses öffentlichen Raums und der politischen Institutionen getan und gesprochen wird, betrifft die Gemeinschaft, ihre Institutionen, ihr Schicksal; jede private Aneignung dieses öffentlichen Raums ist Tyrannei: So lautete jedenfalls die Definition bei Aristoteles. Das gilt auch noch für unsere Zeit.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.