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Cover Lettre International 136
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Inhaltsverzeichnis

LI 136, Frühjahr 2022

Unerklärliches Felsgebirge

Das Terrain von Roger Rousseau

Im Französischen ist „Terrain“ ein sehr dehnbarer und biegsamer Begriff, der ein Stück Land meint. In der Zusammensetzung mit Besitzkategorien bezeichnet er ein bestimmtes Land als Bauland oder Grundstück. Losgelöst davon bezeichnet er ein unbestimmtes Gelände, ein Feld, ein Gebiet, eine Fläche, die jeweils konkretisiert werden als Spielfeld etwa oder als Terrain von Beauregard. Das Prinzip des Lokalen ist mit dem Begriff „Terrain“ derart eng liiert, daß er in zahllosen Zusammensetzungen zur Bezeichnung eines Platzes für militärische Übungen, Weinbau, Sport, Teststrecken, industrielle Anlagen usw. dient. Im weitesten Sinne unbestimmt bezeichnet „Terrain“ auch den Boden der Erde, deren Beschaffenheit als uneben, trocken, versumpft oder steinig dem Begriff angefügt wird. Schließlich bezeichnet er auch die Brache, die, rein negativ, als das von der Kulturalisierung im Unklaren gelassene Land (terrain vague) bestimmt wird. Obwohl das Terrain seinen Namen der Erde (la terre) entliehen hat, scheint in Anbetracht dieses lexikalischen Befunds kein Weg von einem ausschließlich kulturell kodierten Terrain zur Erde zu führen, die über den Boden hinaus einen Planeten bezeichnet. Es sei denn, man nimmt den Umweg über Beauregard.

AM RANDE EINES WÄLDCHENS
Das Terrain bezeichnet im vorliegenden Fall einen Ort am Waldrand, der zur Gemeinde Beauregard in der Landschaft Quercy gehört. Die Wälder dieser karstigen Hochflächen gleichen nicht den dicht- und hochgewachsenen, oft schier undurchdringlichen Mischwäldern, wie man sie nördlich der Alpen kennt. Im Quercy wachsen auf Lehm-, Kalk- und Sandsteinböden Krüppeleichen, die nur von weitem den Eindruck eines dicht geschlossenen Baumbestandes machen. Vor Ort ergeben die halbhohen, verwachsenen Bäume schüttere, vielfach von Lichteinfällen durchquerte Wälder, unpassierbar nur wegen des niedrigen Gehölzes und der Sträucher auf zahllosen, unregelmäßigen Bodenschwellen.

Am Rande eines solchen Wäldchens, das von Weideland umgeben wird, befindet sich das Terrain von Roger Rousseau. Von den Merkmalen, die das Lexikon für diesen Begriff vorsieht, trifft hier nur das Prinzip des Lokalen zu. Es handelt sich um einen Ort. Ansonsten hat Roger Rousseau hier alles entfernt, was ein Terrain üblicherweise seinen bekannten oder nützlichen Bestimmungen zuführt. Rousseau hat das Terrain der Erdschicht entkleidet. Zutage treten gewaltige, in schwerer, nasser Tonerde lagernde Gesteinsformationen, die von Spalten, Rissen, Verwerfungen durchklüftet sind. Die Tonerde zwischen den Gesteinsfaltungen hat Rousseau ebenfalls entfernt, zumindest so weit, wie dies einem zwischen ihnen hantierenden Körper überhaupt möglich ist. In einigen Metern Tiefe endet seine Bewegung der Entbergung der Steine mit dem immer geringer werdenden Spielraum für die arbeitende Hand mit ihrem Werkzeug und mit dem Übergang des Gesteins in den gewachsenen Felsen. Was vor uns liegt, ist ein Feld von Steinen in unterschiedlichster Größe und Lage. Sedimentgestein, fein wie Papier geschichtet, massige Felsblöcke von gewaltigen Ausmaßen, die meisten von ihnen oben abgeplattet, unten in der massiven Tonerde verschwindend oder aus ihr aufsteigend.

Um das Terrain läuft eine prächtige, begehbare Mauer, die aus Quadern des Bruchkalksteins gefügt ist, der den Zwischenräumen der Felsen entnommen wurde.

Egal ob oder in welchem Umfang vorab informiert, der Anblick dieser Steine und Felsblöcke läßt jedes Gespräch sofort verstummen. Wir schauen im Angesicht ihrer schweigenden Gegenwart und verlieren uns in ihrem Schweigen. Ihre Präsenz, ihre Masse und ihre Zeit sind unbegreiflich. Das Gefühl, etwas ganz Außerordentlichem beizuwohnen, stellt sich ein. Das ist unser Raumschiff. Wann haben wir begonnen, die Erde zu verachten. Unmöglich der Gedanke, ihren Boden besitzen zu können. Unmöglich, Erde als Eigentum zu deklarieren. Die Felsblöcke wurden von Sand und Erde befreit, die sie verdeckten. Kein einziger von ihnen wurde transportiert oder bewegt. Sie waren da schon immer, sie sind schon da. Jetzt sind sie sichtbar geworden und bilden Skulpturen von großer Schönheit. Sie brüskieren jede herkömmliche Vorstellung von Zeit. Ihre fremde Zeitlichkeit erfaßt uns wie ein Dunst, ohne daß sich das Fremde dadurch in etwas Bekanntes verwandelte. Eher daß wir uns in der Berührung mit der Zeit der Steine selbst fremd werden, indem wir ahnen, daß wir schon immer in ihre Zeit eingefaßt sind, daß wir von ihr in jedem Moment erfaßt werden. Wir teilen ein Leben mit diesen Steinen, diesen Formen und Massen. Dieses Leben mag sich jeweils in vollständig anderen Amplituden vollziehen, aber es läßt sich auf keine Alternative von aktivem kreatürlichen Leben und passiver Materie verkürzen. Wie lassen sich Steine oder Felsen in ihrer lebhaften Dimension wahrnehmen, in der wir mit ihnen verbunden sind?

(….)

Die geologischen Zeitskalen, die von der International Commission on Stratigraphy (ICS) erarbeitet und publiziert werden, sind abenteuerlich. Geochronologie rechnet mit Äonen (griechisch „aiṓn“, „Ewigkeit“), von denen es bislang vier gibt, die insgesamt etwa 5 000 Millionen Jahre umfassen. Äonen werden in Ären (lat. „Aera“, „Zeitalter“) unterteilt, mit denen Intervalle von zumeist zwischen 40 und 250 Millionen Jahren bezeichnet werden. Geochronologie unterscheidet sich nur nomenklatorisch von der Chronostratigraphie, die sich auf Alter und Entstehung von Gesteinskörpern stützt und ebenfalls mit Äonen und Ären rechnet, ihre sonstigen, kleineren Unterteilungen jedoch abweichend bezeichnet.

Geologische Zeitskalen überspannen gigantische Zeiträume, die in hierarchisch strukturierte Intervalle unterteilt werden. Die Grenzen der Zeitabschnitte werden mit den Methoden der radiometrischen Datierung ermittelt und mit einem absoluten numerischen Alter belegt. Konventionell wird die Abfolge genau in der Art und Weise dargestellt, wie die Serien der Sedimentgesteine innerhalb eines idealisierten Gesteinsprofils anzutreffen sind: Von unten nach oben aufeinanderfolgend, imitieren diese Darstellungen solide Schichtungen, die auf einem vermeintlich festen Untergrund aufruhen. Alle Hierarchie-Ebenen und Zeitabschnitte werden benannt. Wie man in der Historiographie der Erde Phasen einteilt und wo man Schnitte macht, gehört zu den zentralen Streitpunkten in der internationalen geowissenschaftlichen Gemeinschaft (vgl. etwa die strittige Einführung des Begriffs „Anthropozän“). Man kann aber auch sagen, daß die Hybris der Begriffsbildung kaum irgendwo so exzessiv ausgeprägt auftritt wie im geo-historiographischen Skalieren. Es geht mit dem Unvordenklichen einer res extensa um, von der wir abhängen und die uns überleben wird, selbst wenn oder gerade weil ihre Ewigkeiten gezählt sind. „Mit dem Maßnehmen bringen wir dem, was wir messen, den Tod.“ Dieser Satz von Etel Adnan bleibt auch im Fall jener obsessiven Aufmerksamkeit für mineralische und fossile Materialien wahr, mit denen sich die Geohistoriographie dem Leben einer Welt nichtmenschlicher Vitalität zuwendet.

(…)

Aus Materialflüssen entstehen semistabile Strukturen, Gele, Aerosole, fleischige Gewebe von wirbellosen Lebewesen. Ein Sprung ohne Namen und Datum setzt mit einem „plötzlichen Prozess der Mineralisierung“  ein, in dem mineralische Materialien die Knochenbildung von Lebewesen ermöglichen und damit neue Formen der Bewegungsführung. Wir teilen die Erfolge dieser Mineralisierung mit zahllosen Tierarten bis auf den heutigen Tag. Knochen, Haare, Haut, Zähne, Nägel, Blut usw. benötigen Calcium, Magnesium, Kalium, Natrium, Chlorid, Phosphor usw. Ein Mangel führt zu seltsamen Krankheiten, ein vollständiger Mangel käme dem Tod gleich. Wir können lebende Menschen unter diesem Gesichtspunkt auch als „wandelnde, sprechende Mineralien“ (Bennett) auffassen. Wesentlich ist, daß es sich unter mineralischen Aspekten niemals um Verwandtschaften handeln kann, die Herkunft und Abstammung zu definieren suchen. Eher ist von Serien oder Strukturen auszugehen, die mit dem Muster von Progression und Regression verbunden sind und unterschiedliche, tierische, pflanzliche, elementare, mineralische und molekulare Sequenzen aufweisen. Einige von ihnen sind erfolgreicher als andere. Aber keinesfalls kann es darum gehen, Ähnlichkeiten einzuteilen und zur Ontologie einer Großen Kette des Seins zu formen, als deren Höhe- und Endpunkt der Mensch (im Singular) erscheint. Unter dem Aspekt der Mineralisierung sind mimetische, imitatorische und imaginäre Proportions- und Kettenbildungen unmöglich. Es geht um Blöcke des Werdens, wie Deleuze/Guattari sagen, um Arten des Werdens, die sich nicht im Sichtfeld oder in der Phantasie vollziehen, sondern durch und durch real sind.

Auf der Ebene von Mineralisierung sind wir jenseits von evolutionären Registern, die Arten oder Gattungen unterscheiden, und jenseits von bestimmbaren Beziehungen. Es geht vielmehr um transversale Kommunikationsformen zwischen Umwelten und Populationen, die sich variabel, unbestimmt und „anomisch“  verhalten. Zwischen solchen heterogenen Populationen ergeben sich Beziehungen als Verstrickungen oder Ansteckungen, die sich auf nichts Bestimmtes zurückführen lassen und die keinen bestimmten Abschluß anstreben.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.