LI 107, Winter 2014
Der digitalisierte Alltag
Die unheimliche nächste neue Welle des Internets rollt heranElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Bernhard Schmid
Textauszug: 4.314 von 29.393 Zeichen
Textauszug
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eine Art Singularität haben wir bereits, wenn wir mit Mikrochips versehene Pillen schlucken, die – von der Magensäure aktiviert – unserer elektronischen Krankenakte darüber Bericht erstatten, ob wir uns an die Anordnungen unseres Arztes halten (oder nicht). Dann wäre da die Singularität, zu der es kommt, wenn wir unsere Körper mit „tragbarer Technik“ ausstatten, die Daten über unsere körperliche Aktivität, Herzfrequenz, Atmung und Schlafrhythmus an eine Datenbank in der Cloud funken – oder an unsere Handys und Computer (sowie an Facebook, unsere Versicherung und unseren Arbeitgeber).
Cisco Systems zum Beispiel, wo man bereits knietief in tragbarer Technik steht, arbeitet an einer „the Connected Athlete“ genannten Plattform, die den „Körper des Athleten in ein dezentrales System von Sensoren und vernetzter Intelligenz verwandelt“, was den Athleten über den „bloßen Wettkämpfer“ hinaus „zu einem Wireless Body Area Network oder WBAN“ macht.
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Autos sind mittlerweile mit Sensoren ausgestattet, etwa solche in den Sitzen, welche die Anzahl der Personen im Wagen zählen, ganz zu schweigen von einem Unfalldatenspeicher (Event Data Recorder, EDR), dem Äquivalent zur Black Box bei Flugzeugen. Wie Scoble und Israel in Age of Context berichten, „ist man sich bei der Justiz einig, daß die Polizei Informationen dieser Art von Fahrtenschreibern ebenso wird einfordern können wie heute schon telephonische Verbindungsnachweise“.
Unterdessen sind Autos selbst bereits zu Computern auf Rädern geworden, deren Betriebssysteme per Funk auf den neuesten Stand gebracht werden; außerdem nimmt ihr „Verständnis“ für ihre Halter zu. Scoble und Israel schreiben dazu: „Sie stellen nicht nur Sitzpositionen und Spiegel automatisch ein, sie kennen bald auch Ihre Präferenzen hinsichtlich Musik, Rasthäusern, Restaurants und Hotels … Sie wissen, wenn Sie auf dem Heimweg sind und werden Sie auch bald daran erinnern, wegen des Nachtischs fürs Abendessen noch einen Supermarkt anzusteuern.“
Jüngste Enthüllungen des Journalisten Glenn Greenwald beziffern die Anzahl der Amerikaner, die gegenwärtig vom Staat überwacht werden, auf sagenhafte 1,2 Millionen. Ist das Internet der Dinge erst einmal eingerichtet, könnte sich diese Zahl leicht auf alle ausweiten; schließlich weiß ein System, das einen daran erinnert, den Nachtisch zu kaufen, auch, wer und wo man ist, was man gemacht hat und mit wem. Und wir geben diese Informationen freizügig – oder unwissentlich – heraus, größtenteils jedenfalls ohne Fragen zu stellen oder uns zu beschweren. Wir tauschen sie gegen Bequemlichkeit oder was man dieser Tage für Bequemlichkeit hält.
Da im Internet der Dinge menschliches Verhalten in massivem Umfang aufgezeichnet und kommerziell ausgewertet wird, schafft es die perfekten Bedingungen für die Stärkung und den Ausbau des Überwachungsstaats. Heizung, Kühlschrank, Fitneßgerät, Kreditkarte, Fernseher, Rollos, Waage, Medikamente, Kamera, Herzfrequenzmonitor, elektrische Zahnbürste, Waschmaschine, Telefon – in der Welt des Internets der Dinge erzeugt alles einen endlosen Strom von Daten, der für den, der ihn erzeugt, größtenteils außer Reichweite ist, nicht aber für den, der bereit ist, dafür zu zahlen, oder ihn sonst irgendwie anfordern kann.
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In das Computersystem eines Hauses einzubrechen, um den Kühlschrank Spams verschicken zu lassen, die Ihren E-Mail-Account überfluten, und ein Auto zu hacken, um einen Crash auszulösen, sind natürlich beides ebenso reale wie schreckliche Möglichkeiten. So schlimm sie auch sein mögen, ihre Tragweite ist begrenzt. Je mehr die IdD-Technologie sich in den Bereichen Herstellung, Logistik und auf dem Energiesektor ausbreitet, desto weniger braucht die Zahl der Schwachstellen zu steigen, um die Einsätze in schwindelerregende Höhen zu treiben. In einem Artikel der New York Times schrieb Matthew Weld letztes Jahr:
„Sollte ein Gegner einen K.-o.-Schlag [gegen das Stromnetz] führen (…), so könnte das einen wochenlangen Blackout für weite Teile des Kontinents zur Folge haben; es könnte zu einer Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Benzin, Diesel und frischen Nahrungsmitteln kommen; die Kommunikation könnte zusammenbrechen; es könnte Störungen von einem Ausmaß hervorrufen, wie Hurrikan Sandy und die Anschläge vom 11. September sie gerade mal haben erahnen lassen.“
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