LI 146, Herbst 2024
Kein Ende der Geschichte
Notizen zur ZwischenzeitElementardaten
Textauszug
„Wir erlebeneine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Im Befund einer Zeitenwende überschneiden sich Orientierung und Orientierungslosigkeit. Der Befund konturiert die Gegenwart, indem er einen Bruch registriert, und rückt sie aus dem gewohnten Zusammenhang; was bisher galt, ist durch diesen Bruch außer Kraft gesetzt. Angesichts dieser Zweideutigkeit hängt alles daran, wie das Davor und das Danach gedacht und aufeinander bezogen werden, wie der Bruch verkörpert, die Zeit konfiguriert wird.
Zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist das Kanzlerwort merklich verblaßt. Ein Bruch hat sich ereignet, gewiß. Und doch scheint das Danach, das die Diagnose einleitete, das Davor in vielen Hinsichten zu verlängern. Der registrierte Bruch verbindet sich mit bestehenden Widersprüchen auf gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ebene, deren etablierte Strukturen ohnehin unter hohem Transformationsdruck stehen. Aus dem Befund der Zeitenwende erwachsen ihnen zusätzliche Spannungen; allerdings werden die Handlungsweisen der Rhetorik nicht gerecht.
Offenkundig ist der geschichtliche Einschnitt, der die Bruchlinien zwischen Ost und West mitten in Europa in einen Eroberungskrieg verwandelt, den Moskau gegen das ukrainische Recht auf nationale Selbstbestimmung, eine eigene Geschichte und Sprache führt. Ungewiß ist, ob und wie der geschichtliche Bruch in das Denken und Handeln von Zeitgenossen eingeht. Zumal sich durch den Gaza-Krieg andere, weltweit wirkende Bruchlinien verschärft haben, vor deren Hintergrund der Ukraine-Krieg manchen Beobachtern als innereuropäische Angelegenheit erscheint, was den Befund der Zeitenwende und die ihm zugemessene Bedeutung relativiert.
Der Streit um Bedeutungshierarchien innerhalb der Zeitenwende zeigt aber auch, daß sich die großen Bruchlinien nicht in Mustern globaler Achsen oder gar geographisch verorten und fixieren lassen. Diagnosen eines global divide und einer „Achsendrehung“ liegen im Bereich der „imaginären Topographie“, wie Albrecht Koschorke anmerkt. Als Konstrukte eines unerbittlichen Antagonismus und als Allgemeinplatz sind sie nicht geeignet, eine sich im einzelnen Fall anders und widersprüchlich darstellende Wirklichkeit zu erreichen.
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Zeitenwende, Wendezeit
Wer „Zeitenwende“ sagt, sagt auch „Wendezeit“. Unweigerlich ist der historische Bezug zu jener Wendezeit aufgerufen, die mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 einsetzte und zwei Jahre später, nach dem gescheiterten Moskauer Augustputsch 1991 und dem Rücktritt Gorbatschows in die Auflösung der Sowjetunion mündete. Im Dezember 1991 erklärten die Präsidenten von Rußland, Belarus und der Ukraine die Existenz des völkerrechtlichen Subjekts UdSSR für beendet (Belowescher Vereinbarungen); die vormaligen Sowjetrepubliken unterzeichneten in Alma-Ata den Vertrag zur Auflösung der UdSSR; der Zerfall in 15 unabhängige Staaten wurde im selben Monat vollzogen. Die Auflösung des weltgrößten sozialistischen Staats bewirkte, daß an Stelle des Kalten Kriegs ein hoffnungsvoller Multilateralismus trat. Der Historiker Eric Hobsbawm erklärte das kurze zwanzigste Jahrhundert für beendet.
Unabhängig davon, ob die jüngste Diagnose einer Zeitenwende schlüssig erscheint – wenn man die Aufmerksamkeit auf das Intervall zwischen diesen beiden „Wenden“ richtet, gewinnt man den Eindruck einer zwischenzeitlichen Konfiguration, eines Zeitraums, in dem Enden konstatiert werden, die nicht recht zu Anfängen werden wollen. Der in Georgien lebende Politikwissenschaftler Hans Gutbrod macht für diesen Zeitraum der Übergänge eine Phase geltend, die er von 1991 bis 2014 datiert. In dieser Phase dominierten der Westen und seine multilateralen Institutionen, die auf den Wandel durch Handel setzten sowie die Hoffnung, daß die Leuchtkraft demokratischer Modelle durch Nachahmung von allein eine Transition herbeiführen würden. In ihrem Buch Das Licht, das erlosch haben Ivan Krastev und Stephen Holmes diese Hoffnung mit dem in Mitteleuropa vielerorts herrschenden antiwestlichen Ethos konterkariert. Für Gutbrod endet das politische 20. Jahrhundert am 17. Juli 2014, als ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines MH-17 über der Ostukraine durch von Moskau unterstützte Milizen abgeschossen wurde. Ihre Rakete riß 298 Menschen aus neun Nationen in den Tod. Dieser Abschuß, für den der Kreml nicht zur Verantwortung gezogen wurde, markiere dessen Absage an eine humanitäre Ordnung. Vorausgegangen waren die Annexion der Krim, der Eroberungskrieg in der Ostukraine und Putins Rede von 2005, in der er das Ende der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte. Das multilaterale Bemühen, Rußland in eine internationale Ordnung einzubinden, wurde fortgesetzt, obwohl es schon 2014 obsolet geworden sei. Es habe weitere acht Jahre gedauert, bis im Westen (vollends, halbwegs?) verstanden wurde, wie die Würfel gefallen waren.
Wie auch immer Phasierungen gewählt werden – stets ist Gegenstrebiges eingeschlossen. Nach dem katastrophalen 20. Jahrhundert verhindern es bekannte und unbekannte gegenläufige Tendenzen anscheinend, daß Phasen sich abschließen lassen, sodaß ein Danach einfach nicht eintritt und wir fortwährend in einem zwischenzeitlichen Stadium leben. In welcher Weise genau?
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Antonio Gramsci sprach vom „Interregnum“ als einer Zeit, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“. Wer in einer Zwischenzeit lebt, befindet sich zwischen dem überkommenen Alten und einem fragilen Neuen. Die Crux besteht darin, daß für diejenigen, die diesen Zeitraum bewohnen, die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem selbst undeutlich wird. Die Zwischenzeit fordert das Unterscheidungs- und Orientierungsvermögen ihrer Zeitgenossen heraus. Ein Anzeichen einer solchen Zeit ist der Umstand, daß Dynamik und Statik, Mobilität und Immobilität, Hoffnung und Resignation tendenziell ununterscheidbar werden. Gesellschaftliche Phänomene werden mit gegensätzlichen Bewertungen belegt und zirkulieren unter unvereinbaren Vorzeichen. Diese Krise des Unterscheidungsvermögens ist wohl die auffälligste all jener „unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“, die Gramsci 1930 dem „Interregnum“ bescheinigte. Wenn das Urteilen und Schlußfolgern prekär wird, wird das Erleben von Zeit selbst diffus. In einem solchen Zeitzustand zu leben, bedeutet auch, auf der Lauer zu liegen und jeden Moment auf Zeichen einer neuen Ordnung zu prüfen. So wird die Zwischenzeit zu einem Topos der Sehnsucht danach, daß die Desorientierung im Bunde mit einer Antizipation zum Medium einer Schöpfung werden möge.
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