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Lettre 143 / Wilhelm Sasnal
Preis: 15,00 € inkl. MwSt. 7%
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LI 143, Winter 2023

Was ein Chor vermag

Marta Górnicka & The Chorus of Mothers – A Song for Wartime

Es gibt eine sprachlose Empathie im Entsetzen über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und sein unerträgliches Andauern. Jede Arbeit am Computer wird von aktuellen Nachrichten unterbrochen, die im Liveticker irgendwelcher News-Portale im Hintergrund mitlaufen. Bilder der Verheerung, Verbrechen an der Zivilbevölkerung und Satzfetzen, die sich ins Gedächtnis graben. Über den Krieg reden, die neuesten Infos austauschen, ja, ganz schlimm, und dann ins Schweigen abgleiten, in das innere Archiv, in dem Bruchstücke, Bilder und Worte ungeordnet vor sich hin wabern. Alle, die nicht zu den Liebhabern starker Vereinfachungen gehören, werden an dieser Stelle von einer Sprachlosigkeit eingeholt, die peinigt. Nicht alle können schließlich Gedichte schreiben. Der kindliche Wunsch kommt auf, etwas anderes zu sein als eine Deutsche, so weit entfernt.

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Der Chor von Marta Górnicka versammelt 21 Stimmen von Frauen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind, die von Unterdrückung und politischer Verfolgung in Belarus betroffen sind, die mit ihren Kindern geflohen sind und von Frauen, die sie in Warschau aufgenommen haben. In drei unterschiedlichen Sprachen verbinden sich Frauen unterschiedlicher Generationen, im Alter von neun bis 71 Jahren, zu einem großartigen Chor.

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Der Chor ist ein singuläres Lebewesen, das in jeder Beziehung angewiesen ist auf diejenigen, durch die er sich jeweils bildet. Er ist angewiesen auf ihre Eigenarten, ihre Geschichten, ihre Ängste, ihre Wut, ihre Liebe und ihre Sehnsüchte. Er ist abhängig von ihren Stimmen und Körpern und hat abseits von diesen keine Existenz. Nur wenn man den Chor als dieses abhängige Wesen wahrnimmt und in seiner Abhängigkeit zugleich seine ganze Fragilität begreift, wird die Herstellung eines Chors gelingen, der sich auf die Einzelnen stützt, so daß diese ihn wiederum als ihr Stützwerk hervorbringen. Es ist ein Prozeß der Montage im weitesten Sinn, in der das Genaue mehr zählt als Schönheit oder Ausdruck. Letztere ergeben sich viel eher, als daß sie hergestellt werden könnten. Sie resultieren aus einer Genauigkeit, die in jeder einzelnen Positionierung, Bewegung, stimmlichen Entfaltung und Klangfarbe das Werden des Chors zu registrieren in der Lage ist. Sie resultieren aus dem Konzept einer Regie, die eher beobachtet und aufnimmt, als daß sie anordnet. Eine Regie, die mit dem Chorwerden mitgeht und sich seinem Werden rückhaltlos zur Verfügung stellt. Eine Choreographie, die Frauen nicht einfach auf eine Bühne stellt, sondern durch sie hindurch und mit ihnen eine Bühne formt. Es entsteht so ein Chor, für den es kein Muster gibt. Er geht mit einem Wahrnehmungsparadox einher und läßt sich daran erkennen: Man sieht jede Einzelne und den Chor. 

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Górnickas Chor versammelt ihre Stimmen und macht sie öffentlich. Im Chor werden die Stimmen der Frauen nicht einfach nur hörbar wie in jenen Reportagen, die Betroffene zu Wort kommen lassen, die schon bei der nächsten Berichterstattung wieder vergessen sind. In Górnickas Chor werden die Stimmen der Frauen öffentlich im Sinn des griechischen Terminus polis. Górnicka definiert die öffentliche Stimme als political voice. Das Sprechen des Politischen, der öffentlichen Angelegenheit, ist etwas anderes als das Sprechen von politischen Anliegen oder Interessen, das die Rede von Politikern ausmacht. Das Sprechen des Politischen fügt einer Öffentlichkeit, in der Abwehrmechanismen aller Art wirksam sind und Sprache in jeglicher Hinsicht manipuliert wird, Öffentlichkeit hinzu. Frauen, die mit ihren Kindern vor Bombenangriffen, Gewalt und politischer Verfolgung geflohen sind, die ein Exil erfahren und im Exil überleben, befinden sich zweifelsohne in einer politischen Situation, nur daß diese, bis auf besagte Reportagen über Betroffene, ohne Sprache bleibt und nicht zum Gegenstand einer Rede mit öffentlicher Wirkung wird. Ihre Situation des Exils erlangt eine Wirkung im Sinn des Politischen erst im Chor und dank seiner Vielstimmigkeit. Mothers – A Song for Wartime handelt von den Schrecken, die der Krieg für Überlebende bereithält, von den Ritualen der Kriegsgewalt gegen Frauen und Zivilisten, von Vergewaltigungen als Mittel des Kriegs, der sich dadurch unauslöschlich in Körper und Biographien frißt, von den Rollen und Lasten, die der Krieg den Frauen seit jeher zuschreibt und davon, wie sie dazu stehen. Es geht um Abwehrmechanismen, die der Krieg in den sogenannten Unbeteiligten aktiviert, um Verteidigungsmechanismen, Verantwortung und, nicht zuletzt, um unsere Reaktion auf diesen Krieg in Europa. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.