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Cover Lettre International 48, Philip Rantzer
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Inhaltsverzeichnis

LI 48, Frühjahr 2000

Die Sonne und der Tod

Über mentale Gitterstäbe, Erregungslogik und Posthumanismus sowie über die Unheimlichkeit des Menschen bei sich selbst

(...) Hans-Jürgen Heinrichs: Wenn wir versuchen, von der Turbulenz der Menschenpark-Debatte jetzt noch einen Schritt weiter zurückzutreten: Was l äßt sich an ihr in bezug auf die historische Situation und die innere Verfassung unserer Gesellschaft und ihrer Kulturverfassung ablesen? Ich denke, wir sollten unsere oben begonnene Subtext-Analyse noch ein Stück vorantreiben und fragen, worin das bisher Ungesagte und Ungesehene der Affaire liegt.

Peter Sloterdijk: Mir scheint, daß sich in der medialen Abwicklung der Menschenpark-Debatte etwas ganz Entscheidendes über Aufmerksamkeitsproduktion in der Massenkultur lernen ließ, zumindest ist es mir selbst so gegangen. So gesehen würde ich jedem Soziologen und jedem Philosophen, der wissen möchte, wie die soziale Konstruktion von Wirklichkeit außerhalb von Fachzeitschriften geschieht, wünschen, daß er einmal die Erfahrung machen dürfte, zum Gegenstand eines nationalen Skandals zu werden. Ich habe in diesen Monaten mehr über die Funktionsweise unserer Öffentlichkeit gelernt als in meinem ganzen übrigen Leben. Nun, vielleicht übertreibe ich da ein wenig, aber die Erfahrung als solche ist mit Wertpapieren und Doktorhüten nicht aufzuwiegen. Ich erwachte eines Morgens und fand mich selbst berüchtigt. Was ist da passiert? Welchen Spaß haben sich der Emeritus, die Medien und das Schicksal mit mir erlaubt, als sie beschlossen, einen eher marginalen, eher in seiner Arbeit vergrabenen Intellektuellen zu skandalisieren? Ich denke, man muß selber einmal in einem solchen Kessel gewesen sein, um zu verstehen, worum es bei Vorgängen wie diesen eigentlich geht. Für mich ist dieses Erlebnis ein empirischer Beweis dafür, daß es in der Moderne auch noch in einem ganz anderen Sinn als Nietzsche dachte, zu einer Wiederholung der Antike unter zeitgenössischen Pseudonymen gekommen ist. Man sieht von der Moderne wie von der Antike nicht genug, wenn man nur die Hochebene des Streits zwischen den anciens und den modernes in Literatur und bildender Kunst ins Auge faßt. Denn auch unterhalb der offiziellen und sublimen Traditionen, unterhalb der Gymnasiumantike gibt es Renaissancen, über die man mehr denn je eine querelle führen müßte – und zwar Wiedergeburten von der dunkelsten Art. Auch die römisch-antike Massenkultur hat sich als eine renaissancefähige Größe erwiesen – das ist die Lektion, die man aus dem 20. Jahrhundert in zivilisationshistorischer Sicht ziehen muß. Die frühe Kritische Theorie hatte schon einige Intuitionen in dieser Richtung entwickelt, und nicht umsonst hat sie den Begriff Kulturindustrie von einem Kenner der römischen Kunstgeschichte, Alois Riegl, übernommen, der sich mit Kulturmassenware, Vasen, Haushaltsgegenständen, Wandbildern, Grabschmuck et cetera aus der Römerzeit befaßt hatte. Aber diese Intuitionen stoßen nicht zum Entscheidenden durch. Die Mitte der römischen Kulturindustrie waren grausame Circus-Bilder, man könnte sagen, ihr Hauptartikel waren snuff movies life. Man hat nicht genug darauf geachtet, daß das stärkste Symbol und Medium der antiken Massenkultur, nämlich die römische Arena, in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts wiedergekehrt ist, und zwar sowohl als architektonische wie als theatralische Form. Wenn es neben unseren Altphilologen auch Altgymnologen oder Altgladiosophen gäbe, dann wüßte man über das Drama, das sich im Lauf des 20. Jahrhunderts vollzogen hat, wohl etwas mehr, leider gibt es nur Sportlehrer und Journalisten, die meistens keine Ahnung haben von den Spielen, in denen sie engagiert sind. Man muß eher Nietzsche noch einmal lesen, und Paul Veyne, und Gunther Gebauer, sowie Literatur zur römischen Arena, zur Fußballgeschichte und zu den Olympischen Spielen der Neuzeit, um dann die Informationen zu einem Bild zusammenzusetzen – das allerdings ziemlich bestürzend ausfällt.

Die wichtigste Subtextdimension, die in den Medienskandalen des letzten Jahrzehnts mitschwingt, spricht von der Wiederkehr der Arena in den Unterhaltungsmedien der nachchristlichen Gesellschaft. Die Römer hatten, ausgehend von den Schwertkämpferspielen, die ursprünglich im etruskischen Begräbnisritual ihren Ort gehabt hatten, schon um 100 v. Chr. so eine Art von theatralischer Protokulturindustrie aufgebaut. In der Kaiserzeit expandiert das System zu einem förmlichen Europapokal der Bestialität, in dem die Landesmeister unter den Totschlägern aus aller Herren Länder und in allen Waffengattungen rings um das Mittelmeer involviert waren. Man hatte längst das Ritual primitivästhetisch weiterentwickelt zum Unterhaltungsduell und zum faszinatorischen Blutsport. Der Bezug zum einstigen Begräbnisritus lag zuletzt nur noch darin, daß es der unverhohlene Sinn der Spiele war, die Verlierer auf der Sandbahn ins Jenseits zu schicken. Mythische Überhöhungsversuche waren in den Eröffnungs- und Abschlußritualen zwar immer noch zu sehen, aber sie bedeuteten so gut wie nichts mehr. Faktisch war eine Umwandlung vom Ritual zum nackten Massaker in Gang gebracht, und auf dieser Funktionsebene haben sich die Spiele 500 Jahre lang mit ungeheurem Erfolg gehalten – das ist zivilisationsgeschichtlich einzigartig, das Unterhaltungsmassaker als Langzeitinstitution. Dies geschah im übrigen unter zunehmendem Einsatz von seltenen großen Tieren, deren Abschlachtung man als Kampfspektakel aufmachte – ein direkter Ausläufer der römischen Venationen oder Tierhetzen hat in Spanien bis heute überlebt. Man könnte dieses System mit guten Gründen als einen Protofaschismus bezeichnen – und man hätte bei dieser Sprachregelung zudem den Vorteil, von vorneherein den Akzent darauf gesetzt zu haben, daß zwischen vulgärer Massenunterhaltungund faschistischer Gewaltlenkung und Ressentimentbündelung ein e videnter innerer Zusammenhang besteht. Sozialpsychologen haben allerdings die Hypothese vorgebracht, die Gewalt in den Arenen hätte die Gewalt in der übrigen Gesellschaft gebunden – eine sehr prekäre Annahme gerade dann, wenn sie zuträfe, denn aus ihr würde folgen, daß quasi nur ein Ventilfaschismus den Realfaschismus psychopolitisch bändigen könnte. Dies gäbe dem Ausdruck Energiepolitik eine ziemlich pikante Nebenbedeutung.

Nun muß man auf folgenden Zusammenhang achten: Unsere Zivilisation besitzt in den Parlamenten, den Nachrichtensystemen und den Sportarenen, um nur diese drei zu nennen, ein System von Unterscheidungen oder Diskretionen, die das Funktionieren der modernen Massengesellschaft in halbwegs beruhigten Formen garantieren. Aber es gibt einen sozialen Ausnahmezustand, in dem zwischen den getrennten Feldern die Grenzen verschwinden, so daß mit einem Mal die soziale Fusion, die Totalisierung durch die Krise möglich wird. Dieser Ausnahmezustand heißt bei uns der Skandal oder die Affaire. Affairen und Skandale sind dramatische Entdifferenzierungen der Gesellschaft, in denen mit einem Mal alle über alles alles sagen können. Das Parlament wird Arena, die Arena wird Nachrichtenmedium, das Nachrichtenmedium wird Parlament – die totale Krise hebt die Trennung der Funktionsbereiche auf. Man genießt diesen festlichen Ausnahmezustand, wenn auch ein wenig mit schlechtem Gewissen, und deswegen soll man diesen Walpurgisnächten der Empörung nur Leute opfern, denen man tatsächlich irgendwelche Fehler nachsagen kann. Das Führungselement bei der Fusion ist die Arenafunktion, das heißt die Versammlung der Präsenzmasse angesichts des allen gleichzeitig vor Augen gestellten Spektakels.

Was die Arena eigentlich ist, nämlich eine Erregungs- und Fusionsmaschine für die Massenkultur, das können die Modernen nur wissen, nachdem sie sich selber hineinbegeben haben, aber nicht als Zuschauer, sondern als Kämpfer – das letztere geschieht, sobald man eine öffentliche Person wird, ein Politiker, ein Medienstar, ein Skandalobjekt oder ein Spitzensportler. Die Kämpferposition ist dewegen so informativ, weil man die Arenamitte betritt und von dort aus die entscheidende Information mitnimmt: daß die Tribüne rundum völlig aussichtslos geschlossen ist und daß nur der Kampferfolg darüber entscheidet, ob und wie man aus dem Kessel herauskommt – eine Frage, die sich für die Leute auf den Rängen in der Regel nicht stellt, weil es von ihnen keiner weit hat zum Ausgang. Was meinen Fall anbelangt, so muß man bedenken, daß das Fanfarensignal zum Beginn der Spiele von Medien ausgegangen ist, die sich angeblich der Kritik und der bürgerlichen Wachsamkeit verschrieben haben, von der Zeit und vom Spiegel. Man könnte geradezu glauben, daß das kritische Bewußtsein auf die Formel ludi et circenses umgestellt hat. Aber ich will damit nicht sagen, es gebe keine Kritik mehr, im Gegenteil, doch ich weiß jetzt, daß Kritik vor allem als Widerstand gegen den neurömischen Feuilletonzirkus ausgeübt werden muß, ich denke vor allem an den bewundernswerten Artikel von Antje Vollmer Die Ritter der Übermoral in der FAZ und an Klaus Podaks Intervention in der SZ, es gab auch eine Anzahl anderer Publizisten, die den Mißbrauch der Öffentlichkeit in der Affaire begriffen hatten, ich nenne aber bewußt keine weiteren Namen.

Wenn man den Subtext solcher Vorgänge entziffern will, so sollte man darauf achten, daß der Stand der europäischen Kultur sich nicht zuletzt daran ablesen läßt, wie in einer Epoche die Antike wiederverwendet wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist unsere Beziehung zum römischen Präzendenzfall ganz dramatisch. Erinnern wir uns, in karolingischer Zeit hat die religiöse fränkische Monarchie zuerst gewisse römische Bauformen wie die Basilika wiederholt, das 16. Jahrhundert wiederholt die Villa, im 17. und 18. Jahrhundert kommen auch die gräzisierenden Formen wieder herauf, der Tempel, die Wandelhalle, dem folgt ein halb absolutistischer, halb bürgerlicher Gebrauch des Amphitheaters, zuerst für Hoftheater, dann für die Sitzordnung der neuen Parlamente und die Universitätshörsäle. Die antike Form, deren Wiederholung am längsten auf sich hat warten lassen, war die Arena, das neue Sportstadion, der tödliche Zirkus. Diese soziale Raum- und Versammlungsidee erlebt erst im 20. Jahrhundert eine Wiederkehr, aber dann sofort in epidemischen und explosiven Formen, ohne Zweifel deswegen, wie das römische Rundtheater die suggestivste Raumformel für die Bedürfnisse der wiedererstandenen Massenkultur liefert. Das Stadion ist die pure Neoantike an ihrem dunklen Grenzwert. Es ist die Kultstätte des Fatalismus als der eigentlichen Religion der Massen. Von ihm her ist auch die neue Massenzivilisation am schlüssigsten zu denken. In der antiken Ernstfallarena waren die Zuschauer anwesend, um zu sehen, wie das Blut floß, wenn Sieger den Fuß auf die Verlierer stellten, in der modernen Arena haben sich dagegen ritualisierte Spielformen der unblutigen Unterscheidung zwischen Siegern und Verlierern durchgesetzt. Dadurch konnte der sogenannte Sport, was Belustigung bedeutet, in den Fokus der Massenaufmerksamkeit kommen. Aber wenn die Gesellschaft sich entdifferenziert, im Skandal, in der Affaire, dann springt d ie Arenafunktion auf die Massenmedien über, die bei der Menschenjagd auch im Realen bekanntlich nicht zimperlich sind. Dann bildet die durchmediatisierte Gesellschaft ein einziges Stadion, in dem man gierig, blasiert und amüsiert die Venation beobachtet. Und von jedem, den es trifft, kann man wahrheitsgemäß sagen, er ist ja nicht der erste.

In meinen Augen ist die Clinton-Lewinsky- Affaire ein Bruchpunkt in der neueren Medien- und Zivilisationsgeschichte, weil spätestens von diesem Moment an niemand mehr wird behaupten dürfen, er hätte es nicht gewußt. Mit der globalisierten Medientreibjagd auf den US-Präsidenten und seine kleine Freundin ist eine Schwelle überschritten worden, von der man hätte annehmen wollen, daß sie unter Menschen, die auch nur noch die geringsten zivilisatorischen Hemmungen kennen, unmöglich mißachtet werden könnte. Ich denke, daß angesichts dieser Dammbrüche für die Faschismustheorie der Zukunft und für den konkreten Widerstand gegen die erneute schleichende Umwandlung der Demokratie in die Arenagesellschaft alles noch zu tun bleibt.

Versuchen wir, im Rückblick auf dieses Gespäch das Thema der Menschenpark-Rede noch einmal auf den kritischen Punkt zu bringen. Sie beginnen eine philosophisch-literarische Reflexion über die Potentiale der Barbarei inmitten der Zivilisation und ihre Eindämmung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage akut geworden: Wie steht der Mensch zu sich selbst, wenn er sich im Spiegel gentechnologischer Praxis anschaut? Aber auch im Spiegel der modernen Chirurgie und verwandter Praktiken. Ich denke da an die Praxis der Organ-Implantation, an das Einsetzen von Herzschrittmachern und zahllose prothetische Techniken. Das stellt eine anthropologische Umstrukturierung dar, einerseits eine Art Selbstkolonisierung und Selbstentfremdung, andererseits eine Chance und eine Ausdehnung des Lebendigen über seine bisherigen Grenzen hinaus. Diese Praxis ist eigentlich per se ein Skandal, weil sie vom Menschen extreme Selbstverdinglichungen verlangt im Austausch gegen die erstaunliche Erweiterung von Spielräumen. Das Unheimliche kommt uns in diesen Techniken unmittelbar nahe. Man fragt sich unwillkürlich: Kann dieses Unheimliche ins Barbarische übergehen? Ist es nicht schon dieses selbst? Da diese Techniken den meisten Menschen nicht direkt zugänglich oder verfügbar sind, wird ihr Protest und ihr Befremden an denen ausgetragen, die den Wandlungsvorgang benennen und artikulieren oder nachstellen, wie manche Künstler es in Performances tun. Oder an Romanciers wie Michel Houellebecq, der in Frankreich zum Objekt der heftigsten Aggressionen geworden ist. Also würden Künstler und Philosophen und Schriftsteller so zu Projektionsflächen für Aggression, Wut und Trauer, die an den anonym ablaufenden Prozessen nicht direkt ausagiert werden können. Sind Sie soweit mit dieser Deutung einverstanden?

Sie ist sicher eine gültige Teilinterpretation für einen Aspekt der Affaire. Die drei Schlüsselworte der Basler-Elmauer Rede heißen Lichtung, Domestikation, Anthropotechnik, doch hat von diesen Ausdrücken bisher nur einer, der letzte, den Weg zum Publikum gefunden. Er hat gewirkt wie eine Hagelrakete, die ein Gewitter zum abregnen gebracht hat. Ich könnte mir schon vorstellen, daß in manchen Reaktionen so etwas wie eine hilflose Verbitterung über die Thematik und die Realität, die in ihr bezeichnet ist, zum Ausdruck gekommen ist. Dafür spricht, daß in manchen Voten der Vorwurf zu hören wahr, ich hätte zwar nur allzu reale Probleme berührt, aber vergessen, mich moralisch von den erwähnten Unheimlichkeiten zu distanzieren.

Man hat im Gegenteil unterstellt, Sie hätten einer Menschenzüchtung auf der Linie platonischer Elitekonzepte das Wort geredet. Wer den Text liest, braucht über diese Absurdität nicht weiter zu reden. Was aber bleibt, zumindest bei einigen, ist die Einsicht, daß eine neue anthropologische Selbstverständigung auf der Tagesordnung steht. Der Mensch, so scheinen Sie im Anschluß an gewisse Wendungen von Heidegger zu fordern, sollte nicht definiert werden, bevor man nicht tiefer über ihn nachgedacht hat als die metaphysische, die humanistische Tradition es konnte. In diesem Sinn geht es Ihnen meines Erachtens vordringlich nicht um ein wissenschaftliches oder moralisches Problem, sondern um die Frage des angemessenen Hörens, des Anhörens und Zuhörens, des Andenkens und Bedenkens, um Anthropo-Poesie, um die Hervorbringung des Menschen, um sein Zur-Welt-Kommen, seine Menschwerdung.

Ja, auch das sind angemessene Angaben für die Richtung, in die ich ziele oder gehe. Mein Vortrag ist, wie gesagt, nicht umsonst als ein Antwortschreiben auf Heideggers Humanismus-Brief angelegt. Ich ging, als ich ihn schrieb, davon aus, daß in diesem Text die Frage nach dem Menschenwesen noch immer bis zu einem Grad vorausgedacht ist, daß man bei ihm anschließen sollte, wenn man auf der Linie von Existenz- und Menschenfragen weitermachen will – was heute im übrigen eher eine minoritäre Position ist, die smarten Intellektuellen haben inzwischen das Thema Mensch als eine überholte Theoriefigur abgeschrieben.

Mein Interesse an Heideggers Vorgaben wird besonders durch die pastoralen Formulierungen geweckt, für die der Humanismus-Brief berühmt ist, nicht zuletzt bei denen, die sich darüber mokieren. Nun ja, was um alles in der Welt sind Hirten des Seins? Was sind Hüter, was sind Nachbarn in bezug auf dieses seltsame Abstraktum? Soviel ist klar, daß Heideggers Pastoral- Diskurs eminent ethisch ist, weil durch ihn eine besondere Form von Verhaltenheit, von Sammlung, von Bescheidenheit, von Hinhören, von Vorbereiten gefordert wird, man könnte fast von einem Katalog ontologischer Sekundärtugenden sprechen, man fühlt sich fast ermahnt, sich zu verhalten wie eine von den fünf klugen Jungfrauen aus Matthäus 25, die ihre Lampen am Brennen hielten, bis der Bräutigam eintraf. Bereitsein für Seinszuspruch ist alles.

Aber mit dieser Ethik der Verhaltenheit hat es nun doch eine eigenartige Bewandtnis. Heideggers Verständnis des Hirt-Seins ist sicher aus zwei Quellen gespeist: vom Bild des christlichen guten Hirten, der für seine Schafe alles tut, und von bukolisch-bäuerlichen Hüterbuben-Metaphern. Da hat man es mit relativ schwachen und untechnischen Rollen zu tun, denn Heideggers Hirt, das ist sehr wichtig, ist eigentlich kein Könner von diesem und jenem, sein einziges Vermögen besteht darin, daß er gut wach sein kann und merkt, was bei der Herde los ist. Es macht einen Teil des Zaubers von Heideggers Metaphern aus, daß sie ein scheinbares Nichtstun, das hütende Handeln als eine Höchstmöglichkeit des Daseins auszeichnen, und ich bin sicher, daß dies ein Grund ist, warum nicht wenige Schüler aus dem Osten den Weg nach Freiburg und Todtnauberg gefunden haben.

Was tun die Heideggerschen Hirten eigentlich? Sie wachen, das heißt sie tun das Ihre dazu, daß die Welt ganz Welt sein kann, und sonst nichts. Dem liegt die spirituelle Regel zugrunde, daß wenig viel ist, während viel so gut wie gar nichts ist, solange der Vieltuer nur ein rasender Schläfer bleibt, der aus der aktivistischen Hypnose nie erwacht. Zu diesen Heideggerschen Hinweisen, die aus der Weisheitstradition kommen und auch zumeist wieder in ihr verklingen, habe ich nun eine zusätzliche Beobachtung angebracht, die sein Hüterbild selbst noch einmal affiziert oder modifiziert. Ich sage, in der Lichtung sitzen leider nicht nur stille Hirten und gelassene Hüter herum. Man muß zur Kenntnis nehmen, daß es zwei Pastoralen gibt, eine idyllische und eine unheimliche – kulturgeschichtlich gesprochen eine bäuerliche und eine hirtennomadische. Diese Differenz hat der Berliner Philosoph Thomas Macho, von dem man noch nicht genug wahrgenommen hat, daß in seinem Werk ein neues Paradigma philosophischer Kulturgeschichte sich abzeichnet, kürzlich in einem Aufsatz unter dem Titel "Lust auf Fleisch?" scharf herausgestellt. Man kann da lernen, daß es den guten und den bösen Hirten gibt, den agrarischen Viehhalter und den nomadischen Viehzüchter. Nun, während Heidegger wie gesagt an der christlichen und bäuerlichen Semantik anknüpft, habe ich mir erlaubt, an die hirtennomadische Imago des bösen und unheimlichen Hirten zu erinnern. Auch dies ist Subtext, den man doch explizit machen machen muß. In der Agrarhirtentradition macht es durchaus Sinn, das Zusammensein von Hirt und Tier im Zeichen der Gelassenheit, also eines ganz untechnischen Offenseins fürs Anwesende, zu charakterisieren. Allenfalls muß dieser Hirt dafür sorgen, daß kein Tier verlorengeht. Ganz anders beim hirtennomadischen Typus, denn dieser spekuliert gewissermaßen von Anfang an mit den Fortpflanzungsprozessen se iner Herden, und dies aus einem Grund, den man angeben kann: Er will von ihr genau das, was man mit einem Kuchen angeblich nicht kann, nämlich ihn sowohl haben als auch essen. Die Hirten sind Fleischesser durch und durch, folglich hüten sie ihre Herden nicht nur, sondern überwachen und steuern ihre Fortpflanzung im höchstmöglichen Ausmaß, so daß sie ständig Tierüberschüsse zum Verzehren erhalten. Diese Hirten also tragen nicht das Merkmal Gelassenheit an sich, sondern das Merkmal Tierverwertung. Sie sind Züchter und eo ipso Biotechniker, wenn auch auf einer schlichten Stufe. Sie manipulieren die Lebensprozesse von Anfang an. Sieht man aber näher zu, dann erkennt man, daß auch schon die bäuerliche Existenz den Lebensprozessen keineswegs nur in der Haltung untechnischer Betreuung beiwohnt, sondern daß auch in ihr Lebensmanipulationen grundlegend sind, allerdings eher in bezug auf die pflanzliche Welt.

So gesehen ist auch in der Lichtung viel mehr im Gang als nur ein stilles Hüten dessen, was von sich her ist. Gleich ob es Bauern oder Viehzüchterkulturen sind, die hier agieren, eine gewisse Prototechnik des Zugreifens auf Lebensprozesse ist in beiden Formen immer schon gegeben. Züchten heißt, Fortpflanzungschancen ungleich verteilen, also aufziehen und bevorzugen, nach Kriterien, die vom menschlichen Vorteil abgelesen werden.

Das Dilemma der Modernen besteht eigentlich darin, daß sie wie Pflanzenesser denken und wie Fleischesser leben. Deswegen laufen Ethik und Technik bei uns nicht parallel. Wir wollen so gut sein wie die guten Hirten, aber so gut leben wie die bösen Hirten, die für ihre Schlachtfeste und ihre lebensverschwendenden Prassereien nachteilhaft berühmt sind. Man sollte, um diesem Thema näher zu kommen, ein Buch von Jeremy Rifkin wiederlesen: Das Imperium der Rinder , in dem der monströse Parallelismus zwischen Menschheitsgeschichte und Großviehgeschichte und seine letzte Perversion im zeitgenössischen Fleischkapitalismus eklatant entwikkelt wird.

Mit der modernen Gentechnik nimmt der Begriff Züchten eine Bedeutung an, die mit der Tradition überhaupt nichts mehr zu tun hat, denn hier gibt es das Problem der Zwischengenerationen nicht mehr, die nur als Mittel für eine spätere Generation mit den gewünschten Zieleigenschaften verbraucht würde. Die Idee der genetischen Konstruktion impliziert ja den direkten Zugang zum Resultat, ohne Umweg über die mittleren Generationen, und damit fällt auch das anstößigste Moment der alten Züchtungspraxis weg, das Eliminieren der nichtgewünschten Exemplare. Das mag bei Obstbäumen und Rosen noch angehen, bei Tieren ist es schon problematisch, beim Menschen wäre es ein Horror außerhalb jeglicher Debatte. Man muß kein Kantianer sein, um zu verstehen, daß Menschen nicht Mittel sein dürfen, schon gar nicht Mittelglieder in einer Züchtungssequenz, sondern daß sie in jeder Lebenslage, in jeder Kultur und in jeder Zeit ihren Daseinszweck in sich selber tragen. Damit ist im übrigen schon angedeutet, warum unsere Kultur, sowie sie anfängt, evolutionistisch, naturalistisch, futuristisch zu denken, sich auf der schiefen Ebene befindet, weil zum Evolutionismus per se die Versuchung gehört, eine gegebene Generation zu entwürdigen und zu relativieren im Hinblick auf das, was eine nächste erreicht haben wird. Darum hatte der alte Leopold von Ranke so ganz unrecht nicht, als er meinte, der Begriff der Entwicklung sei eine Beleidigung der menschlichen Würde. An der Idee der Menschenwürde ist nur festzuhalten, wenn jede Zeit unmittelbar zu Gott ist und wenn jede Epoche als eine Realisationsfigur des Ewigen gilt. Wollten wir diesen Gedanken aufheben und die Evolution absolut setzen, dann verstricken wir uns in einen unheilbaren Zynismus gegenüber jeder Vergangenheit und Gegenwart, weil das Leben in beiden Zeitstufen wenig bedeutet gegenüber dem, was die sogenannte Höherentwicklung der Spaeteren erreicht haben wird.

Man versteht jetzt besser, was Sie meinen, wenn Sie sagen, daß man über die Heideggersche Infragestellung des Humanismus noch hinausgehen muß. Der Humanismus ist in allen seinen Varianten ein von Philosophen, von Predigern, von Ideologen und Kolumnisten je nach Bedarf, mal so oder so, benutztes Programm, das konnte man nach der Erfahrung des 20. Jahrhunderts wissen. Ich möchte eine letzte Frage in bezug auf das so schwierig gewordene Thema von Menschenwürde und Technik stellen, nachdem die Prozeduren der Menschenproduktion jetzt bis an den biologischen Kern herankommen. In der christlichen Tradition haben Menschen Würde als Geschöpfe oder Ebenbilder Gottes, was wird aus dieser Würde, wenn Menschen an Menschen gentechnisch herumpfuschen? Sie haben dieses Problem in einer öffentlichen Diskussion einmal in der Weise berührt, daß Sie ein Pfuschverbot aufgestellt sehen wollten, etwa in der Form eines gentechnischen Moratoriums. Das drückt aber, wenn ich recht sehe, die Vorstellung aus, daß die Menschen aufs Ganze gesehen schon das Recht haben sollen, Nachbesserungen an ihrer natürlichen Kondition vorzunehmen, sofern solche Maßnahmen sinnvoll zu verantworten sind.

Ich fürchte, wir haben uns das Schwierigste für den Schluß aufgehoben und werden es nicht angemessen zu Ende diskutieren. Soviel vielleicht, um die Komplikationen anzudeuten, die vor uns liegen. In der christlichen Haupttradition wird Gott als ein Schöpfer vorgestellt, bei dem Wollen und Können eins sind. Deswegen muß Gott, bevor er beginnt, keine Schöpfungsfolgenabschätzungskommission anhören. Er darf sich geradewegs ausdrücken und gibt seine Vollkommenheit an das Geschaffene linear weiter, ohne daß er ein Pfuschproblem fürchten müßte, das bei jedem schwächeren Urheber sofort hereinspielen würde. Gegen das vollkommene Werk eines vollkommenen Urhebers gibt es keine Reklamation und braucht es keine zu geben. Auf der Linie der platonischen Ontologie tritt derselbe Gedanke als das Axiom "alles Seiende ist gut" auf. Die Autoren der biblischen Genesis und Plato hatten je auf ihre Weise das Interesse gemeinsam, mit einer Optimal- und Maximaltheologie anzufangen, um alle anderen mythischen Kosmo- und Theogonien auszuschalten. Zwischen dem 2. und dem 4. Jahrhundert nach Christus fingen Menschen an, über das Schöpfer- und Demiurgentum aus einer ganz anderen Interessenlage heraus nachzudenken. Jetzt kommt die Idee eines Gottes auf, bei dem Können und Wollen nicht mehr eins sind, also die Vorstellung eines zweitklassigen Urhebers. Seither sind die Gedanken der Europäer in bezug auf den ersten Macher gespalten in solche, die die Optimalität der Schöpfung verteidigen, und solche, die meinen,daß die Schöpfung ein Ergebnis aus unzureichendem Können ist und daß daher Nachbesserungen legitim sind. Wir stehen auch inmitten der modernen Ingenieurskulturen in der Sukzession einer Theologie des Machens, die seit jeher von einer gewissen gnostischen Unterströmung unterspült ist, und haben deswegen nicht nur heile und helle Empfindungen in bezug auf Machertum – weder auf göt tliches noch auf menschliches.

Mir scheint, im Augenblick spielen wir eine spätantike Szene auf der modernen Bühne nach. Die eine Menschheitsfraktion tritt dabei als der Macher auf und die andere rebelliert dagegen. Die Differenz zwischen Schöpfergott und Erlösergott wiederholt sich in der Differenz zwischen Machermensch und – ja wie sollen wir den anderen nennen, vielleicht Hütermensch oder Heideggermensch, Schonungsmensch? Aber das sind nur die Extrempositionen. Bei der großen Mehrheit drückt sich das Unbehagen an der Demiurgie in der Weise aus, daß die Menschen sagen, wenn schon geschaffen werden muß oder soll, dann bitte nur auf der Grundlage von wirklich gekonntem Können; wir können nicht zulassen, daß an uns weiter herumgepfuscht wird.

Vor Jahren saß ich einmal auf einem Podium mit Pinchas Lapide, der eine merkwürdige paragnostische Anekdote erzählte von einem Rabbi aus dem spätantiken Judentum. Dieser nicht ganz talmudtreue Theologe soll gelehrt haben, daß Gott 27 Mal vergeblich versucht hat, die Schöpfung ins Leben zu rufen, und erst beim 28. Mal sei es ihm gelungen, eine Welt hervorzubringen, die hielt. Kurzum, die Menschen haben das Pfuschproblem viel früher entdeckt, als man gemeinhin annimmt, und zwar auch in seiner ontologischen Form. Unter der Decke des katholischen Schöpfungsoptimismus, der sich mit dem platonischen Bonitätsvorurteil gegenüber allem Seienden zu beiderseitigem Vorteil vermischt hat, verbirgt sich eine Unterströmung an dissidenter Ontologie, in der man den Machern mißtraut und ihnen nicht von vornherein Gelingen unterstellt. Das zwingt die Macher um so mehr, zu beweisen, daß sie können, was sie können.

Ein letztes Wort über die Technikfurcht in unserer Kultur. Alle Technik ist bisher kontranatural gewesen, weil sie Prinzipien eingesetzt hat, die in der Natur so nicht vorkommen, zum Beispiel den Schnitt der klaren Messerklinge, die reine Rotation des Rades, die Flugbahn des Pfeils, der vom Bogen schnellt, die Knotenkunst und so weiter. Technik war über Jahrtausende hinweg meistens Allotechnik, das heißt auf gegennatürlichen Funktionen und Geometrien aufgebaute Mechanik. Allotechnische Maschinen sieht man auf den ersten Blick an, daß sie Maschinen und keine Naturen sind. Jetzt ist zum ersten Mal die Schwelle erreicht, wo die Technik anfängt, eine naturähnliche Technik zu werden – Homöotechnik statt Allotechnik. Sie bricht nicht mehr so sehr mit dem modus operandi der Natur, sondern knüpft jetzt an, sie lehnt sich an, sie kooperiert, sie schleust sich ein in Eigenproduktionen des Lebendigen, die aufgrund evolutionärer Erfolgsmuster im Gang sind. Da beginnt eine neue, aber ebenfalls unheimliche Kooperation und Symbiose mit der alten Natur. Das Stichwort heißt organische Konstruktion.

Vielleicht ist das, was ich hier Homöotechnik nenne, nichts anderes als das, was in der Kabbala vorausgeträumt worden ist. Sie stellte bekanntlich einen Versuch dar, die skripturalen Prozeduren Gottes aufzufinden und nachzuahmen. Den Kabbalisten war klar, daß Gott kein Humanist ist, sondern ein Informatiker. Er schreibt keine Texte, sondern er schreibt die Codes. Wer wie Gott schreiben könnte, der würde dem Konzept von Schrift eine Bedeutung geben, wie sie kein menschlicher Schreiber bisher verstand. Genetiker und Informatiker schreiben anders. Auch in diesem Sinn hat eine posthumanistische Ära begonnen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.