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Cover Lettre International 84, Florian Süssmayr
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LI 84, Frühjahr 2009

Das Ende von Niemalsland

(...) Die drei Staatsbanken Islands wurden Anfang 2000 privatisiert, und die Republik gab es als Hypothek dazu. Diese Hypothek wurde als solide betrachtet, die steigenden Zinssätze (heute 18 Prozent) lockten, und die Banken erwarben gewaltige Vermögenswerte. Die Banken wurden zehnmal größer als die isländische Wirtschaft. Als internationalen Bankern erste Zweifel kamen, griffen die Isländer mit „genialen“ Programmen, wie Sigurjón Árnason, der Direktor der Landsbanki, ihr Icesave-Angebot nannte, nach europäischen privaten Ersparnissen: „Ich muß nur noch täglich nachschauen, wieviel Geld reingekommen ist“, sagt er 2006 lachend in einem Interview, nimmt den Telefonhörer ab und sagt gleich darauf: „50 Millionen Pfund sind reingekommen, allein letzten Freitag!“ Unsere geliebten Wikinger schnappten sich das Geld, hauten ab und ließen den Staat auf Auslandsschulden von 20 Milliarden Euro sitzen. Bei 300.000 Einwohnern sind das 70.000 Euro pro Person. Das geht nicht.

In Island kennt man sich mit Schulden aus. Hausbesitz ist gesellschaftliche Norm, so daß die meisten schon mit Anfang zwanzig hoch verschuldet sind. Bevor sie dreißig sind, haben die meisten ein Studiendarlehen bezogen, ein Grundstücksdarlehen, ein „Autodarlehen“, sind auf VISA-Karte gereist und haben mit einem überzogenen Konto ein Kind aufgezogen. Da das Land seine eigene Währung hat, die króna (ISK), besteht kein großer Unterschied zwischen diesem Schuldensystem und den sogenannten „Trucksystemen“, bei denen ein Arbeiter Waren bei der Firma kauft, für die er arbeitet. Seine Arbeit und sein Verbrauch werden in einem einzigen Debet- und Kreditbuch festgehalten, wobei der Arbeiter wenig oder gar kein „echtes“ Geld für seine Arbeit sieht. Junge Leute beherzigten den Rat ihrer Eltern und nahmen für die stark überhöhten Immobilien mit ihren Londoner Preisen bis zu hundert Prozent der Kaufsumme auf. Viele dieser Leute sind jetzt am Ende. Der Immobilienmarkt ist zusammengebrochen, die hoch belasteten Wohnungen sind unverkäuflich geworden. Da die Darlehen an den Lebenshaltungskostenindex gekoppelt sind, wachsen die Schulden bei einer Inflation buchstäblich an: Eine junge Frau, die vor fünf Jahren 24 Millionen ISK (gleich 165.000 Euro) aufgenommen hat, um eine Wohnung zu kaufen, und ihre steigenden Monatsraten immer ordentlich bezahlt hat, schuldet der Bank jetzt für dasselbe Darlehen 30 Millionen ISK (über 200.000 Euro). Der Fachbegriff dafür ist price insurance, aber in unserem Jargon heißt das „Höllenmaschine“. Reist man nach Island, sieht die Mondlandschaft auf dem Weg zum Flughafen wie Lava aus – aber man lasse sich nicht täuschen: Es sind ausgehärtete Schulden.

Die meisten Bürger des Landes sind verschuldet, aber genaue Statistiken sind schwer zu finden. Margaret Thatchers Diktum „Etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht“ wurde von Politikern sehr ernst genommen, und während Oddssons Regierungszeit wurden Institute, deren Aufgabe die Beobachtung der Gesellschaft war, diszipliniert und zum Schweigen gebracht oder gleich ganz geschlossen. Als das Nationale Wirtschaftsinstitut wiederholt unbequeme Ergebnisse veröffentlichte, peitschte Oddsson ein Gesetz durch den Parlamentomat, mit dem dieses Institut abgeschafft wurde. Dann übertrug er dessen Rolle auf die Zentralbank und machte sich Jahre später selbst zu ihrem Präsidenten. Daher existieren Schlüsselwerte wie der internationale Gini-Index, mit dem die Ungleichheit bei der Verteilung von Reichtum gemessen wird, für Island nicht.

Einige Jahre lang, von der Massenprivatisierung Anfang 2000 bis Oktober 2008, konnte man in Reykjavíks Cafés auf Gymnasiasten treffen, die locker über Wechselkurse und die Vorzüge von Leerverkäufen plauderten. Doch diese kleine linguistische Gemeinschaft kennt offenbar immer nur eine Denkrichtung. Nichtfinanzielles Vokabular darf verkümmern. „Die stets gegenwärtige Gefahr zu sterben gestattete keine Sprache, die sich auf Gesten beschränkt“, sagte Rousseau über das Entstehen der Sprache im Norden: „Und die ersten Worte waren dort nicht ,Liebe mich‘, sondern ,Hilf mir‘.“ Zugegeben, es gibt kein isländisches Wort für „Geste“, was einige peinliche Momente in unseren auswärtigen Beziehungen erklärt. Der isländische Begriff für „Hegemonie“ kann auch „Regierung“ oder „Kinderfürsorge“ bedeuten. Die kürzlich geprägte Übersetzung für „Struktur“ wirkt noch immer gezwungen. Dieser konzeptionelle Mangel erfährt Unterstützung durch die offizielle Sprachpolitik, deren Ziel seit dem 19. Jahrhundert „Reinigung“ ist. Redet man über Politik, sucht man Zuflucht in Metaphern aus den Bereichen Fischerei und Landwirtschaft. In der BBC-Sendung HARDtalk wiederholte der ehemalige Premierminister Geir Haarde die verbreitete meteorologische Analyse der Ereignisse vom letzten Herbst: „Wir waren mitten in einem Hurrikan. Einem globalen Finanzhurrikan. Unser Bankensystem und die Mittel unserer Regierung waren nicht stark genug, um dem Sturm zu trotzen. Das kam von diesem Hurrikan.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.