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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Die pervertierte Gabe

Tugend, Heuchelei und Nihilismus. Zu einer Anthropologie der Korruption

Es gibt viele Formen der Korruption, sie ist ein vielköpfiges Wesen. (Insofern paßt die Metapher der Hydra sehr gut zu ihr.) Einige dieser Formen seien hier genannt: Obstruktion, Erpressung, Untreue, Dokumentenfälschung, Amtspflichtverletzung, Käuflichkeit, übermäßige Gebührenerhebung, Einschüchterung. Es gibt auch gewisse übergeordnete Gattungen der Korruption: Klientelismus, Nepotismus, Günstlingswirtschaft, Lobbyismus. Die Liste ist offen und erweiterbar. Es ist bemerkenswert, daß wir beim Wort „Korruption“ sogleich an die erwähnten Praktiken denken, während es im allgemeinen Sprachgebrauch wie vom lateinischen Wortursprung her auch andere Bedeutungen gibt, die entweder die natürliche Welt betreffen (corruptio im Sinne der Fäulnis einer Frucht oder eines übelriechenden Organismus) oder die Welt der Artefakte (corruptio als Beschädigung eines – eben „korrumpierten“ – Textkorpus oder eines Produkts). Daß wir bei Nennung des Wortes „Korruption“ zunächst an fehlgeleitetes menschliches Handeln denken, liegt nahe, denn es bezeichnet einen Sachverhalt, der uns sehr beschäftigt und zutiefst beunruhigt. Wir haben es mit einem umfassenden Problem zu tun, und zahlreiche Denker haben sich darüber den Kopf zerbrochen, wie die ethischen Grundlagen einer Welt auszusehen hätten, die von dieser Geißel befreit wäre.

(...)

Ein Blick auf die Weltkarte des oben zitierten Korruptionswahrnehmungsindexes scheint nahezulegen, daß es sich um eine Karte der öffentlichen Tugend handelt, die von skandinavischen und angelsächsischen Ländern dominiert wird. Es sind jedoch dieselben Länder, in denen der Neokapitalismus seine aggressivsten Formen erfand und den Finanzmärkten die raffiniertesten Mittel an die Hand gab (wie die Derivate zum Beispiel), um unter Umgehung jeglicher Reglementierung und Besteuerung riesige Gewinne zu generieren. Und was soll man etwa zum Lobbysystem der USA sagen, wo man völlig legal Millionen von Dollar in die Wahlkampagnen von politischen Parteien investieren kann, um die Gesetzesentscheidungen der Abgeordneten zu beeinflussen? Erklärt man, wenn man derlei Methoden legalisiert, nicht gerade das für tugendhaft, was in den schlechter plazierten Ländern als „Korruption“ bezeichnet wird? Welches der beiden Systeme ist korrupter? Die Weltkarte der Tugend könnte, zumindest in Teilen, auch eine Weltkarte der Heuchelei sein. Denn wie soll man entscheiden, was eine größere Korruption oder schlimmere Ungerechtigkeit darstellt: das diskrete Geschenk, das ein in einem Netz von ineinandergreifenden Erpressungen verstrickter kleiner Beamter eines afrikanischen oder nahöstlichen Landes annimmt, oder die Milliarden von Dollar, die – zumindest im Falle bestimmter Investitionsarten – ohne jede Kontrolle zwischen den großen Börsenmärkten der globalisierten Finanzwelt hin und her wandern und, wie 2008 geschehen, ganze Länder ruinieren können? Dies sind auch die dunklen Kanäle, in welche das gewaltige Kapital der Finanzmafia fließt. Die in der Dritten Welt grassierende Korruption ist eine Mischung aus Traditionen, verbunden mit Formen der Gegenseitigkeit, wirtschaftlichem Elend und fehlenden administrativen Ordnungsrahmen. Die Korruption in den entwickelten Ländern hingegen, der Praktiken der Gegenseitigkeit im übrigen keineswegs unbekannt sind, achtet vor allem darauf, ihren Mißbräuchen einen legalen Anstrich zu geben und sie zu vertuschen; was aber noch schlimmer ist: Sie ist zutiefst nihilistisch und vor allem von Herrschsucht und Habgier erfüllt.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.