LI 52, Frühjahr 2001
Die Aura der Gewalt
Die „Rote Armee Fraktion” als Entmischungsprodukt der Studentenbewegung - Erinnerungen, Interpretationen, HypothesenElementardaten
Textauszug
Jörg Herrmann Sie schreiben in Ihrem neuen Buch: "1968 ist ebenso nah wie fern." Wie nah 1968 und insbesondere die Gewaltdiskurse jener Jahre wieder kommen können, haben die jüngsten Debatten gezeigt. Dabei ging es auch um das Verhältnis der Studentenbewegung und ihrer Ausläufer zur "Rote Armee Fraktion" (RAF). Der Ereigniszusammenhang, für den das Kürzel 1968 steht, ist offenbar noch längst kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Insbesondere die Stellung zu den damaligen Gewaltdiskursen, die in der RAF ihre radikalste Zuspitzung fanden, birgt nach wie vor Konfliktstoff. Sie selbst waren 1968 zwanzig Jahre alt. Andreas Baader war 25. Sie haben die damaligen Geschehnisse, so könnte man sagen, aus der Perspektive eines jüngeren Bruders der Achtundsechziger verfolgt. Wie sehen Sie die RAF im Rückblick?
Wolfgang Kraushaar Für mich ist die RAF das bedrückendste Erbe aus der damaligen APO und Studentenbewegung. Bedrückend, weil es auch um politische Morde geht, um Ereignisse, die nicht mehr revidierbar sind.
Im Blick auf ihre Genese ist die RAF zwar ein genuines Produkt der damaligen Studentenrevolte, andererseits aber ist sie kein Pars pro toto, und es können auch nicht diejenigen, die am Ende der sechziger Jahre auf die Straßen gegangen sind, als eine Art Kollektiv für die Taten der RAF in Haftung genommen werden. Aber die Idee einer Stadtguerilla in der Bundesrepublik und West-Berlin ist im "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) geboren worden. Die theoretischen Wurzeln der RAF lassen sich insofern auf die Studentenbewegung zurückführen. Praktisch jedoch ist die RAF ein radikales Entmischungsprodukt der auseinandergefallenen Studentenbewegung. Man muß auf diesen politischen und historischen Gesamtzusammenhang rekurrieren, um die RAF überhaupt verstehen zu können. Sie ist nicht begreifbar ohne das, was in der Studenten- und Jugendbewegung am Ende der sechziger Jahre gewollt worden ist – was in ihrem linksradikalen Kern jedoch bereits damals gescheitert war.
Wo sehen Sie die Kontinuitäten, wenn Sie sagen, man könne zeigen, daß die Wurzeln der RAF in der Studentenbewegung liegen? Wie ließen sich die Stationen des Gewaltdiskurses beschreiben?
Zunächst gilt es festzuhalten, daß Gewalterfahrungen zentral für die Entstehung der Studentenrevolte waren. An erster Stelle ist der Tod Benno Ohnesorgs zu nennen, der im Juni 1967 als völlig Unschuldiger bei einer Demonstration erschossen worden ist. Das zweite einschneidende Gewaltereignis war das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 und die Osterunruhen als Reaktion auf dieses Attentat, die Versuche, die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern. Für mich ist die Gewaltdebatte, die 1967 eingesetzt hat, gleichzeitig auch immer ein Indiz für ein bestimmtes Versagen der Politik gewesen. Wo die üblichen politischen Formen nicht mehr wirklich griffen, wurde begonnen, entweder über Gewalt zu diskutieren oder durch gewalttätige Aktionen neue Zusammenhänge künstlich zu situieren. Ein Beispiel war die sogenannte "Schlacht am Tegeler Weg" im November 1968 in Berlin. Diese "Schlacht" wurde als "Offensive der Gegengewalt" verstanden. Im Rahmen einer Demonstration anläßlich des Prozesses gegen Horst Mahler hat man Polizeiketten angegriffen. Man wollte auf der Straße Stärke demonstrieren. Diese Offensive hat sicher mit mehreren schweren politischen Niederlagen zu tun, vor allem dem Scheitern der Kampagne gegen die Notstandsgesetze. Der Staat erschien nun umso autoritärer und faschistoider. Dadurch war die Hemmschwelle für Gewaltaktionen erheblich herabgesetzt. Im Anschluß an die "Schlacht am Tegeler Weg" hat es eine Riesendebatte über die Legitimität militanter Gewalt gegeben. Da haben sich eine Reihe von Leuten von dieser Form von Gewalt im Zusammenhang mit Demonstrationen verabschiedet. Es ist bereits damals deutlich geworden, daß diese Ereignisse insofern ein Krisenphänomen markierten, als die eigentliche Studentenbewegung in Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits auseinandergefallen war und man begann, über Gewaltaktionen neue Bindekräfte zu schaffen. Denn eine derartige Kohäsionskraft fehlte seinerzeit. Der verbindende Kampf um die Verhinderung der Notstandsgesetzgebung – das war das primäre innenpolitische Ziel neben der Kampagne gegen den Springer-Konzern – war im Mai 1968 verloren worden. Danach begann der Zerfall und eine Transformation in die unterschiedlichsten Gruppierungen und Organisationen. In diesem Zusammenhang entstand letztlich auch die RAF.
Ich glaube, daß beim Gewaltdiskurs nicht nur die Tatsache entscheidend war, daß es im Fall von Benno Ohnesorg zu einem Todesopfer gekommen war und es beim Attentat auf Rudi Dutschke um Leben oder Tod der Ikone der Studentenbewegung ging, sondern daß man die verschiedenen Räume sehen muß, in denen diese Debatten initiiert worden sind. Das eine ist natürlich der Bezug der bundesdeutschen Wirklichkeit der sechziger Jahre zur NS-Vergangenheit. Wenn man das nicht im Auge hat, versteht man diesen Diskurs überhaupt nicht. Das andere ist die globale Dimension des Gewaltphänomens im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg und der Forderung des antiimperialistischen Kampfes. Diese beiden Bezüge verdeutlichen, in welcher Konstellation sich diejenigen begriffen, die bereit waren, die Grenzen der Legalität zu überschreiten.
Die damalige Zeit Ende der sechziger Jahre war eine Zeit der Gewalt und der Frustration zugleich, besonders das Jahr 1968. Und zwar in globaler Hinsicht. Ich denke an den Vietnamkrieg, die Ermordung Martin Luther Kings und die Verfolgung der Black-Panther-Bewegung in den USA, das Attentat auf Rudi Dutschke, das Scheitern der Kampagne gegen die Notstandsgesetze, die Erschießung von Hunderten von Demonstrierenden in Mexiko-Stadt, der Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag, der Beginn des Irland-Konfliktes, die Gewaltherrschaft der Militärdiktatur in Griechenland. Die weltweite Gesamtatmosphäre war gekennzeichnet durch Gewalthandlungen, vor allem durch Akte der Staatsgewalt gegen Oppositionelle. Dies alles führte zu einer starken Aufladung. Hinzu kamen die zerstörten Hoffnungen, die Enttäuschung über das Scheitern politischen Engagements ("Prager Frühling", Antinotstandskampagne). Wie würden Sie die Bedeutung dieses internationalen Kontextes im Blick auf den Gewaltdiskurs im SDS und auch in anderen Teilen der 68er-Bewegung einschätzen?
Die damalige Globalisierung der Gewalt war eine grundlegende Voraussetzung für die politischen Diskurse, vor allem zwischen 1967 und 1970. Entscheidend war sicher der Vietnamkrieg. Man könnte in diesem Zusammenhang sagen, daß es eine Verknüpfung zwischen dem Vietnamkrieg und der "Frontstadt West-Berlin" gab. Die Freiheit des Westens sollte in Berlin verteidigt werden. So lauteten jedenfalls die Schlagzeilen in der Presse. Insofern ist es vielleicht auch kein Zufall, daß die RAF nicht in der Bundesrepublik, sondern in West-Berlin gegründet worden ist. West-Berlin war auf jeden Fall ein lokaler Kulminationspunkt globaler Konfliktlinien. Es hatte eine besonders hervorgehobene Bedeutung. Auch führende SDSler wie Rudi Dutschke und Bernd Rabehl sahen West-Berlin in einer zweifachen Perspektive: zum einen in einem globalen Kontext revolutionärer Kämpfe, zum anderen als Ausgangspunkt für die im Rahmen dieser Umsturzprozesse eröffnete Möglichkeit der Wiedervereinigung Deutschlands. Zentral für diese Verschränkung von Globalität und Lokalität war die Vorstellung, daß die Kämpfe der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt durch Kämpfe von oppositionellen Bewegungen in den Metropolen ergänzt werden müßten. Man begriff sich in einem derartigen internationalen Koordinatensystem. Dazu gehörten übrigens nicht zuletzt die Dekolonisationsprozesse in Afrika. Diese Kontexte waren neben Vietnam ein wesentliches Anknüpfungsfeld für die Studentenbewegung. Ohne diesen Hintergrund an Kämpfen, die ja erst wenige Jahre zuvor stattgefunden hatten, und die damit verbundene Erfahrung der Diskreditierung westlicher Staaten, wären die Zuspitzungen des Gewaltdiskurses bis hin zur RAF so nicht möglich gewesen.
Gibt es im Blick auf diesen Diskurs weitere herausgehobene Daten? Kann man sagen, wie und vom wem erstmalig Gewalt als Mittel der Politik in die SDS-Debatte eingeführt wurde?
Das entscheidende Jahr war 1967. Wobei insgesamt für die Bundesrepublik 1967 vermutlich das wichtigere Jahr gewesen ist als 1968, weil im Frühjahr 1968 in gewisser Weise beinahe alles schon wieder vorüber war. 1967 hat es eine Debatte über Gewalt gegen Sachen kontra Gewalt gegen Personen gegeben, also den Versuch einer Limitierung der Gewaltanwendung. Das zugespitzteste Beispiel dieser Debatten ist die SDS- Delegiertenkonferenz im September 1967 in Frankfurt – als nämlich Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl das "Organisationsreferat" gehalten haben. Darin ist zum ersten Mal der Begriff "Stadtguerilla" verwendet worden. Es ging um den Vorschlag, mit dem Selbstverständnis von sozialistischen Intellektuellen, die nur einer Partei oder Organisation zugehörig sind, zu brechen und die Organisierung statt dessen in einem existentiell sehr aufgeladenen Sinne zu verstehen und die Möglichkeit der Gewaltanwendung dabei von vornherein mit einzubeziehen. Dafür war die Focustheorie Che Guevaras ganz maßgeblich. Das war kurz vor dem Tod Guevaras, der ja einen Monat später in Bolivien erschossen worden ist. Dutschke und Krahl wollten den Hochschulverband radikalisieren und zu einer auch international kooperationsfähigen revolutionären Avantgarde machen. Es war klar, daß nicht der gesamte SDS diesen Schritt nachvollziehen würde. Erst zwei Jahre später, nämlich 1969, zeichnete sich ab, welche Teile bereit waren, einen solchen Weg zu gehen. Mit anderen Worten: 1967 sind diese Ideen, die zur Stadtguerilla geführt haben, bereits geboren worden. Sie sind insofern nicht von vornherein ein Krisensymptom der auseinanderfallenden Studentenbewegung gewesen, sondern bereits auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte, nämlich im frühen Herbst 1967, artikuliert worden.
Es war eine radikale Spitze, die schon auf dem Höhepunkt des Prozesses auftrat und die später eine gewisse Renaissance erfuhr.
Und dann erst zum Tragen kam. Das entscheidende Jahr dieser Entwicklung ist sicherlich 1969 gewesen. 1969 ist insofern schillernd, als es eine Art prismatischer Brechung all dessen war, was in den Jahren 1967 und 1968 eine Rolle gespielt hatte. In der Zeit zuvor waren die integrativen Kräfte sehr viel stärker. 1969 kamen die desintegrativen Kräfte zum Zuge, und das Ganze flog auseinander. Die Septemberstreiks 1969 im Ruhrgebiet haben dann die vermeintliche Legitimation zur Gründung von ML-Organisationen, den späteren Parteisekten, noch unterstützt.
Noch einmal zu diesem "Organisationsreferat". Darin findet eine bemerkenswerte Radikalisierung ihren Niederschlag. Hintergrund ist die Diagnose, daß die Massen die Schemata der Herrschaft so weit verinnerlicht haben, daß sie gar nicht in der Lage sind, Widerstand zu leisten. Der staatliche Machtapparat erschien wie ein erratischer, immunisierter Block. Nur durch neue Formen des politischen Kampfes sei dem noch beizukommen. Als eine solche Form propagierten Dutschke und Krahl das von Guevara inspirierte Stadtguerilla-Konzept. Allein auf diesem Wege noch könne ein Bewußtseinsprozeß zur Ausweitung des oppositionellen Potentials initiiert werden. Gewaltaktionen als Mittel der Bewußtseinskonstitution. Nun haben Sie diese Position in einer Analyse doch wieder deutlich von dem, was die RAF gewollt hat, unterschieden – bei aller Nähe. Die RAF habe es letztlich nicht auf Bewußtseinskonstitution abgesehen. Diese scharfe Abgrenzung leuchtet mir nicht recht ein. Meines Erachtens hat sich auch die RAF, in ihren Anfängen und den ersten Programmschriften jedenfalls, als Katalysator zur Auslösung revolutionärer Bewußtseinsprozesse verstanden.
Die Frage ist berechtigt. Sie wird noch unterstrichen, wenn man an das Credo der RAF denkt: "Wir werfen die Bomben auch in das Bewußtsein der Massen." Darin kommt ja zum Ausdruck, daß es nicht einfach nur um eine militärische Logik gehen sollte, sondern zugleich auch um die Aufsprengung eines blokkierten Bewußtseins. Diese Sätze waren jedoch vor allem plakativ und hatten keine rechte Rückbindung. Ich glaube dennoch, daß das Organisationsreferat einen anderen Status hatte und daß man nicht sagen kann, die RAF habe sich unmittelbar in der Tradition dieses Referates bewegt. Dutschke und Krahl ging es um die Transformation eines Studentenverbandes zu einem revolutionären Kampfverband. Sie sahen aufgrund neuer ökonomischer Gesamtbedingungen die Möglichkeit, die Focustheorie in etwas abgewandelter Form von Lateinamerika auf Europa zu übertragen. Danach sollte der Land- Guerilla eine Stadt-Guerilla an die Seite gestellt werden. Den Unterschied zur späteren RAF sehe ich vor allem darin, daß die Dialektik von Aktion und Bewußtseinskonstitution als graduell abgestufter Prozeß betrachtet wurde, daß das Kriterium für Gewaltaktionen die Entwicklung des politischen Gesamtprozesses war. Das kann ich so bei der RAF nicht sehen. Es gab zwar den globalen Begründungszusammenhang "Antiimperialismus", aber es fehlte an Reflexion darüber, was die jeweiligen Taten und Aktionen in der konkreten politischen Landschaft der Bundesrepublik hätten bedeuten sollen. Man hat sich nicht darum geschert, was das innenpolitisch bedeutete, was das auslöste. Der in dem Wort "Fraktion" enthaltene Anspruch, sich als Teil eines größeren Zusammenhangs zu verstehen, wurde nicht eingelöst. Es gab keine Einbindung in irgendeine Form von Gegenöffentlichkeit oder Kontroversen innerhalb der Bewegung. Man erfuhr von den Aktionen aus den Medien. Das alles war einer Diskussion weitgehend entzogen.
Ein nicht unwichtiger Aspekt des Gewaltdiskurses der damaligen Zeit waren die intellektuellen Legitimationen von Gegengewalt, die Intellektuelle wie Sartre und Marcuse lieferten. Marcuse hat sich ja auch mit der Studentenbewegung solidarisiert und hat unter anderem im Juli 1967, aus Berkeley eingeflogen, in der Freien Universität Berlin zum Thema "Das Problem der Gewalt in der Opposition" mit Studierenden und Lehrenden diskutiert. Welche Rolle hat Marcuse im Kontext des Gewaltdiskurses damals gespielt? Wie sind die europäisch-amerikanischen Legitimationskontexte gegenüber dem starken Einfluß der Focustheorie zu gewichten? Auch nach Sartre wäre hier zu fragen. Immerhin hat er ja Andreas Baader in Stammheim besucht.
Herbert Marcuses Aufsatz über die "repressive Toleranz" ist 1965 herausgekommen und basiert auf der Erfahrung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Marcuse geht von der These aus, daß unterdrückte Minderheiten ein "Naturrecht auf Widerstand" haben. Und daß die Gewaltanwendung von seiten solcher Minderheiten nicht als Setzung von Gewalt zu verstehen sei, sondern ganz im Gegenteil als Versuch, die Gewaltspirale gerade zu durchbrechen. Die Legitimation von Gewaltanwendung wird von Marcuse also mit einer Initiative zur Abschaffung von Gewalt verknüpft. Marcuse ist dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit von Journalisten zu diesem neuralgischen Punkt befragt worden. Nach dem Motto: Da gibt es jemanden aus der Frankfurter Schule, der Gewalt legitimiert. Das ging bis hin zu der Frage, ob Marcuse nicht indirekt auch für die RAF verantwortlich sei. Das ist blanker Unsinn. Gleichwohl sind diese Zusammenhänge komplizierter, als sie zunächst scheinen. Man kann zum Beispiel nachweisen, daß Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt für die Gründergeneration der RAF eine gewisse Rolle gespielt hat. Ein früherer SDS-Funktionär hat mir geschildert, wie er Gudrun Ensslin 1968 oder 1969 in Frankfurt im Gefängnis besucht hat, um ihr diesen Aufsatz zu geben und mit ihr darüber zu diskutieren. Der Text zirkulierte dann auch im Knast. Es geht darin um eine Inanspruchnahme revolutionärer Gewalt nach dem syndikalistischen Modell Sorels. Es hat also im Vorstadium der RAF durchaus den Versuch gegeben, an theoretische Legitimationen revolutionärer Gewalt bei einem frühen Autor der Kritischen Theorie anzuknüpfen. Dieses Thema spielte dann später im Rahmen der Auseinandersetzung um den Deutschen Herbst im Bundestag noch einmal eine Rolle. Und zwar in der Form der absurden Frage, ob nicht Jürgen Habermas für die RAF- Gewalt mitverantwortlich sei. Das Gegenteil ist der Fall. Kein anderer hat so frühzeitig wie Habermas — schon auf dem Hannoveraner Kongreß anläßlich der Beerdigung von Benno Ohnesorg — vor voluntaristischer Gewalt, wie sie besonders in den Aktionsvorschlägen von Rudi Dutschke anklang, gewarnt. Und er hat den SDS schon viel früher, auf der Delegiertenkonferenz 1962, auf die mögliche Alternative Untergrund oder Engagement in einer sozialistischen Partei hingewiesen.
Welche Rolle spielt dann später der Besuch von Sartre in Stammheim? Damit hat er der RAF symbolisch fast höhere philosophische Weihen erteilt.
Ich glaube, daß es sich bei dem Besuch um ein tragisches Ereignis gehandelt hat. Tragisch insofern, als Sartre sich zum Wortführer einer Angelegenheit gemacht hat oder hat machen lassen, die er nicht wirklich durchschauen konnte. Dabei spielen auch die ansonsten in Rechnung zu stellenden Übertragungsprobleme zwischen französischer und deutscher Kultur und Geschichte eine nicht unerhebliche Rolle. Was sich Mitte der siebziger Jahre in der Bundesrepublik abgespielt hat, war nicht zuletzt eine Projektionsleinwand für manche Ideen linker Intellektueller in Frankreich. Maßgeblich für das Zustandekommen dieses Besuchs von Sartre war vermutlich Daniel Cohn-Bendit. Wichtig war auch der damalige Anwalt und spätere Stasi-Informant Klaus Croissant, der Sartre bei dem Besuch in Baaders Zelle begleitet hat. Nicht uninteressant ist es, auch den Chauffeur des Besuchs zu nennen, nämlich den späteren OPEC-Attentäter Hans-Joachim Klein. Der Hintergrund war wohl, daß Sartre geglaubt hat, in der RAF eine Gruppierung sehen zu können, die so etwas wie eine Résistance in der Bundesrepublik nachholen würde. Der Besuch fand 1974 in einer ganz dramatischen Phase während eines Hungerstreiks von RAF-Häftlingen statt, in der man befürchten mußte, daß ein Gefangener nach dem anderen sterben könnte. Da ist Sartre in gewisser Weise vor den Karren gespannt worden. Wenn ich die Zeichen richtig deute, hat er das auch im nachhinein bedauert. Er hat jedenfalls nicht mehr durch weitere Erklärungen an seinen Besuch anzuknüpfen versucht. Das ist ein einmaliger Akt gewesen. Darin kann man vielleicht eine nachträgliche Relativierung dieses Besuchs erblicken. Dennoch ist es natürlich ein ganz signifikanter Akt gewesen, daß der Philosoph der Freiheit, der Protagonist eines existentialistisch aufgeladenen Freiheitsbegriffs vor dem Hintergrund der Résistance-Erfahrung, in der damaligen Situation die Galionsfigur der RAF im Knast in Stuttgart-Stammheim besucht hat. Das ist von realer und zugleich von großer symbolischer Bedeutung gewesen.
Das Stichwort Résistance verweist auf die Legitimationsfunktion, die die NS-Vergangenheit für die RAF, aber auch für die Studentenbewegung und die damaligen Gewaltdiskurse insgesamt hatte. Die NS-Vergangenheit war dabei für die Achtundsechziger in einem mehrfachen Sinne präsent: als Geschichte, in der Familie und im politischen Gegenwartskontext. Es kam also zu einer einzigartigen Bündelung und Kumulation von Faktoren. Die Generationsrevolte war mit erheblichen moralischen Zusatzenergien aufgeladen. Vater und Mutter waren nicht nur verkalkte Adenauer-Spießer, sondern standen zugleich unter Mordverdacht. Und man war geneigt, diesen Verdacht bestätigt zu sehen. Denn es wurde nicht gesprochen, nichts erzählt. In den Erzählungen der eigenen Biographie gegenüber den eigenen Kindern blieb oftmals eine Leerstelle, hinter der man Grauenhaftes vermuten konnte. Hinzu kam der Faschismusverdacht gegenüber dem Staat Bundesrepublik und seinen politischen Bündnispartnern. Neben den schon erwähnten personellen Kontinuitäten wurden auch Ereignisse wie die Erschießung Benno Ohnesorgs und der Rassismus in den USA als Indizien für die Virulenz faschistischer Potentiale gelesen. Wie stellt sich dieses Verhältnis von historischen und gegenwartspolitischen Horizonten und subjektiver Betroffenheit aus Ihrer Sicht dar?
Ohne die NS-Vergangenheit und die Glaubwürdigkeitslücke – und Lücke ist wirklich eine Untertreibung —, die die Bundesrepublik gegenüber dem NS-Staat hinterlassen hat, hätte es die RAF nicht geben können. Bei allen anderen Begründungsmustern – Vietnamkrieg etc. – ist die NS-Vergangenheit der historische Stoff, aus dem die RAF überhaupt gelebt hat und aus dem heraus es diese Beziehung der Linken zur RAF und eben auch diese Stellvertreterbeziehung zur RAF gegeben hat. Nicht ohne Grund ist ja die Ikone der RAF letztendlich doch Ulrike Meinhof gewesen und niemand anderes. Wenn linke Intellektuelle an die RAF gedacht haben, dann haben sie zuerst an Ulrike Meinhof gedacht, um sich damit zugleich auch eine Brücke bauen zu können zur Infragestellung der bundesdeutschen Selbstlegitimation und einer radikalisierten Antwort auf die NS- Vergangenheit. Ulrike Meinhof verkörperte wie sonst kaum jemand die Moralisierung des Antifaschismus. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen anderen wichtigen Aspekt herausgreifen, der mit den Delegitimierungsversuchen gegenüber dem bundesdeutschen Staat in den sechziger Jahren zu tun hatte. Man muß auch sehen, daß das Bild des Staates, das die 68er-Bewegung hatte, nicht unmaßgeblich durch die Kampagnen des "Ausschusses für deutsche Einheit" gegenüber Politikern wie Kiesinger, Lübke, Globke und Oberländer beeinflußt worden ist. Das ist in den fünfziger und sechziger Jahren in einzelnen Schüben erfolgt. Es ist der SED-Propaganda dabei gelungen, manche Konstruktion als scheinbar objektive Tatsache in das Bewußtsein der linken Opposition in Westdeutschland einzuschreiben. Vieles davon war ja nicht nur propagandistisch überzogen, sondern auch falsch. Im Falle des der CDU entstammenden Bundespräsidenten Heinrich Lübke zum Beispiel. Lübke ist kein "KZ-Baumeister" gewesen, wie es der Propagandaslogan der SED suggerieren wollte. Ein anderes Beispiel: Ich habe gerade eine Dissertation von Peter Krause über den Eichmann-Prozeß und dessen Echo in der bundesdeutschen und der DDR-Presse gelesen. Daraus geht hervor, wie die SED versucht hat, einen operativen Zusammenhang zwischen Hans Globke, dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, der 1935 den Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen mitverfaßt hatte, und Adolf Eichmann, dem Angeklagten in Jerusalem, zu konstruieren, den es historisch überhaupt nicht gegeben hat. Es ging einzig und allein darum, die Bundesregierung delegitimieren zu können. Das könnte man auch an verschiedenen anderen Beispielen zeigen. Es gab aber auch eine Reihe von Fällen, wo ein hohes Maß an Deckungsgleichheit zwischen Propagandaabsichten der SED und der jeweiligen historischen Wirklichkeit vorlag. Bei Hans Filbinger etwa, dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der wegen seiner Tätigkeit als Marinerichter in der NS-Zeit zu Recht zurücktreten mußte, aber auch in anderen Fällen. Das Problem in diesem Kraftfeld war, daß die außerparlamentarische Opposition, vor allem am Ende ihrer Bewegungszeit, von einer äußerst starken Kontinuitätshypothese zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik ausgegangen ist. Da diese Sicht von der SED- Propaganda ständig unterfüttert wurde, in dem Sinne, daß man es bei der "Bonner Republik" mit einem unmittelbaren Nachfolgestaat zu tun habe und es keinen gravierenden Unterschied zwischen den Herrschaftseliten im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland gebe, hat man geglaubt, das parlamentarische System insgesamt in Frage stellen zu müssen. Vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit trat so etwas wie ein moralischer Abgrund in Erscheinung. Vor diesem Abgrund konnte dann, wenn man so will, die RAF auftreten. Das hat es ihr jedenfalls sehr erleichtert, bestimmte, scheinbar legitimierbare politische Aktionen entfalten zu können. Man muß dieses Mißverhältnis darlegen, um deutlich zu machen, worin die Probleme bei dem, was man dann vielleicht als Legitimationsressource Nationalsozialismus bzw. Faschismus bezeichnen kann, gelegen haben.
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