Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International, Juan Manuel Castro Prieto
Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 109, Sommer 2015

Der Tod Osama bin Ladens

Lügen, Logik, Tatsachen – eine kritische Rekonstruktion der Ereignisse

Vier Jahre ist es jetzt her, daß ein Kommando amerikanischer Navy Seals bei einem nächtlichen Anschlag auf ein befestigtes Anwesen im pakistanischen Abbottabad Osama bin Laden erschoß. Der Mord war der Höhepunkt von Barack Obamas erster Amtszeit und trug in erheblichem Maße zu seiner Wiederwahl bei. Das Weiße Haus behauptet nach wie vor, es habe sich bei der Mission um eine rein amerikanische Aktion gehandelt; weder Pakistans höchste Militärs noch der Nachrichtendienst – die Inter-Services Intelligence Agency (ISI) – des Landes hätten von dem bevorstehenden Handstreich gewußt. Es ist dies nicht das einzige, was an der von der Regierung Obama herausgegebenen Darstellung nicht stimmt. Die Geschichte des Weißen Hauses wäre eher eines Lewis Carroll würdig: Hätte bin Laden, Objekt einer weltweiten Menschenjagd, tatsächlich zu dem Schluß kommen können, ein Urlaubsziel fünfzig Kilometer von Islamabad sei der sicherste Platz für einen Unterschlupf, von dem aus sich al-Qaida leiten ließ? Er habe sich unter aller Augen versteckt. Behaupten die USA.

Die eklatanteste Lüge war die, man habe weder den Stabschef des Heeres General Ashfaq Parvez Kayani noch den Direktor der ISI General Ahmed Shuja Pasha, Pakistans mächtigste Militärs mit anderen Worten, über die amerikanische Mission informiert. An diesem Standpunkt hält das Weiße Haus fest, und das einer Reihe von Berichten zum Trotz, die Fragen aufgeworfen haben wie etwa der von Carlotta Gall im New York Times Magazine vom 19. März 2014. Gall, die zwölf Jahre als Korrespondentin der Times in Afghanistan war, will von einem „pakistanischen Amtsträger“ erfahren haben, Pasha habe bereits vor dem Handstreich von bin Ladens Anwesenheit in Abbottabad gewußt.

Sowohl amerikanische als auch pakistanische Offizielle dementierten dies; näher darauf einlassen wollte man sich freilich nicht. In seinem Buch Pakistan: Before and after Osama (2012) behauptet Imtiaz Gul, Exekutivdirektor des Thinktanks Centre for Research and Security Studies in Islamabad, vier Geheimdienstler im verdeckten Einsatz hätten ihm gegenüber – durchaus im Einklang mit vor Ort herrschenden Ansichten – darauf bestanden, das pakistanische Militär habe definitiv von der Mission gewußt. Erneut aufgeworfen wurde das Problem im Februar, als Asad Durrani, General im Ruhestand und Anfang der 1990er Jahre Chef der ISI, al-Dschasira gegenüber sagte, es sei „durchaus möglich“, daß die Führungsriege der ISI nichts über den Verbleib bin Ladens gewußt habe, „wahrscheinlicher jedoch ist, man wußte Bescheid. Und daß man darauf spekulierte, seinen Aufenthaltsort zum gegebenen Zeitpunkt zu enthüllen. Anders gesagt, wenn sich die nötige Gegenleistung für diese Information fand – wenn man jemanden wie Osama bin Laden hat, dann verschenkt man den nicht so einfach an die USA.“

Dieses Frühjahr kontaktierte ich Durrani und sagte ihm detailliert, was ich über den Angriff auf bin Laden aus amerikanischen Quellen wußte: daß bin Laden seit 2006 Gefangener der ISI in der Anlage in Abbottabad gewesen sei; daß Kayani und Pasha von dem Unternehmen im Vorfeld gewußt und dafür gesorgt hatten, daß die beiden Hubschrauber, die die Seals nach Abbottabad flogen, den pakistanischen Luftraum unbehelligt passieren konnten; daß die CIA bin Ladens Aufenthaltsort nicht durch Observation irgendwelcher Kuriere in Erfahrung gebracht hatte, wie das Weiße Haus seit Mai 2011 behauptet, sondern durch einen ehemaligen Angehörigen des pakistanischen Nachrichtendiensts, der das Geheimnis für einen ansehnlichen Teil der 25 Millionen Dollar Belohnung verriet, die auf den Mann ausgesetzt war, und schließlich daß, auch wenn Obama den Angriff befohlen und das Seal-Team ihn ausgeführt hatte, vieles an der offiziellen Darstellung der US-Regierung nicht der Wahrheit entsprach.

(…)

Es begann mit einem „Walk-in“, wie man aus freien Stücken auftauchende Informanten in der Branche nennt. Im August 2010 sah sich Jonathan Bank, CIA-Stationschef der US-Botschaft in Islamabad, von einem ehemaligen hochrangigen Angehörigen des pakistanischen Geheimdienstes angesprochen. Der Mann erbot sich, der CIA zu sagen, wo bin Laden zu finden sei – für die Belohnung, die Washington 2001 ausgesetzt hatte. Walk-ins gelten bei der CIA von Haus aus als unzuverlässig, was das Hauptquartier in Langley erst einmal ein Team von Spezialisten mit einem Lügendetektor einfliegen ließ. Der Walk-in bestand den Test. Laut meiner Quelle, dem ehemaligen hochrangigen US-Geheimdienstler, hieß es nun bei der CIA: „Okay, jetzt wissen wir, daß bin Laden in Abbottabad lebt, aber woher sollen wir wissen, ob er es wirklich ist?“

Anfangs enthielten die USA den Pakistanern ihr Wissen vor. „Man befürchtete, die Pakistaner würden, wenn man die Existenz der Quelle preisgab, bin Laden woanders hinbringen. So weihte man denn bezüglich der Quelle und seiner Geschichte nur eine sehr kleine Gruppe von Leuten ein“, sagte der Geheimdienstler im Ruhestand. „Als erstes ging es der CIA darum, die Qualität der Informationen des Informanten zu überprüfen.“ Man stellte das Anwesen unter Satellitenüberwachung. Die CIA mietete ein Haus in Abbottabad als vorgeschobenen Beobachtungsposten und besetzte diesen mit pakistanischen Angestellten und Angehörigen anderer Nationen. Später sollte der Posten als Treffpunkt mit der ISI dienen; Aufmerksamkeit erregte er kaum, da in einem Ferienziel wie Abbottabad ständig Häuser kurzzeitig vermietet werden. Man erarbeitete unterdessen ein psychologisches Profil des Informanten. (Man schmuggelte ihn und seine Familie außer Landes und brachte die Leute in der Nähe der amerikanischen Bundeshauptstadt unter. Er ist heute Berater der CIA.)

„Im Oktober ging man bei Militär und Nachrichtendienst bereits mögliche militärische Optionen durch. Bunkerknacker? Drohnenschlag? Schicken wir einen einzelnen Attentäter rein, der ihn liquidiert? Aber dann hätten wir keinen Beweis dafür, daß er es wirklich ist“, sagte der ehemalige Geheimdienstler. „Wir konnten nachts einen einzelnen Mann herumspazieren sehen, aber wir hatten keine Meldungen auffangen können, weil keinerlei Kommunikation aus der Anlage kam.“

Im Oktober wurde auch Obama von der Information in Kenntnis gesetzt. Er reagierte verhalten, sagte der Ex-Geheimdienstler. „Es entbehrte einfach jeder Logik, daß bin Laden in Abbottabad leben sollte. Es war einfach zu verrückt. Die Position des Präsidenten war ganz entschieden: ‘Kommen Sie mir damit erst gar nicht mehr, bevor Sie nicht Beweise dafür haben, daß das wirklich bin Laden ist.’“ Unmittelbares Ziel von CIA-Führung und Joint Special Operations Command war es nun, Obamas Unterstützung zu bekommen. Die meinte man sich mit Hilfe eines DNS-Tests und der Beteuerung sichern zu können, daß ein nächtlicher Angriff kein Risiko barg. Die einzige Möglichkeit, beides zu bewerkstelligen, so der Mann im Ruhestand, „bestand darin, die Pakistaner an Bord zu bekommen“.

(…)

In der Anlage in Abbottabad hatte die ISI Leute postiert, die bin Laden nebst seinen Frauen und Kindern im Auge behielten. Sie hatten Order, das Gelände zu verlassen, sobald die Rotoren der amerikanischen Hubschrauber zu hören wären. Die Stadt lag im Dunkeln, da man auf Befehl der ISI bereits Stunden vor dem Handstreich die Stromversorgung abgeschaltet hatte. Einer der Black Hawks stürzte innerhalb der Anlage ab; es kam zu zahlreichen Verletzungen. „Die Leute wußten, daß sie das Zeitfenster knapp halten mußten, schließlich würden sie beim Reingehen die ganze Stadt aufwecken“, sagte der Ex-Geheimdienstmann. Das Cockpit des abgestürzten Black Hawk mit seinem Kommunikations- und Navigationsgerät mußte mit Handgranaten zerstört werden, was zu einer Serie von Explosionen führen würde, die man im Umkreis von Kilometern mitbekommen würde, zu schweigen von dem entstehenden Brand. Zwei Chinook-Transporthubschrauber waren aus Afghanistan eingeflogen und standen zur logistischen Unterstützung auf einer pakistanischen Aufklärungsbasis bereit. Einen davon schickte man sofort nach Abbottabad. Da der Hubschrauber jedoch einen Blasentank mit Treibstoff für die beiden Black Hawks an Bord hatte, mußte man ihn erst zum Truppentransporter rekonfigurieren. Der Absturz des Black Hawk und die Notwendigkeit, Ersatz einzufliegen, waren ebenso nervenaufreibende wie zeitraubende Rückschläge; dennoch setzten die Seals die Mission fort. Beim Eindringen in die Anlage kam es nicht zum Schußwechsel; die Posten der ISI waren längst fort. „In Pakistan“, so erklärt der Geheimdienstler im Ruhestand, „hat jeder eine Waffe und wohlhabende Prominente wie die in Abbottabad haben bewaffnete Bodyguards, und trotzdem gab es in der Anlage keine Waffen.“ Wäre man auf Widerstand gestoßen, das Team wäre hochgradig verwundbar gewesen. Stattdessen, so der Ex-Geheimdienstler, habe ein Verbindungsoffizier der ISI, der mit den Seals gekommen war, sie in das finstere Haus und eine Treppe hinauf zu bin Ladens Quartier geführt. Die Pakistaner hatten die Seals auf die schweren Stahltüren im Erdgeschoss vor der Treppe und auf dem Absatz im ersten Stock hingewiesen; bin Ladens Räume lagen im zweiten Stock. Das Seal-Kommando sprengte die Türen, was ohne Verletzungen über die Bühne ging. Eine von bin Ladens Frauen begann hysterisch zu schreien; eine – womöglich verirrte – Kugel traf sie am Knie. Über die auf bin Laden abgegebenen Schüsse hinaus wurde nicht geschossen. (Die Regierung Obama sollte das später anders darstellen.)

„Sie wußten, wo die Zielperson war – im zweiten Stock, zweite Tür rechts“, sagte der Ex-Geheimdienstler. „Sie brauchten nur reinzugehen. Osama zog sich geduckt in sein Schlafzimmer zurück. Zwei Bewaffnete folgten ihm und eröffneten das Feuer. Ein schlichter, geradliniger, ausgesprochen professioneller Hit.“ Einige Seals, so sagte der ehemalige Geheimdienstmann, seien darüber entsetzt gewesen, daß das Weiße Haus zunächst insistierte, sie hätten bin Laden in Notwehr erschossen. „Sechs der besten und erfahrensten Unteroffiziere der Seals hatten es mit einem unbewaffneten älteren Zivilisten zu tun und mußten ihn in Notwehr töten? Das Haus war heruntergekommen und bin Laden hauste in einer Zelle mit Gittern am Fenster und Stacheldraht auf dem Dach. Den Einsatzregeln nach waren sie autorisiert, zu potentiell tödlichen Mitteln zu greifen, falls bin Laden Widerstand leisten sollte. Im Falle des Verdachts, er hätte Mittel und Wege, Widerstand zu leisten, etwa in Form einer Sprengstoffweste unter dem Kaftan, konnten sie ihn aber auch gleich töten. Sie sehen sich also vor einem Typen in undurchschaubarer Kutte und erschießen ihn. Nicht etwa, weil er nach einer Waffe gegriffen hätte. Die Einsatzregeln gaben ihnen die uneingeschränkte Vollmacht, den Mann zu töten.“ Die spätere Behauptung des Weißen Hauses, man hätte nur ein, zwei Schüsse auf seinen Kopf abgegeben, sei „Bullshit“ gewesen, sagte der ehemalige Geheimdienstler. „Das Kommando kam zur Tür rein und machte ihn kalt. Wie es bei den Seals so schön heißt: ‘Wir haben ihm in den Arsch getreten und den Hahn abgedreht.’“

Nachdem sie bin Laden getötet hatten, „standen die Seals einfach rum, einige durch den Absturz verletzt, und warteten auf den Hubschrauber, der sie abholen sollte“, erzählte der Geheimdienstler im Ruhestand. „Zwanzig angespannte Minuten lang. Der Black Hawk brennt noch. In der Stadt brennt kein Licht. Es gibt keinen Strom. Keine Polizei. Keine Feuerwehr. Man hat keine Gefangenen.“ Bin Ladens Frauen und Kinder überließ man zur Vernehmung und Umquartierung der ISI. „Trotz allem, was gesagt wurde“, fuhr der Ex-Geheimdienstler fort, gab es „keine Müllsäcke voll Computer und Speichermedien. Die Leute stopfen einfach einige Bücher und Papiere in ihre Rucksäcke. Die Seals waren nicht gekommen, weil sie dachten, bin Laden leite von dort aus al-Qaida, wie das Weiße Haus später den Medien sagte. Und Nachrichtenexperten, die in dem Haus Informationen sammelten, waren sie auch nicht.“

Bei einem normalen Kommandounternehmen, so der Geheimdienstler im Ruhestand, hätte man nicht herumgestanden und gewartet, wenn ein Hubschrauber abstürzt. „Die Seals hätten ihre Mission beendet, Waffen und Ausrüstung weggeworfen, sich in den anderen Black Hawk gezwängt und dann di-di-mau– vietnamesischer Slang für „nichts wie weg“ – „selbst wenn ein paar zu den Türen raushängen. Sie hätten auch den Hubschrauber nicht gesprengt – keine Kommunikationsausrüstung ist ein Dutzend Leben wert –, es sei denn, sie wußten, daß sie sicher waren. Sie standen stattdessen vor der Anlage herum und warteten auf den Bus.“

(…)
 

Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.