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Cover Lettre International, Stanislas Guigui
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Inhaltsverzeichnis

LI 105, Sommer 2014

Rote Linie, Rattenlinie

Giftgas, Bürgerkrieg und Krieg - Obama, Erdoğan und Syriens Rebellen

2011 führte Obama, unter Umgehung des Kongresses, einen alliierten Militärschlag gegen Libyen. Letzten August, nach dem Sarin-Angriff auf die Damaszener Vorstadt Ghuta, war er drauf und dran, einen alliierten Luftschlag zu führen – diesmal zur Bestrafung Syriens für die mutmaßliche Überschreitung der red line, die er 2012 in bezug auf den Einsatz von Chemiewaffen gezogen hatte. Nur knapp zwei Tage vor dem geplanten Schlag gegen Syrien gab er bekannt, sich um den Segen des Kongresses für die Intervention bemühen zu wollen.

Während Senat und Repräsentantenhaus Anhörungen anberaumten, verschob man den Angriff, um ihn schließlich ganz abzublasen, als Obama – in einem von den Russen vermittelten Deal – Assads Angebot annahm, sich von seinem chemischen Arsenal zu trennen. Stellt sich die Frage, warum Obama im Falle Syriens den Angriff erst aufschob, um schließlich einzulenken, nachdem er so völlig ungeniert in Libyen einmarschiert war. Nun, die Antwort darauf liegt in einem Konflikt zwischen der Fraktion in seiner Regierung, die sich der Durchsetzung der red line verschrieben hatte, und der Spitze des amerikanischen Militärs, deren Ansicht nach ein Krieg nicht nur ungerechtfertigt, sondern möglicherweise auch mit katastrophalen Folgen verbunden war.

Die Ursprünge von Obamas Sinneswandel finden sich in Porton Down, dem Forschungslabor des britischen Verteidigungsministeriums in Wiltshire. Der britische Geheimdienst hatte Proben des beim Angriff vom 21. August 2013 eingesetzten Sarins in die Hände bekommen und analysiert. Die Analyse ergab, daß das dort eingesetzte Gas von der chemischen Zusammensetzung her keinem der Fertigungslose entsprach, die aus dem chemischen Arsenal des syrischen Heeres bekannt sind. Die Erkenntnis, daß der Vorwürfe gegen Syrien einer näheren Betrachtung nicht standhalten würden, fand umgehend ihren Weg zu den Vereinigten Stabschefs der USA. Der Bericht der Briten verstärkte gewisse Zweifel innerhalb des Pentagons; die Stabschefs waren bereits im Begriff, Obama wissen zu lassen, daß seine Pläne eines umfassenden Schlags gegen Syriens Infrastruktur einen größeren Krieg im Nahen Osten nach sich ziehen könnten. Infolgedessen ließen die Stabschefs ihrem Präsidenten in letzter Minute eine Warnung zukommen, der daraufhin – ihrer Ansicht nach – den Angriff abblasen ließ.

Monatelang schon hatte der militärischen Führung wie auch den Nachrichtendiensten die Rolle von Syriens Nachbarn in diesem Krieg zu denken gegeben, allen voran die der Türkei. Premier Recep Erdoğans Schützenhilfe nicht nur für die dschihadistische Al-Nusra-Front, sondern auch für andere Fraktionen von Syriens islamistischen Rebellen war dort bekannt. „Wir wußten“, sagte mir ein ehemaliger hochrangiger Angehöriger eines amerikanischen Geheimdienstes mit Zugang zu aktuellen Erkenntnissen, „daß es in der türkischen Regierung Elemente gab, deren Ansicht nach man Assad bei den Eiern kriegen könnte, indem man in Syrien einen Sarin-Angriff fingiert – Obama könnte gar nicht anders, als zu seiner Drohung bezüglich der red line zu stehen.“

Streng vertraulich

Die Vereinigten Stabschefs wußten darüber hinaus, daß die Behauptung der Regierung Obama, nur die syrische Armee habe Zugang zu Sarin, nicht den Tatsachen entsprach. Sowohl die amerikanischen als auch die britischen Geheimdienste wußten seit dem Frühjahr 2013, daß einige aufständische Gruppierungen Syriens mit der Entwicklung chemischer Waffen beschäftigt waren. Am 20. Juni überreichten Analytiker des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA (Defense Intelligence Agency) ihrem stellvertretenden Direktor David Shedd ein fünfseitiges Themenpapier mit dem Vermerk „Streng vertraulich“; al-Nusra, so hieß es darin, unterhalte eine Zelle zur Herstellung von Sarin; dieses Programm, so das Papier, sei „das fortgeschrittenste Sarin-Komplott seit al-Qaidas Bemühungen vor 9/11“. (Einem Berater des Außenministeriums zufolge wissen amerikanische Nachrichtendienste seit langem, daß al-Qaida mit chemischen Waffen experimentiert; man hat sogar ein Video über Gasexperimente an Hunden.)

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Der Monsterschlag

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Wie mir der ehemalige Geheimdienstler sagte, hatte die red line des Präsidenten so einigen Leuten bei der amerikanischen Staatssicherheit schon seit langem zu schaffen gemacht: „Die Vereinigten Stabschefs fragten beim Weißen Haus an: ‘Was ist unter red line zu verstehen? Welches militärische Mandat ergibt sich daraus? Truppen vor Ort? Massierter Schlag? Begrenzter Schlag?’ Der Heeresnachrichtendienst bekam den Auftrag, sich damit zu befassen, wie man die Drohung umsetzen könnte. Mehr über das Kalkül des Präsidenten dahinter erfuhren sie nicht.“

Im Gefolge des Angriffs vom 21. August befahl Obama dem Pentagon, eine Liste mit Zielen für Luftangriffe aufzustellen. Bei diesem Prozeß „lehnte das Weiße Haus“, so der ehemalige Geheimdienstler, erst einmal „35 der auf der von den Vereinigten Stabschefs erstellten Liste stehenden Angriffsziele mit der Begründung ab, sie wären für Assads Regime nicht ‘schmerzhaft’ genug.“ Zu den ursprünglichen Zielen gehörten lediglich militärische Anlagen; zivile Infrastruktur hatte man außen vor gelassen. Unter Druck aus dem Weißen Haus entwickelte sich der amerikanische Angriffsplan zu einem „Monsterschlag“. Zwei Geschwader B-52-Bomber wurden auf Stützpunkte der Air Force nahe der syrischen Grenze verlegt; man schickte U-Boote und Kriegsschiffe mit Marschflugkörpern (Tomahawks) in das Gebiet. „Jeden Tag wurde die Zielliste länger“, sagte mir der ehemalige Geheimdienstler. „Die Planer im Pentagon meinten, Tomahawks allein genügten nicht gegen syrische Raketensilos, weil deren Gefechtsköpfe zu tief vergraben sind, also wies man der Mission die beiden B-52-Geschwader mit Tausend-Kilo-Bomben zu. Dann müssen wir aber auch Such- und Rettungsteams für abgeschossene Piloten auf Abruf haben und Drohnen für die Zielauswahl. Das Ganze nahm ungeheure Ausmaße an.“ Die neue Zielliste sollte „Assad sämtliche verfügbaren militärischen Möglichkeiten nehmen“, sagte der ehemalige Mann vom Geheimdienst. Zu den Kernzielen gehörten Stromnetze sowie Öl- und Gaslager, alle bekannten Waffen- und Nachschubdepots, alle bekannten Befehlsleit- und Kontrollstellen sowie alle bekannten Einrichtungen von Militär und Nachrichtendienst.

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Washington machte der Rolle der CIA beim Waffentransfer aus Libyen nach dem Angriff auf das Konsulat abrupt ein Ende, die rat line jedoch blieb bestehen. „Die Vereinigten Staaten hatten keine Kontrolle mehr darüber, was die Türken den Dschihadisten lieferten“, sagte der ehemalige Geheimdienstler. Binnen Wochen gelangten mindestens vierzig mobile Abschußvorrichtungen für Boden-Luft-Raketen (MANPADS) in die Hände syrischer Rebellen. Am 28. November 2012 berichtete Joby Warrick von der Washington Post, Rebellen hätten am Vortag in der Nähe von Aleppo einen syrischen Transporthubschrauber abgeschossen, wobei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein solches MANPADS zum Einsatz kam. „Die Regierung Obama“, so schrieb Warrick, „hat sich stets vehement gegen die Bewaffnung der oppositionellen Kräfte Syriens mit solchen Raketen gewehrt. Sie könnten, so ihre Warnung, in die Hände von Terroristen fallen und zum Abschuß von Verkehrsflugzeugen eingesetzt werden.“ Zwei Angehörige von Nachrichtendiensten aus dem Nahen Osten nannten Katar als Quelle; den Spekulationen eines ehemaligen amerikanischen Nachrichtenanalytikers zufolge könnten die Rebellen die MANPADS bei einem Überfall auf einen Außenposten des syrischen Militärs erbeutet haben. Es gab jedenfalls keinerlei Hinweise darauf, daß die MANPADS als unbeabsichtigte Folge einer verdeckten US-Operation in die Hände der Aufständischen gelangt waren, über die man keine Kontrolle mehr hatte.

Ende 2012 ging man bei den amerikanischen Nachrichtendiensten davon aus, daß die Rebellen den Krieg verloren. „Erdoğan war stinksauer“, sagte der Exgeheimdienstler, „und fühlte sich sitzengelassen. Es war sein Geld, und er empfand die Beendigung der Mission als Verrat.“ Im Frühjahr 2013 erfuhren die amerikanischen Nachrichtendienste, daß die türkische Regierung – über Elemente des türkischen Nachrichtendienstes MIT und der paramilitärischen Jandarma – Hand in Hand mit al-Nusra und deren Verbündeten an der Entwicklung chemischer Waffen arbeitete. „Der MIT sorgte für die politische Liaison mit den Rebellen, und die Gendarmerie war für militärische Logistik, Beratung und Ausbildung zuständig – inklusive Ausbildung in chemischer Kriegführung“, sagte der ehemalige Geheimdienstler. „Im Ausbau ihrer Rolle sah die Türkei im Frühjahr 2013 den Schlüssel zu ihren dortigen Problemen. Erdoğan wußte, wenn er die Unterstützung der Dschihadisten einstellte, wäre alles vorbei. Die Saudis konnten den Krieg aus logistischen Gründen nicht unterstützen – wegen der Entfernungen und der Probleme bei der Bewegung von Nachschub und Waffen. Erdoğan hoffte, ein Ereignis zu inszenieren, das die USA dazu zwingen würde, die red line zu überschreiten. Aber Obama reagierte weder im März noch im April.“

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Unter falscher Flagge

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Ein Berater amerikanischer Geheimdienste sagte mir, er habe einige Wochen vor dem 21. August ein streng geheimes, für Dempsey und den Verteidigungsminister Chuck Hagel bestimmtes Briefing eingesehen, in dem von einer „akuten Angst“ der Regierung Erdoğan hinsichtlich der schwindenden Aussichten der syrischen Aufständischen die Rede war. Die Analytiker weisen darauf hin, die türkische Führung habe „die Notwendigkeit“ zum Ausdruck gebracht, „etwas zu tun, was eine militärische Reaktion der USA lostreten würde“. Ende Sommer 2013 hätte die syrische Armee den Aufständischen gegenüber noch immer alle Vorteile in der Hand gehabt, sagte der ehemalige Geheimdienstler, und allein die amerikanische Luftmacht hätte das Blatt wenden können. Im Herbst, so fuhr er fort, hätten die amerikanischen Nachrichtenanalytiker, die nach wie vor über den Ereignissen vom 21. August saßen, „das Gefühl“ gehabt, „daß Syrien für den Gasangriff nicht verantwortlich war. Die Preisfrage blieb damit freilich, wie es dazu gekommen war? Unmittelbare Verdächtige waren die Türken, weil die sämtliche Teile in der Hand hatten, mit denen so etwas zu bewerkstelligen war.“

Je mehr abgefangene Meldungen und andere Daten mit Bezug zum 21. August man zusammentrug, desto stärker sahen sich die Nachrichtendienste in ihrem Verdacht bestätigt. „Wir wissen jetzt, daß es sich um eine verdeckte, von Erdoğans Leuten geplante Aktion handelte, die Obama über die red line stoßen sollte“, sagte der ehemalige Nachrichtendienstler. „Sie mußten die Situation mit einem Gasangriff in oder in der Nähe von Damaskus eskalieren, während die UN-Inspektoren“ – die am 18. August zur Untersuchung der anderen Giftgaseinsätze eintrafen – „dort waren. Es ging darum, etwas Spektakuläres zu tun. Unsere militärische Führung erfuhr von der DIA und anderen Geheimdiensten, daß das Sarin über die Türkei geliefert wurde – und daß das nur mit türkischer Unterstützung möglich gewesen war. Die Türken sorgten außerdem für die Ausbildung in Sachen Herstellung und Umgang damit.“ Erhärtet wurde diese Annahme zu einem Gutteil von den Türken selbst, so durch abgefangene Unterhaltungen im unmittelbaren Gefolge des Angriffs. „Wesentliche Beweise kamen unmittelbar nach dem Angriff in Form freudiger Gratulationen in zahlreichen abgefangenen Unterhaltungen der Türken. Operationen sind im Planungsstadium immer megageheim, aber damit ist in dem Augenblick Schluß, wenn es bei Gelingen ans Trommeln geht. Nichts macht einen anfälliger, als wenn die Täter den Erfolg für sich beanspruchen.“ Erdoğans Probleme in Syrien würden bald vorbei sein: „Das Gas geht hoch, Obama sagt red line, und Amerika greift Syrien an – oder wenigstens war das der Gedanke dahinter. Aber so ist es dann eben doch nicht gekommen.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.