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Cover Lettre International 92, Barbara Breitenfellner
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LI 92, Frühjahr 2011

Pasolini, der Senator, das Buch

Marcello Dell’Utri hat nicht viel zu tun. Das behauptet er zumindest bei der Begrüßung in Rom, als ich mich für die Zeit bedanke, die er zur Verfügung stellt. Er habe „keinen feuchten Kehricht“ zu tun, betont der Senator und läßt sich mit der ganzen Masse seines Körpers in den Ledersessel seines Büros unweit der Spanischen Treppe fallen. Dann schaltet er noch sein Handy aus – „damit uns keiner stört“ –, der vielbeschäftigte Gewährsmann Silvio Berlusconis und mutmaßliche Unterhändler zwischen Staat und Mafia, rechtskräftig verurteilt und durch parlamentarische Immunität geschützt. Senator Dell’Utri hat vor einem Jahr eine sensationelle Ankündigung gemacht: Er, bibliophiler Liebhaber antiker Bücher, habe das fehlende Kapitel 21 aus Pier Paolo Pasolinis unvollendetem Enthüllungsroman Petrolio, einen Text mit „beunruhigendem Inhalt“, so Dell’Utri, von dem viele Menschen vermuten, er sei aus der Wohnung Pasolinis gestohlen worden und liefere den Schlüssel für die Ermordung des Poeten vor 35 Jahren.

Der „Fall Pasolini“ gehört in der jüngeren Gewaltgeschichte Italiens zu den zahlreichen bis heute unaufgeklärten politischen Morden, deren Täter und Hintermänner unbekannt sind. Denn ein Großteil der politischen Geschichte Italiens der siebziger und achtziger Jahre liegt immer noch im dunkeln – mehr vielleicht als in jedem anderen Land Europas. Deshalb ist die Wiederaufnahme des Falles bedeutsam und das Interesse einer neuen Generation groß.

Im Morgengrauen des 2. November 1975 entdeckten die Anwohner armseliger Barackenbauten am Idroscalo in Ostia, dem Hafen von Rom, im Schlamm die Leiche des weltberühmten Schriftstellers und Regisseurs Pier Paolo Pasolini, entsetzlich entstellt und verstümmelt. Die Gerichtsakten notieren einen „Klumpen Fleisch und Blut“. Zur selben Zeit wurde im Sportwagen Pasolinis ein Minderjähriger verhaftet: Pino Pelosi, ein siebzehnjähriger Gelegenheitsstricher und Kleinkrimineller aus dem Vorstadtmilieu Roms. In nur fünf Monaten Prozeß wurde Pelosi als Alleintäter zu neun Jahren Haft verurteilt. Der italienische Staranwalt Nino Marazzita, der die Familie Pasolini im ersten Prozeß vertrat, findet das heute noch „skandalös“, denn er habe die Leiche Pasolinis gesehen, „einen Klumpen Fleisch und Blut, von dem die Anwohnerin, die ihn gefunden hatte, dachte, es wäre Müll, und die also drauf und dran war, ihn in die Mülltonne zu werfen – und Pino Pelosi: Jackett, Krawatte, lupenrein, ein kleiner Fleck am Puls und eine Platzwunde über dem Auge“. Es sei von Beginn an klar gewesen, betont Marazzita, daß Pelosis Geständnis, Pasolini allein umgebracht zu haben, weil Pasolini ihn sexuell provoziert habe, unhaltbar war. „Es müssen mehrere Täter gewesen sein.“ Aber die Medien, allen voran der Staatssender RAI, verbreiteten die Aussage des Strichers als Wahrheit: „Das Fernsehen hat gesagt“, hieß es fortan, und niemand sah sich veranlaßt, der Medienwahrheit zu mißtrauen. Ein abgekartetes Spiel vermutete der international unter den besten Strafrechtlern eingeordnete Anwalt, denn „den damals Regierenden war vollkommen klar, daß Pier Paolo aufgrund einer Machtintrige in den Institutionen oder Parteien umgebracht worden sein konnte oder von informellen politischen Akteuren, wie den militanten Faschisten“.

Die politischen Machthaber im Italien der siebziger Jahre, geprägt vom Links- und Rechtsterrorismus, waren bereits am Tag nach dem Mord in die Offensive gegangen, allen voran Ministerpräsident Giulio Andreotti. „Er hat es doch so gewollt“, meinte der Christdemokrat, während andere Politiker betonten, wie sehr die „Tragödie“ einem Regiebuch des Mordopfers selbst  entspräche – eine These, die noch dreißig Jahre später in die umstrittenen Mutmaßungen über einen selbstinszenierten Tod von Giuseppe Zigaina mündete. Pasolini, so der schnell gefundene Konsens, sei Opfer seiner sexuellen Andersartigkeit und seiner eigenen Roman- und Filmprotagonisten geworden, der Kleinkriminellen Roms wie Pelosi, die in den Vorstädten von Faschisten regelmäßig für Attentate, Entführungen und Morde rekrutiert wurden. Die Äußerungen sagen viel über die Rezeption Pasolinis in Italien. Die radikale Linksintellektuelle Rossana Rossanda brachte diese in einer der wenigen anerkennenden Würdigungen auf den Punkt: „In Italien hat kaum jemand Pasolini gemocht, denn er war unbequem für alle Italiener.“

Pier Paolo Pasolini mit seinem erstaunlichen Arbeitspensum, wie Fassbinder in Deutschland – in 33 Jahren 25 Filme, zwei Dutzend Filmprojekte, genauso viele Drehbücher für andere Filmemacher, sechs Theaterstücke, 14 Romane und Erzählbände, 31 Gedichtbände mit Tausenden Gedichten, unzählige Essays, theoretische Schriften, Rezensionen und Kommentare –, wurde zu Lebzeiten zum Opfer einer Rufmordkampagne. In 33 Jahren 33 Prozesse aufgrund seiner Filme und Bücher. In keinem Prozeß wurde Pasolini verurteilt, aber sein Ansehen wurde durch die Vorverurteilungen der Medien nachhaltig geschädigt. Und Pasolini wurde auch physisch angegriffen. Schon 1964 versuchten Mitglieder der faschistischen Neuen Ordnung Pasolini mit einem Auto zu überfahren. „Wenige Tage vor dem Mord in Ostia versuchten zwanzig Rechtsextreme Pasolini von einer Brücke zu werfen“, betont Nino Marazzita. Der Mordversuch mißlang, weil umstehende Passanten eingriffen. Der Anwalt hat fünfmal versucht, den Mordprozeß neu aufzurollen. Das erste Mal direkt nach dem Urteil im April 1976, als er einen anonymen Brief erhielt, der von einem blauen Fiat sprach, nach dem zu fahnden sei, mit großem Hubraum und sizilianischem Kennzeichen. „Auch die ersten Nummern des Kennzeichens waren dabei“, betont Marazzita und lacht bitter in sich hinein, als er erzählt, daß kein Beamter des italienischen Staates in der Lage war, den Halter zu ermitteln. „Ein Kinderspiel“, meint Marazzita, „auch ohne Computer.“ Allein der Wille habe gefehlt, den Mord an Pasolini aufzuklären, das sei vollkommen klar, seit über 35 Jahren.

Heute hat sich angeblich das Blatt gewendet, ausgerechnet unter der Regierung Berlusconi. Denn als Marcello Dell’Utri im März 2010 ankündigte, er habe das fehlende Kapitel aus dem Roman Petrolio, stellten die Kriminologin Simona Ruffini und der Anwalt Stefano Maccioni unverzüglich einen weiteren Wiederaufnahmeantrag, den sechsten – diesem Antrag wurde stattgegeben. Warum?

Dell’Utri hatte angekündigt, das Kapitel 21 im März 2010 auf der Buchmesse in Mailand der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber die Person, die ihm das Kapitel angeboten habe, sei nicht wieder aufgetaucht, und so gab es in Mailand kein Kapitel 21, es tue ihm leid. „Der Anbieter war sicher verschreckt von all dem Medienrummel“, erklärt Dell’Utri mit dem Blick eines unschuldigen Lamms – vom Rummel der Medien Berlusconis also, nach Dell’Utris Ankündigung. Aber er habe das Kapitel in der Hand gehalten, beteuert der Senator: „Hektographierte Blätter aus Durchschlagpapier, wie es früher verwendet wurde, mit handschriftlichen Korrekturen und dem Titel ‘Blitzartige Beleuchtung von ENI’“, des italienischen Erdölmultis.

Pasolini schrieb seit 1974 an dem Monumentalroman Erdöl (Petrolio). Darin geht es in kaum chiffrierter Form um die Ermordung des ENI-Chefs Enrico Mattei. Der nach dem Krieg mächtigste Mann Italiens war 1962 aus Catania auf Sizilien kommend mit seinem Flugzeug abgestürzt. 2003 konnte Untersuchungsrichter Vincenzo Calia belegen, was viele seit über vierzig Jahren vermuteten: Der Absturz war ein Mordanschlag. Denn Mattei hatte viele Feinde in Wirtschaft und Politik, in Italien und den USA. Mattei hatte für eine Unabhängigkeit gegenüber dem US-amerikanischen Erdöl plädiert und verhandelte eigenständig Sonderkonzessionen und direkte Lieferungen mit den Maghrebstaaten. Das erlaubte sich damals kein Mensch und kein Staat der Welt ungestraft. Und Mattei hatte mächtige Gegenspieler in den eigenen Reihen, Eugenio Cefis etwa, den Gründer der Geheimloge P2, der sein Nachfolger wurde. Schon 1970 war der sizilianische Journalist Mauro De Mauro den Mördern Matteis auf die Spur gekommen, als De Mauro für den Filmregisseur Francesco Rosi im sizilianischen Mafiamilieu recherchierte. Im September 1970 wurde Mauro De Mauro von der Mafia entführt und ermordet, unter Mithilfe der Geheimdienste. Sein Leichnam wurde nie gefunden. In Sizilien vermuten viele, sein Leichnam sei in einen der Betonpfeiler der Autobahn Palermo–Catania eingemauert. 1974/75 war Pasolini mit demselben Stoff beschäftigt und baute seinen Roman Petrolio um die Figur Eugenio Cefis auf. Aber das Buch handelt von mehr als nur dem Mord an Mattei. Pasolini entwirft ein umfassendes Sittengemälde Italiens, voller Spott und harter Attacken gegen Politiker und Industrielle, von der Zeit des Faschismus über die bei ihm wenig glorreich geschilderte Resistenza bis in die siebziger Jahre. Der Schriftsteller deckt die Verlogenheit der Machtelite auf, ihren kriminellen, weil oftmals über Leichen gehenden Charakter. Und Pasolini schreibt von der scheinbar unheilbaren Krankheit Italiens, dem Opportunismus, mit jeder politischen Richtung zu paktieren, wenn sich gemeinsame Interessen bieten. Dann arbeiten selbst Kommunisten mit Faschisten zusammen oder die Lega Nord mit sizilianischen Mafiosi und der Demokratischen Partei, wie heute in zahlreichen Provinz- und Kommunalregierungen. Pasolini hat in Petrolio Berichte der italienischen Geheimdienste gekonnt mit literarischen Beschreibungen und Zitaten von Dostojewski bis Artaud verschachtelt, webte staatlich zensierte Bücher mit ein und entwarf ein so dichtes und barockes Gemälde, daß jedem Italiener beim Lesen die Augen übergehen und ihm sofort klar wird, wer gemeint ist, ob Andreotti, Cefis, Mattei oder andere Mächtige der Republik.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.