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Inhaltsverzeichnis

LI 127, Winter 2019

Paris, Ort des Möglichen

Fortschritt neu denken – Zur ökologischen Umgestaltung der Stadt

(...)

Jedes politische Projekt trägt eine Fortschrittsforderung in sich. Entscheidend ist jedoch: Was bedeutet Fortschritt heute? Fortschritt kann nicht mehr einfach in der unendlichen Akkumulation von Reichtümern und Technologien als Selbstzweck bestehen: Sein Ziel muß das Wohlbefinden aller, insbesondere der Schwächsten, sein, er muß zu einem Gemeingut, einem allseits geteilten Streben werden. Das erfordert einen Kampf gegen die Ideologien der Angst und des Niedergangs, gegen den Defätismus. Wir haben die Pflicht, gegen die Erderwärmung und gegen die soziale Ungleichheit zugleich zu kämpfen.
     Es ist nicht nur so, daß man die soziale Krise nicht lösen wird, ohne die ökologische Krise zu regulieren, sondern beide Krisen verstärken einander. Man kann nicht das Gefühl haben, sich an einem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, wenn man ins Abseits gestellt wird, wenn man als ein Kostenfaktor und nicht als Bereicherung bezeichnet wird. Umgekehrt führen die Folgen der Erderwärmung zu mehr sozialer Ungleichheit, weil der Klimawandel als erstes und am härtesten diejenigen trifft, die am wenigsten haben.
     Wenn Fortschritt hingegen nicht mehr in der Akkumulation von Ressourcen besteht, können wir akzeptieren, diese Ressourcen mit anderen zu teilen. Wenn Fortschritt nicht mehr ökonomisches Wachstum um jeden Preis bedeutet, können wir uns weigern, daß dieses Wachstum zum Schaden anderer erzielt wird. Wenn Fortschritt nicht mehr die unendliche Ausbeutung der endlichen Ressourcen unseres Planeten bedeutet, können wir uns dazu entschließen, unsere Umwelt zu schützen.
     Um zu verstehen, was Fortschritt sein könnte, wenn er nicht mehr ausschließlich das bisher Implizierte meint, müssen wir unseren Mitbürgern zuhören. Etwas bricht sich Bahn. Ebendem gilt es, Gehör zu schenken. Die Zivilgesellschaft ist oft einen Schritt voraus. Sie sagt uns, daß der Mensch sich nicht außerhalb seiner Umwelt betrachten kann, daß er weder an der Spitze noch im Zentrum von allem steht, sondern schlicht und einfach ein Teil alles Lebendigen ist. Und weil er ein Teil alles Lebendigen ist, muß er seine Sichtweise radikal ändern, um zu begreifen, daß der Fortschritt keiner ist, wenn er nicht allen zugute kommt.
     Insofern ist der Ultraliberalismus eine Sackgasse, weil er zwar das Individuum berücksichtigt, von seiner Umwelt aber völlig abstrahiert, während ersteres ohne die zweite nicht überleben kann und die Zukunft und das Glück des Individuums über den Schutz und die Wiederentdeckung seiner Umwelt verläuft. Wir müssen einen neuen Vertrag zwischen dem Menschen und seiner Umwelt schließen, sei es die Natur, die ihn umgibt und ernährt, oder die Stadt, in der er lebt. Das Tun des Menschen darf nicht mehr dem eines Raubtiers entsprechen, das sich unablässig nimmt, ohne zurückzugeben. Was hier auf dem Spiel steht, betrifft unsere grundlegendsten Rechte.
     Wie kann man seine Freiheitsrechte ausüben, wenn der Temperaturanstieg und ausgelaugte Böden einen von dem Stück Land vertreiben, das man bestellt? Wie soll man nach Gleichheit streben, wenn von den heftigsten und immer zahlreicheren Klimaereignissen gerade die Schwächsten am härtesten betroffen sind? Wie kann man an die Würde des Menschen glauben, wenn man diejenigen, die vor der Welt, die wir geschaffen haben, Zuflucht suchen, vor den Toren unserer Menschlichkeit stehenläßt? Ich glaube, daß uns dieselbe Verantwortung zukommt wie dem Nationalen Widerstandsrat zu seiner Zeit: Wir müssen uns neu erfinden und die Grundlagen einer Gesellschaft legen, die es einem jeden gestattet, seinen Platz zu finden. Was heute auf dem Spiel steht, kann uns in ein neues Zeitalter eintreten lassen und unser kollektives Schicksal für mehrere Jahrhunderte bestimmen.

(...)

Ich glaube an die partizipative Bürgerdemokratie. In Paris haben wir Initiativen entwickelt, die den Pariserinnen und Parisern erlauben, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen und sich ins Leben ihrer Stadt einzubringen. Vor allem dank der „Freiwilligen-Aktionen“, in denen sie sich für die demokratische Debatte, für Solidarität oder für das Klima engagieren, sind sie das, was ich die Antikörper gegen die Krankheiten der Demokratie nenne. Diese Demokratie, die dem Bürger seinen wahren Platz einräumt, darf aber nicht den Interessen von Politikern dienen, die sich aus ihrer Verantwortung stehlen wollen, daher bleibt auch die repräsentative Demokratie gewählter Vertreter wichtig.
     Bisweilen scheint die Bedeutung des Wortes „Mandat“ in Vergessenheit zu geraten. Wenn wir jemanden mit einem Mandat betrauen, geben wir ihm den Auftrag, in unserem Namen zu handeln. Als von den Pariserinnen und Parisern mandatierte Bürgermeisterin handle ich in ihrem Namen. Für einen gewählten Mandatsträger bedeutet das Mandat Verantwortung, es ist weder eine Belohnung noch ein Titel. Als Bürgermeisterin von Paris lebe ich mein Mandat jeden Tag, ich muß mich mit demselben Engagement und derselben Effizienz um die Löcher in den Straßen und die Renovierung des Théâtre du Châtelet, um die Frage des Schulfrühstücks und die Luftverschmutzung, um die Straßenbaustellen und den kostenlosen Nahverkehr für Kinder, Senioren und Behinderte kümmern.
     Diese Themen des alltäglichen Lebens können nicht alle mittels Partizipation der Bürger geregelt werden. Das bedeutet, daß wir das Mandat wieder neu mit Sinn erfüllen müssen. Wenn wir jemandem ein Mandat verleihen, damit er in unserem Namen handelt, dann deshalb, weil wir dieser Person vertrauen. Dieses Vertrauen kann nur einmal alle fünf Jahre (im Falle des Präsidenten) oder alle sechs Jahre (im Falle eines Bürgermeisters) zum Ausdruck gebracht werden. Da Vertrauen auf Wahrheit beruht, halte ich bei der Durchführung öffentlicher Entscheidungen absolute Transparenz für wesentlich. Eine partizipative Demokratie besteht aus Bürgern, die deutlich machen, was sie wollen, und die tun, was sie für alle beschlossen haben, und die über das wachen, was für alle getan wird.
     Dieses Vertrauen muß auch mit der Zeit geschaffen werden. Es ist das Ergebnis bereits ausgetragener Kämpfe und wird in den kommenden Kämpfen wachsen, es ist die Frucht der Treue zu den eigenen Ideen und nährt sich von einer Vision für die Zukunft, es ist ein persönliches, fast intimes Band, das einen Bürgermeister mit denen verbindet, für die er sich tagtäglich engagiert, ohne je der Komödie der Macht zu erliegen.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.