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LI 138, Herbst 2022

Kaiaimunutektur

Die Geisterhäuser Neuguineas und die Lebensräume der Zukunft

Geister, Gespenster und Phantome bevölkern erneut die Wissenschaften und die Künste (falls sie jemals daraus verschwunden waren). Dies läßt sich mitunter durch die neue Unheimlichkeit der Natur, durch rasante technologische Entwicklungen und durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Konstruktionen erklären, die den Bereich des Rationalen oft überschreiten. Die Logik der globalen Finanzmärkte, ihrem Verhalten nach immer menschenähnlichere Roboter und künstliche Intelligenzen und von Menschen verursachte „Naturkatastrophen“ stellen den westlichen Rationalismus und seine klare Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Menschen und Nichtmenschen, aktiver und passiver Materie, dem Säkularen und dem Nichtsäkularen, dem Realen und dem Imaginären gleichermaßen in Frage.
     Um sich in der zeitgenössischen Wirklichkeit zurechtzufinden, die durch die Erosion solch scheinbar etablierter westlich-moderner Kategorien gekennzeichnet ist, sind Phantome, Gespenster und Geister in der Tat mächtige kulturelle Konzepte. Darunter lassen sich, in einem sehr allgemeinen Sinn, unsichtbare oder schwer faßbare – reale oder imaginäre – Akteure verstehen, ungeachtet dessen, ob sie körperlich oder nur in unseren Vorstellungen existieren, die unsere materielle (Um)welt prägen. Dazu gehören zum Beispiel: ehemals existierende Personen oder Personengruppen, sehr kleine oder sehr große Dinge oder Wesen, mentale Bilder und soziokulturelle Erzählungen, vernachlässigte Vergangenheiten und imaginierte Zukünfte, Hoffnungen, Träume und Ängste.
     In vielen Kulturen nahmen und nehmen Geister eine wichtige Stellung ein. Dies besonders in Papua-Neuguinea, wo Geister (spirits) traditionell in einer eigenen Gebäudetypologie materialisiert wurden, die es ermöglichte, mit ihnen umzugehen: in den Geisterhäusern (spirit houses). Diese Häuser, seltsam expressive Konstruktionen, die außerhalb des Südpazifiks nach wie vor nur wenige kennen, sind nicht nur Häuser für Geister. Seit sie in den 1980er Jahren nach langer und anhaltender kolonial-missionarischer Aktivität zum Verschwinden gebracht worden waren, scheinen sie sich vielmehr selbst in Geister verwandelt zu haben. Nun prägen sie das kulturelle und soziale Leben Neuguineas in einem immateriellen Zustand – nicht durch ihre Anwesenheit, sondern gerade als Abwesende. Anstatt wie früher das Zentrum sozialer Gemeinschaften zu verkörpern und als Bezugspunkte kultureller Errungenschaften und Garanten kultureller Identität zu dienen, haben sie durch ihr Verschwinden eine Leere zurückgelassen, die man versucht in unterschiedlichen Formen zu beschwören und wiederzubeleben, was zunehmend einer ökonomischen und touristischen Logik folgt. Die Geisterhäuser sind daher in einem doppelten Sinne geisterhaft: als erinnerungsgesättigte und mit Verlusterfahrungen aufgeladene Monumente, die nun keinen Körper mehr besitzen und nur aus Erzählungen und einigen wenigen Photographien hervortreten; und als soziale und kulturelle Leerstellen, die sich nach und nach mit historischen, zeitgenössischen und auf die Zukunft gerichteten Projektionen füllen.
     In der westlichen Vorstellungswelt wurde traditionelles Bauen, meist nicht euroamerikanischen Ursprungs, oft dazu benutzt, um Konzepte einer „Architektur ohne Architekten“, einer „anonymen“, „primitiven“ oder „vernakulären“ Architektur zu entwerfen, die von einem „native genius“ durchdrungen sei. Auch wenn diese Kategorien gute Absichten zum Ausdruck bringen, indem sie Alternativen zur Globalisierung der Moderne aufzeigen, so schwebt doch häufig der alte koloniale Mythos der „primitiven Hütte“ über ihnen. Indem primitive Anfänge, vordergründige Einfachheit und Exotik in den Fokus treten, wird ein Verständnis für den wahren Reichtum und die Komplexität dieser Gebäude und die Kulturen, die sie erbauten, vielfach verschleiert. Ein solches Verständnis ist jedoch dringender erforderlich denn je, in einer Zeit, in der es offensichtlich geworden ist, daß die kapitalgetriebene, durch Rohstoffabbau befeuerte und nach modernen Grundsätzen vollzogene Globalisierung den Weg in den planetarischen Ruin weist. Spätestens jetzt, da der Fortbestand der menschlichen Existenz ernsthaft gefährdet ist, müssen wir viele der kulturellen Konstruktionen, die bereits unter vertrauten Bezeichnungen innerhalb vorwiegend westlicher Kategorisierungssysteme verstaut wurden, neu bewerten und neu denken.
     Im Anthropozän, wie das gegenwärtige Zeitalter gemeinhin genannt wird, wird dem Anthropos zugeschrieben, zu einer geologischen Kraft geworden zu sein, die grundlegende Prinzipien der Moderne umstößt (bzw. sie als Abstraktionen mit beschränkter Gültigkeit entlarvt), allen voran die Trennung von „Natur“ und „Kultur“. Da sich Natur und Kultur unter den Bedingungen des Anthropozäns offensichtlich nicht mehr auseinanderhalten lassen, wäre es nicht sinnvoll, sich Kulturen und Bau- und Umweltpraktiken zuzuwenden, in denen diese Trennung nie vollzogen wurde, um Denk- und Handlungsweisen zu entwickeln, die den Umständen des Anthropozäns angemessener sind?

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.