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Cover Lettre International 38, Esther & Jochen Gerz
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Inhaltsverzeichnis

LI 38, Herbst 1997

Es war einmal

Che Guevara - Parabeln eines charismatischen Untergangs

(...) Die oberflächliche Würdigung der Rolle Che Guevaras greift in erster Linie auf Symbole und Ikonen zurück. Einige davon ergeben eine buntschillernde Boutiquenversion: Antonio Banderas spielt eine Art Klischee-Che in der Kinofassung von Sir Andrew Lloyd Webbers Evita. So wie ihn Alberto Korda fotografiert hat - mit einem Ausdruck unbezähmbaren Trotzes auf dem Gesicht -, wurde Che zum Idol der sich "revolutionär" gebärdenden Generation der sechziger Jahre.

Die Anziehungskraft des Che-Kults hängt zum großen Teil mit der Gnade eines frühen und romantischen Todes zusammen. George Orwell hat einmal festgestellt, daß Napoleon Bonaparte als der größte Feldherr nach Alexander gelten würde, wenn er bei seinem Einmarsch in Moskau von einer Musketenkugel niedergestreckt worden wäre. Darüber hinaus starb Guevara nicht bloß, bevor die von ihm propagierten Ideale starben: Er starb auf eine Weise, die so etwas wie einen Aberglauben hervorrief. Er ritt auf einem Esel unter den verarmten Campesinos des altiplano umher. Mehr als einmal sah er seinen Tod voraus und prophezeite sogar die näheren Umstände seines Dahinscheidens. Er wurde von denjenigen verhöhnt und verraten, die zu befreien er sich vorgenommen hatte. Sein Beruf war die Heilung von Kranken. Die Fotos mit seiner bärtigen, halbnackten und geschundenen Leiche ließen einen unweigerlich an Gemälde mit der Kreuzabnahme denken.

Die CIA und ihre Verbündeten aus den Reihen des bolivianischen Militärs hackten Guevara die Hände ab, um einen Fingerabdruckvergleich mit in Argentinien aufbewahrten Akten vornehmen zu können; die konservierten Hände wurden dann später von einem Überläufer aus La Paz nach Kuba zurückgebracht. Vielleicht sollten wir dem kubanischen Regime dafür dankbar sein, daß es auf eine ständige Ausstellung der mumifizierten Relikte nach dem Vorbild des Lenin-Mausoleums verzichtet hat. Bei meinen Recherchen in Havanna fand ich übrigens heraus, daß die Fotografien mit der Leiche Guevaras nie in Kuba gezeigt worden sind. "Das kubanische Volk", sagte mir jemand im Nationalen Filmarchiv mit ernstem Tonfall, "ist daran gewöhnt, den lebenden Che Guevara zu sehen." Und das tun die Kubaner dann auch, Abend für Abend, auf ihren Bildschirmen - Che als "Freiwilliger" beim Zuckerrohrschneiden, als Redner vor den Vereinten Nationen oder vor der Allianz für den Fortschritt, in Positur geworfen auf einer Lichtung der Sierra Maestra auf dem bolivianischen Hochland.

Eines der besonderen Dramen Lateinamerikas ist das der desaparecidos, der "Verschwundenen". Von Buenos Aires bis Guatemala-Stadt gibt es noch immer die Komitees schwarzgekleideter madres, die nach dem Verbleib ihrer Söhne und Töchter forschen. Und es gibt die "Wahrheitskommissionen", die die grausigen Beweise dessen, was geschehen ist, ans Tageslicht holen. Che Guevara war der berühmteste "Verschwundene" der Hemisphäre. Als John Lee Anderson, der Autor einer packenden Che-Biographie, das Ergebnis seiner Suche nach den sterblichen Überresten Guevaras veröffentlichte, war diese Meldung der Auslöser zur Gründung einer Bewegung der Angehörigen der desaparecidos Boliviens.

Eine andere Art der Beschreibung - und möglicherweise auch der Enttrivialisierung - von Guevaras Vermächtnis besteht darin, ihn als einen Urheber des "magischen Realismus" zu betrachten. In seinen Motorrad-Tagebüchern, die er zu Beginn der fünfziger Jahre als junger Medizinstudent während eines Motorradtrips quer über den Kontinent verfaßte, lesen wir in Guevaras eigener, jugendlich-unbekümmerter Prosa von seiner privaten Forschungsexpedition durch die Leprakolonien Lateinamerikas. Er feierte seinen vierundzwanzigsten Geburtstag in einer solchen Kolonie, irgendwo in der peruanischen Amazonasregion. Die Patienten schmissen ihm zu Ehren eine Party, gegen deren Ende er, beschwingt vom dort gebrannten Pisco, eine kleine Rede hielt. Er sagte: "Die Aufteilung Amerikas in instabile und illusorische Nationen ist eine pure Fiktion. Wir sind eine einzige Mestizenrasse mit bemerkenswerten ethnographischen Übereinstimmungen, von Mexiko bis hinunter zur Magellanstraße. Und deshalb sage ich mich hiermit los von jedem engstirnigen Provinzialismus und erhebe mein Glas auf Peru und auf ein Vereinigtes Amerika."

Als er dieselbe Szene später in einem Brief an seine Mutter schilderte, schrieb er: "Alberto, der sich als den natürlichen Erben Peróns ansieht, hielt eine dermaßen beeindruckende, demagogische Rede, daß sich die jubelnde Menge vor Lachen krümmte ... Ein Akkordeonspieler, dem die Finger der rechten Hand fehlten, hatte sich zum Spielen kleine Stöckchen ans Handgelenk gebunden, der Sänger war blind, und auch die übrigen waren fast alle aufs gräßlichste entstellt, was eine Folge der nervösen Form der Krankheit ist, welche in dieser Gegend weit verbreitet ist. Mit dem vom Fluß reflektierten Licht der Lampen und Laternen wirkte das Ganze wie eine Szene aus einem Gruselfilm. Die Gegend hier ist wunderschön ..."

Der junge "Che", der im alkoholisierten Zustand einem Publikum aus isolierten Aussätzigen irgendwo im tiefsten Dschungel die frohe Botschaft des Panamerikanismus bringt - das ist eine Szene, bei der Werner Herzog und Gabriel García Márquez möglicherweise Bedenken hätten, sie in ein Drehbuch aufzunehmen, beziehungsweise in einem Roman Gestalt annehmen zu lassen. (Einer meiner Freunde hat Márquez einmal sagen gehört, daß man tausend Jahre und eine Million Seiten brauchte, wollte man über Guevara schreiben. In seinem Sachbuch Operacion Carlota, einem auf unverhohlene, um nicht zu sagen verherrlichende Weise fidelistischen Abriß der kubanischen Intervention im angolanischen Bürgerkrieg, befaßt er sich auch kurz mit Guevaras früherem Abstecher in den Kongo.) Doch so unterschiedliche Schriftsteller wie Julio Cortázar und Nicolás Guillén ließen sich von Guevara inspirieren, und womöglich ruht eines seiner weniger vergänglichen Andenken in der regionalen literarischen Phantasie.

(Die Metaphorik dieser Texte tendiert eher zum Nationalistisch-Heroischen als zum Sozialistisch-Revolutionären. Obwohl er ein durch und durch orthodoxer Kommunist war, und ein Zeitgenosse Nerudas, verfaßte Nicolás Guillén 1959 eine Ode, in der er Guevara mit Marti und San Martin verglich. Julio Cortázar schrieb einen Totengesang auf Che, in dem er diesem seine eigenen Hände und seinen Stift als Ersatz für die von den Killern abgehackten Hände anbot.)

Wenn wir die Geschichte so interpretieren wie Anderson - als Chronik eines angekündigten Todes -, dann läßt sie sich vielleicht als eine klar erkennbare Abfolge von Kapiteln und Parabeln erzählen. Zunächst wäre da der Rebell: ein Typ à la James Dean und Jack Kerouac. Der junge "Che" - ein typisch argentinischer Spitzname, den man in etwa mit copain oder "Kumpel" übersetzen könnte - stammte aus einer irisch-spanischen Familie verarmter Aristokraten mit dem Namen Lynch. Er war ein Charmeur und ein kluger Kopf, aber auch ein Unruhestifter und Herzensbrecher. Die Phase jugendlicher sexueller Repression scheint bei ihm relativ kurz gewesen zu sein: In all seinen Schriften macht sich eine sympathische Offenheit hinsichtlich des Physischen und Libidinösen bemerkbar, wie man sie nur bei wenigen Berufsrevolutionären findet. Zu einer Zeit, als dies in Argentinien gefährlich sein konnte, war seine Familie antinazistisch und antiperonistisch eingestellt.

Ernesto spielte eine aktive, allerdings ziemlich theatralische Rolle bei den lokalen Aktivitäten der Schüler und Studenten; er half Flüchtlingen aus dem republikanischen Spanien und er war frech zu Lehrern und Professoren, die mit den Nazis sympathisierten. Der Junge ist noch nicht der Vater des Mannes, oder erst in zweierlei Hinsicht: Er haßt Perón nicht so sehr, wie es die anderen Mitglieder seiner Familie tun, denn Perón ist immerhin ein Nationalist und ein Feind der Yanqui. Und er leidet schwer an Asthma, einem Gebrechen, von dem er sich auf gar keinen Fall unterkriegen lassen möchte. Die Geschichte seiner Body-Building-Übungen, seiner Sportbegeisterung und seines Frischluftfanatismus, die allesamt darauf abzielten, seinen schwächlichen Körper zu stählen, läßt einen unweigerlich an (ausgerechnet) Theodore Roosevelt denken. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine besondere Betonung des "Willens", die für seine Geschichte von ausschlaggebender Bedeutung sein sollte.

Parabel Nummer zwei betrifft seinen Entschluß, Arzt zu werden. Dadurch machte er nicht bloß die Bekanntschaft erfahrener sozialistischer Mediziner, sondern lernte auch das Elend der Region aus eigener Anschauung kennen. Die Motorrad-Tagebücher verstärken einerseits das Outlaw-Image à la Dean und Kerouac, enthalten aber auch einige zutiefst bewegende, detaillierte Schilderungen dieses Abschnitts seiner Erziehung. Über den "radikalisierenden" Effekt des Medizinstudiums auf junge Idealisten aus dem Mittelschichtmilieu ließe sich ohne weiteres ein eigenständiges Buch schreiben. Bei seiner knatternden Tour quer über den südamerikanischen Kontinent lernte er den peruanischen Leprologen und Marxisten Dr. Hugo Pesce kennen, eine Begegnung, die ihn nachhaltig prägen sollte. Pesce, der Verfasser von Latitudes del Silencio, einer Studie über die Unterentwicklung der Andenregion, erhielt zehn Jahre später ein mit einer persönlichen Widmung versehenes Exemplar von Guevaras erstem Buch Der Partisanenkrieg. Es war offenkundig, daß sein Autor nicht bloß an einer Vergesellschaftung des Medizinsektors interessiert war. (Ein anderer aufmerksamer Leser jener ersten Buchveröffentlichung war Präsident John F. Kennedy, der es sich in Windeseile von CIA-Experten übersetzen ließ und nach der Lektüre die Aufstellung der Special Forces anordnete - eine Bestätigung der These Regis Debrays, wonach "die Revolution die Konterrevolution revolutioniert".)

Parabel Nummer drei präsentiert uns den glühenden Internationalisten. Guevara, in dem sich zwei Nationalitäten vereinten, heiratete eine Peruanerin und sorgte dafür, daß seine Kinder die mexikanische Staatsbürgerschaft erhielten. Man verlieh ihm die kubanische Staatsbürgerschaft, die er dann später wieder ablegen sollte. Er starb in einem Land, das nach Simon Bolívar benannt ist, in der Nähe eines Ortes, der den Namen eines Leutnants von Bolívar trägt. Er selbst sah sich am liebsten als Don Quijote, den ruhelosen Wanderer und unentwegten Kämpfer für die Gerechtigkeit. "Und wieder", schrieb er, als er Kuba verließ, "spüre ich Rosinantes ächzende Rippen zwischen meinen Stiefelabsätzen." (Alisdair MacIntyre hat diese Bemerkung mit einer Feststellung von Karl Marx verglichen, der darauf hingewiesen hatte, daß das "fahrende Rittertum" nicht zu jeder Gesellschaftsform passe.) Tatsächlich kam Guevara erst recht spät zum Marxismus.

Der entscheidende persönliche und politische Wendepunkt war ein Resultat seines Aufenthalts in Guatemala, wo er 1954 Zeuge der rücksichtslosen und zynischen Destabilisierung der Regierung Arbenz durch die CIA wurde.

Dieses düstere Kapitel ist bereits gut beschrieben worden, vor allem in Bitter Fruit, einem Buch von Stephen Schlesinger und Stephen Kinzer. Unser Wissen über den Staatsstreich, über die Mittäterschaft der USA und über die verheerenden Folgen für alle Guatemalteken, insbesondere für die Nachkommen der Maya-indigines, ist beträchtlich erweitert worden durch eine Reihe von Enthüllungen aus den Archiven der CIA und durch die Öffnung inoffizieller Massengräber, die sich wie ein Archipel über ganz Guatemala erstrecken. (Vgl. Peter Kornblums Kommentar zu den kürzlich veröffentlichten CIA-Plänen für Attentate auf die damalige guatemaltekische Führung, New York Times, 31.5.1997; Larry Rothers "Guatemala Digs Up Armys Secret Cemeteries", New York Times, 7.6.1997).

Anderson hat Guevaras Beteiligung an den Ereignissen mit minutiöser Genauigkeit nachgezeichnet. Guevara traf im Dezember 1953 in Guatemala ein, am Ende seines ausgedehnten Vagabundierens über den Kontinent. Er beschloß zu bleiben und nahm sich vor, sein Leben in verantwortungsbewußtere Bahnen zu lenken, denn er spürte, daß Revolution und Konterrevolution in der Luft lagen. Und sein Instinkt sollte ihn nicht trügen. Die Wahl des Reformpolitikers Jacobo Arbenz hatte genau das bewirkt, was die Reformer am meisten befürchtet hatten: ein Ansteigen der Erwartungen bei Revolutionären und Armen und die finstersten Befürchtungen seitens der US-Regierung. (Die fiebrige Atmosphäre, die damals in Guatemala herrschte, hat Gore Vidal in seinem Roman Dark Green, Bright Red sehr gut eingefangen.) Guevara bot dem neuen Regime seine Dienste als Arzt an und hoffte, man würde ihn als "barfüßigen Doktor" aufs Land zu den Campesinos schicken. Entnervt von der bürokratische Reaktion auf sein Angebot, suchte er, zunächst ohne größeren Erfolg, den Kontakt zum Milieu der staatenlosen Rebellen und Revolutionäre, die sich in Guatemala-Stadt eingefunden hatten: die Verlierer der Schlachten gegen Somoza, Trujillo und Batista. Bei seiner Ankunft hatte Guevara einen Brief nach Hause geschrieben, in dem es hieß: "Unterwegs bot sich mir die Gelegenheit, die Ländereien der United Fruit Company in Augenschein zu nehmen, und das machte mir einmal mehr bewußt, was für ein Unheil diese kapitalistischen Kraken sind. Vor dem Bild des ehrwürdigen, schmerzlich vermißten Genossen Stalin habe ich mir geschworen, daß ich nicht eher ruhen werde, bis diese kapitalistischen Kraken vernichtet sind. In Guatemala werde ich mich vervollkommnen ..."

Fidel Castros fehlgeschlagener, aber bereits legendärer Angriff auf die Moncada-Kasernen von Santiago de Cuba hatte im vergangenen Juli stattgefunden, und Guevara schloß sich einigen der ins Exil geflohenen Genossen Castros an (zunächst als Arzt eines dieser Kubaner). Alle Gespräche kreisten um die bevorstehende Konfrontation mit dem Koloß aus dem Norden und seinem einheimischen Krakengefolge. Und tatsächlich liest sich das Skript für die Ereignisse wie ein Leitfaden in Sachen elementarer Leninismus. Die Dulles-Brüder und ihre Freunde in Wirtschaft und Industrie leiteten eine bewaffnete Destabilisierung der rechtmäßig gewählten Regierung Arbenz in die Wege. Sie sicherten sich die Unterstützung benachbarter Oligarchen, zu denen auch der General Anastasio Somoza gehörte. Sie fanden und kauften eine militärische Marionette namens Castillo Armas. Und sie ließen eine Söldnertruppe in Guatemala einmarschieren. Guevara und seine "internationalistischen" Freunde beobachteten diese Entwicklungen mit einer Mischung aus Beschämung und Ungläubigkeit, davon überzeugt, daß ihre Vorhersagen über die Sinnlosigkeit des Reformismus bestätigt wurden, sozusagen direkt vor ihren Augen. Doch sie waren machtlos.

Von dem Staatsstreich, den er lange vorausgesehen und vergeblich abzuwenden versucht hatte, in das sichere Refugium der argentinischen Botschaft getrieben, verbrachte Guevara eine äußerst konzentrierte Zeit mit verzweifelten Militanten, die später, in den folgenden Jahrzehnten, Guerillaführer in El Salvador, Nicaragua und Guatemala werden sollten. Zusammen zogen sie die Lehren aus der Niederlage. Die wichtigste Ursache lag ihrer Meinung nach darin, daß Arbenz sich gegen eine Bewaffnung des Volkes gesträubt hatte. Als nächstes kam seine Weigerung, etwas gegen die geschickte Manipulation der einheimischen Presse durch die CIA zu unternehmen. Es war ein entscheidender Augenblick: Ein junger Mann empfing eine Reihe unauslöschlicher Eindrücke in einem für die persönliche Entwicklung maßgeblichen Alter. Bis dahin hatte Guevara, auch nach seiner eigenen Einschätzung, den Revolutionär bloß gespielt. Von nun an würde er nicht mehr über den Genossen Stalin witzeln. Er würde sich vielmehr die Unversöhnlichkeit des "sozialistischen Lagers" zu eigen machen und mit dem Studium der kanonischen Werke seines kürzlich verstorbenen, aber noch nicht in Acht und Bann getanen Generalsekretärs beginnen.

In der folgenden Parabel beschließt Guevara, daß er seine Lebensaufgabe gefunden hat. Guatemala muß gerächt werden. Der Imperialismus muß für seine Arroganz und Grausamkeit bezahlen. In einem schmerzerfüllten Brief an einen Freund schreibt er, daß die Regierung Arbenz besiegt und verraten worden sei wie die Spanische Republik, allerdings ohne deren großen Heroismus und deren Würde an den Tag zu legen. Voller Empörung weist er Berichte über Greueltaten regierungstreuer Kräfte zurück und läßt anschließend die ominöse Bemerkung fallen: "Man hätte gleich zu Anfang ein paar Exekutionskommandos einrichten sollen, denn das ist etwas anderes. Hätte es damals ein paar Erschießungen gegeben, wäre die Regierung in der Lage zum bewaffneten Widerstand gewesen."

Aus Guatemala vertrieben, lernt er in Mexiko den jungen Fidel Castro kennen: Er ahnt, daß dies eine schicksalhafte Begegnung ist. Wenig später intensiviert er sein Studium der kommunistischen Literatur und absolviert eine strapaziöse Ausbildung zum Guerillakämpfer. (Nach Aleksandr Fursenkos und Timothy Naftalis One Hell of a Gamble: Khrushchev, Castro, and Kennedy, 1958-1964 (Norton, 1997) ließ Guevara sich bereits im Jahre 1957 als reguläres Mitglied der Kommunistischen Partei Kubas einschreiben. Ikonographische Notiz: Als die Granma mit den Rebellen an Bord an der kubanischen Küste landet und in einen Hinterhalt gerät, bleibt, wie alle späteren Berichte hervorheben, die magische Zahl von zwölf Revolutionären übrig.)

Trotzki hat einmal gesagt, daß man den wahren Revolutionär nicht an seiner Bereitwilligkeit zu töten erkenne, sondern an seiner Bereitschaft zu sterben. Der von Castro, Guevara, Camilo Cienfuegos und Frank País geführte Krieg gegen das Batista-Regime gilt weithin als ein nahezu exemplarisches Beispiel dafür, wie man die "Herzen und Seelen" der Bevölkerung gewinnen und sich ihrer vorbehaltlosen Unterstützung vergewissern kann. Einige Spitzel, Deserteure und abtrünnige Genossen wurden auf der Stelle erschossen, doch es scheint, das Guevara an derlei Praktiken zunächst keinen Gefallen fand. Tatsächlich veranlaßte er, daß einer seiner Stellvertreter, ein bizarrer amerikanischer Landsknecht namens Herman Marks, unehrenhaft entlassen wurde, da dieser einen geradezu krankhaften Eifer entwickelte, wenn es um Vergeltungserschießungen und gleich auf dem Schlachtfeld vollzogene Bestrafungen ging. Allerdings hat Anderson ein vielsagendes Detail ausgegraben. Als er gleich nach der Machtübernahme in Havanna von Castro mit der Säuberung und Disziplinierung von Batistas Polizeiapparat beauftragt wurde und in der Hafenfestung La Cabaña ein provisorisches Standgericht einrichtete, da erinnerte sich Guevara an Herman Marks: Er rief ihn zu sich und machte ihn zum Scharfrichter.

Manche haben diese Art "Volksgericht" als eine notwendige und sinnvolle Maßnahme gerechtfertigt. Herbert Matthews von der New York Times hat den Versuch unternommen, solche Tribunale aus "kubanischer Sicht" zu verteidigen. (Die Zeitung verzichtete auf den Abdruck seiner Elaborate.) Andere Auslandskorrespondenten zeigten sich jedoch entsetzt angesichts der von Castro persönlich angeordneten Lynchprozesse, die in Havannas Sportstadion abgehalten wurden. Raul Castro ging sogar noch weiter: In der Stadt Santiago ließ er siebzig gefangene Batistanos vor einem Graben antreten, um sie dann mit Maschinengewehren niederzumähen. Wenn Guevara von Freunden oder Familienmitgliedern auf solche Dinge angesprochen wurde, hatte er drei Verteidigungen parat. Erstens, so behauptete er, würde jedem Angeklagten in La Cabaña eine Anhörung gewährt. Das Tempo, mit dem die Exekutionskommandos arbeiteten, ließen dieses Argument jedoch mehr als dürftig erscheinen. Zweitens, schreibt Anderson, "wurde er nie müde, seinen kubanischen Genossen einzuhämmern, daß Arbenz in Guatemala vor allem deshalb gestürzt werden konnte, weil er seine Armee nicht von illoyalen Elementen gesäubert hatte - ein Fehler, der der CIA die Möglichkeit gegeben habe, sein Regime zu infiltrieren und zu beseitigen". Und drittens, so entgegnete er auf die Proteste eines ehemaligen Arztkollegen, wobei er jede Maske fallen ließ: "In dieser Situation tötet man entweder als erster oder man wird selber getötet."

Methoden und Rechtfertigungen dieser Art neigen dazu, sich zu verselbständigen, nicht als "Notmaßnahmen", sondern als administrative Vorkehrungen gegen jede Form von Opposition. Das war das Argument, das Rosa Luxemburg in ihrer ursprünglichen Kritik des Leninismus entwickelt hatte. In einem aufschlußreichen Interview, das Guevara dem sozialistischen amerikanischen Professor Maurice Zeitlin am 14. September 1961 gewährte, kamen die beiden auch auf Rosa Luxemburg zu sprechen. Im Verlauf ihrer Unterhaltung hatte sich der frisch gekürte Minister mit Nachdruck für den "demokratischen Zentralismus" ausgesprochen und das sowjetische Beispiel gepriesen. Dabei hatte er sich kategorisch dagegen ausgesprochen, Fraktionen oder Dissidenten ihre Ansichten selbst innerhalb der kommunistischen Partei auch nur zur Diskussion stellen zu lassen. Als Zeitlin ihn nach seiner Meinung zu Rosa Luxemburgs diesbezüglichen Warnungen fragte, antwortete Guevara kaltschnäuzig, daß Rosa Luxemburgs Tod "eine Folge ihrer politischen Fehler" gewesen sei; der "demokratische Zentralismus" sei "eine Herrschaftsmethode und nicht bloß eine Methode, um an die Macht zu gelangen". Somit war seine autoritär-zentralistische Einstellung eine Sache des Prinzips und kein Resultat irgendwelcher "taktischen" Erwägungen. Huber Matos und andere angeblich "bourgeoise", ins Gefängnis geworfene Unterstützer der ursprünglichen Revolution hatten das bereits zu spüren bekommen, ebenso wie die Trotzkisten, die es gewagt hatten, den Fidelismus einer "linken" Kritik zu unterziehen. (Das Interview ist dokumentiert im Anhang von Robert Scheers und Maurice Zeitlins Cuba: An American Tragedy, Penguin, 1964).

Die letzte Parabel ist die, in der Guevara erkennt, daß sein Reich gewissermaßen nicht von dieser Welt sein kann. Diejenigen, die damals mit der kubanischen Revolution sympathisierten, taten dies, weil sie ausdrücklich auf ein nicht-sowjetisches Modell hofften. In der Gestalt "Che" glaubten zumindest einige von ihnen, ihr Beispiel gefunden zu haben. Und damit hatten sie sogar recht, freilich auf eine andere Weise, als sie dachten. Als Privatperson war Guevara ein Kritiker des Sowjetblocks, welcher damals bereits in seine poststalinistische Phase eingetreten war: Der Sowjetblock war ihm zu lasch. Außenpolitisch strebten Stalins Nachfolger eine "friedliche Koexistenz" mit den USA an und in wirtschaftspolitischer Hinsicht schwebte ihnen ein System vor, das dem kapitalistischen nacheifern sollte. Es spricht einiges dafür, daß er insgeheim mit der sich damals herauskristallisierenden Position des Maoismus sympathisierte - insbesondere mit Lin Piaos Thesen über den "Gegensatz zwischen Land und Stadt", denen zufolge die verelendeten Bauern der Welt die im Luxus schwelgenden Städte umzingeln und überwältigen würden, und zwar allein durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit - und daß er sich vielleicht auch öffentlich dazu bekannt hätte, wenn da nicht die enge, wenn auch unechte Freundschaft zwischen den Castro-Brüdern und Moskau gewesen wäre.

Es ist kein Geheimnis, daß ihn der zwischen Chruschtschow und Kennedy ausgehandelte Kompromiß in der Raketenfrage ebenso erzürnte wie die im Grunde lauwarme Einstellung des Warschauer Pakts zur Revolution in der Dritten Welt. Im Februar 1965 hielt er bei einem Afro-Asiatischen Solidaritätstreffen in Algier eine Rede, in der er sich nicht scheute, den Kreml wegen seiner buchhalterischen Behandlung verarmter oder aufständischer Staaten als einen "Komplizen des Imperialismus" zu apostrophieren. Äußerungen wie diese und das allgemeine Chaos, das nach seiner Übernahme des Wirtschaftsministeriums entstanden war, prädestinierten ihn zur Zielscheibe für innerparteiliche Attacken seitens der streng doktrinären Elemente innerhalb der Kommunistischen Partei Kubas: Dabei handelte es sich um Leute, für die allein schon die Worte "Romantizismus" und "Abenteurertum" Anzeichen einer ideologischen Abweichung waren. Seine Absetzung als Wirtschaftsminister erfolgte unmittelbar auf seine Rückkehr aus Algier, und wenig später brach er nach Afrika auf, ohne einen klaren Auftrag und ohne eine bestimmte Position zu bekleiden.

Das Wort "romantisch" läßt sich auf seine tatsächliche Politik als Wirtschaftsminister kaum anwenden. Der französische Ökonom Rene Dumont, einer der vielen wohlmeinenden Marxisten, die Kuba während dieser Phase zu beraten versuchten, erinnert sich daran, daß er eine umfangreiche Studie über die "landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" verfaßt hatte. Er teilte Guevara mit, daß sich die Arbeiter in diesen Einrichtungen im Grunde als besitzlos empfanden. Er schlug vor, ein System von Belohnungen für diejenigen in Erwägung zu ziehen, die außerhalb der Saison irgendwelche Extraarbeiten verrichteten. Wie Dumont festgehalten hat, wollte Guevara nichts von diesem Vorschlag wissen. Statt dessen forderte er: "... sozusagen den lupenreinen sozialistischen Menschen, jemanden, der die merkantile Seite der Dinge vergaß und für die Gesellschaft arbeitete statt für den eigenen Profit. Dem industriellen Erfolg in der Sowjetunion (!) stand er äußerst kritisch gegenüber, denn wenn die Menschen dort arbeiteten und sich abrackerten und ihr Soll übererfüllten, dann taten sie das seiner Meinung nach nur, um mehr Geld zu verdienen. Er bezweifelte, daß der Sowjetmensch tatsächlich eine neue Sorte Mensch darstellte, denn bei näherer Betrachtung, so meinte er, unterschied sich dieser kaum von einem Yankee. Er weigerte sich, wider besseres Wissen an der Erschaffung `einer amerikanischen Gesellschaft' auf kubanischem Boden teilzunehmen."

An dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, daß Guevara sich nie ernsthaft mit der amerikanischen Gesellschaft auseinandergesetzt hat, daß er das Land im Grunde nie richtig besucht hatte - zumeist als Redner vor den Vereinten Nationen - und daß er ihm gegenüber nicht die geringste Neugier an den Tag legte. Als Maurice Zeitlin ihn fragte, was die Vereinigten Staaten seiner Ansicht nach tun sollten, antwortete Guevara: "Verschwinden!"

Angesichts der Ähnlichkeiten zwischen seinem spartanischen Programm und anderen berühmten Fiaskos und Tragödien wie dem "Großen Sprung nach vorn" muß man Guevara jedoch zugute halten, daß er auch schonungslos gegenüber sich selbst war: Er arbeitete ohne Pause, machte sich nichts aus persönlichem Besitz und stemmte auch dann seine Gewichte oder leistete schwere körperliche Arbeit, wenn keine Kameras zugegen waren. Auf die gleiche Weise wollte er an den Entbehrungen und Kämpfen derjenigen teilhaben, auf deren Rücken der Kalte Krieg in Afrika und anderswo ausgetragen wurde. Die Ermordung des kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba schien ihm genauso nahe zu gehen wie der Sturz von Jacobo Arbenz. Möglicherweise zählte er zu den wenigen Menschen, für die es keinen nennenswerten Unterschied zwischen theoretischer Überzeugung und praktischem Handeln gibt.

Und er hatte eine Eigenschaft, die für ihn sprach: Humor. Ich besitze eine Aufzeichnung von seinem Auftritt in einer frühen Folge der NBC-Fernsehsendung Meet the Press, wo er sich im Dezember 1964 einer Runde ernst dreinblickender Journalisten gegenübersah. Als diese ihn auf die "Bedingungen" ansprechen, die Kuba erfüllen müsse, um den Sonnenschein amerikanischer Anerkennung genießen zu dürfen, da entgegnet er mit einem breiten Lächeln, daß es keine solche Bedingungen geben sollte: "... schließlich verlangen wir ja auch nicht von Ihnen, daß Sie die Rassendiskriminierung abschaffen." Selbst ein so berufsmäßiger Skeptiker wie I. F. Stone ließ sich zu folgenden Worten hinreißen. "Vor ihm war mir noch nie ein Mann begegnet, den ich nicht nur als gutaussehend, sondern als schön empfand. Mit seinem gelockten rötlichen Bart sah er aus wie eine Kreuzung zwischen einem Faun und einem Sonntagsschulbild von Jesus ... Er sprach mit jener entschiedenen Nüchternheit, hinter der sich gewaltige apokalyptische Visionen verbergen können."

Wen die Götter vernichten wollen, dem heften sie vermutlich als erstes das Etikett "charismatisch" an. Die letzten Lebensjahre Guevaras sind eine Studie in Sachen unaufhaltsamer Abstieg. Er verlangte sich und seinem Körper immer mehr ab, griff immer stärker auf Ermahnungen und sein persönliches Beispiel zurück, doch er erreichte immer weniger. Im Fall der kubanischen Wirtschaft wurde die Debatte über "moralische" oder "materielle" Anreize immer verworrener, und am Ende entschied man sich für ein System materieller Pseudoanreize, das die arbeitende Bevölkerung in regelmäßigen Abständen mit Slogans und Parolen nach osteuropäischem Vorbild anzustacheln versuchte.

An der Front der "Weltrevolution" waren Guevaras trikontinentale Aktivitäten (in Asien, Afrika, Lateinamerika) mitunter ihrer Zeit voraus und manchmal hinkten sie ihr hinterher, doch so richtig Erfolg beschieden war ihnen im Grunde nie. So unterstützte er zum Beispiel eine katastrophale Guerillaoperation in der Wildnis seines argentinischen Heimatlandes - katastrophal insofern, als daß sie ein totaler Mißerfolg war und zum Tod der meisten Guerilleros und etlicher unbeteiligter Zivilisten führte, aber auch deshalb katastrophal, weil sie in Argentinien die mehr oder weniger kriminelle Phase der radikalen Politik einleitete. Mit dem exilierten Trotzki hatte er gemeinsam, daß ihn seine Intuition manch wichtige Vorhersage treffen und sogar die eine oder andere packende Nachbetrachtung verfassen ließ. Doch von einer neuen "Internationale" konnte er bloß träumen.

Er zählte zu den ersten, die die zentrale Bedeutung des Krieges in Vietnam erfaßten: Dieses ostasiatische Land war der Ort, wo sich das verhaßte amerikanische Imperium in moralischer und militärischer Hinsicht verwundbar gemacht hatte. Doch seine berühmteste Rede zu diesem Thema, in der er dazu aufrief, viele Vietnams zu schaffen, überall auf der Erde, mutete schon damals schwülstig an, und heute tut sie es noch mehr. Seine Reise nach Afrika, die dem Zweck diente, Mobutu und seine weißen Söldner zu verjagen und eine zweite Front gegen Apartheid und Kolonialismus zu eröffnen, war in moralischer und materieller Hinsicht von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen. Er wurde auf dem Schlachtfeld gedemütigt; der Putsch gegen Ben Bella in Algerien machte ihm ebenso einen Strich durch die Rechnung wie die Tatsache, daß die Tansanier plötzlich kalte Füße bekamen und ihn im Stich ließen. Als Guevara 1965 seine letzte Stellung am Tanganjikasee räumen mußte, da machte er sich keinerlei Illusionen: "Es war ein trauriges, ernüchterndes und beschämendes Spektakel. Ich mußte Männer zurücklassen, die mich anflehten, sie mitzunehmen. Dieser Rückzug hatte nicht die geringste Spur von Größe. Da war kein Hauch von Rebellion ... sondern nur ein Schluchzen, als ich, der Anführer des sich absetzenden Häufleins, dem Mann an der Bootsleine befahl, diese zu kappen."

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.