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Cover Lettre International, Paolo Pellegrin
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Inhaltsverzeichnis

LI 111, Winter 2015

Cloots letzte Nacht

(…)

Na endlich, sie schlafen, oder scheint es nur so? Reden sie nicht mehr, um sich selber zu entkommen? Das Schafott rückt näher, wer kann da noch schlafen? Oder wollen sie schlafen aus Trotz? Wenn das so einfach wäre. Wir alle, Hébert, werden noch lange genug schlafen können. Ein trüber Morgen naht, ein schmutziges Grau schleicht durch die Luken. Paine, mit Paine hätt’ ich gern noch einiges besprochen, aber der ist in einer anderen Zelle, auf der Karre, denke ich, werden wir uns sehen. Auch ihn kann der Unbestechliche nicht ertragen, Paine hat ihn durchschaut wie ich. Wenn einer tugendhaft ist, ohne sich den Rock der „Tugendhaftigkeit“ umzuhängen, dann ist er es, der Paine. Auch ein Ausländer, Engländer, sehr verdächtig. So einfach ist das bei gewissen Tugendhaften. Die Heuchelei, die schlimmste, die sich selber nicht bemerkt, gibt es nicht nur hier, in Frankreich, ich traf sie überall. Oh London. Diese anglikanische Frömmigkeitsjaulerei, gepaart mit gesundem Geschäftssinn und vornehmer Brutalität. Oh heilige Dreifaltigkeit des British Empire, in der Linken die Bibel, in der Rechten die Peitsche und auf dem Herzen die Geldbörse, welch weises Zusammenspiel, Geldmachen als Gottesdienst. Bei meiner Überfahrt von Lissabon nach London hatte ich Gelegenheit, die britische Disziplin zu bewundern, die der preußischen in keiner Weise nachsteht, beim Reffen der Segel. In der Biscaya erwischte uns ein Sturm, wie ich ihn nie erlebt hatte. Einige Matrosen, Männer, wie man mir versicherte, die „gepreßt“ worden waren, eine Praxis nicht nur bei der Kriegsmarine, wurden in die Wanten gejagt, um die Segel zu reffen. Einige dieser ungeübten Kerle fielen von den Rahen ins tobende Wasser, ich sah, während ich mich mit Seilen an der Reling zu sichern versuchte, ihre Köpfe für Minuten wie Bälle auf den ungeheuren Wellen tanzen, um dann zu verschwinden, gesichtslos, ohne Laut. Eine Rettung war sinnlos. Man schlug kein Kreuz über sie. Ein Mann weigerte sich, er heulte vor Angst, umklammerte die Beine eines Offiziers, der ihn mit Füßen traktierte, auf seinen Befehl hin wurde der Befehlsverweigerer ergriffen und gefesselt. Das alles geschah im Sturm, im Gebrüll der See, während das Schiff stampfte und zu kentern drohte, mich ersuchte man dringlich, unter Deck zu gehen, ich hätte auf dem Achterdeck nichts zu suchen. Am nächsten Morgen, die See hatte sich beruhigt, vollzog sich eine Zeremonie, von der ich gehört, die ich aber nie erlebt hatte. Die gesamte Mannschaft, ein jeder in der Ordnung seines Ranges, war angetreten, die Offiziere auf dem erhöhten Achterdeck, die Unteroffiziere davor auf dem Hauptdeck, die übrige Mannschaft dahinter, vom Matrosen bis zu den Schiffsjungen der Kombüse. Der Kapitän stand in der Nähe des Rudergängers, gab seinem ersten Offizier ein Zeichen, der einem Unteroffizier ein Zeichen gab, ein Mann rührte die Trommel, verstummte. Der Delinquent stand halbnackt, gefesselt am Hauptmast, von zwei Matrosen gehalten, den Kopf nach unten geneigt, zusammengesunken, als sei er schon tot. Der Kapitän verkündete das Urteil. Der Gefesselte zeigte keine Reaktion. Matrosen und Schiffsjungen standen starr, mit leeren Blicken, die Offiziere wirkten gelangweilt, angeekelt. Kielholen war das Urteil, dreimal. Der Verurteilte wurde zum Bug geschleppt, mit einem langen Seil verbunden, ins Wasser geworfen, um vom Bug bis zum Heck durchgezogen zu werden, mehrere Male üblicherweise, je nach Schwere des Vergehens. Über seinem Kopf ein Schwarm Möwen, die dem Versinkenden nachkreischten, als stritten sie schon um seine Leiche. Der arme Teufel war so schmächtig und dürr, daß der Wind durch ihn hindurchpfiff – er mochte ein Schneider gewesen sein oder ein kleiner Krämer, und niemand zweifelte daran, daß er die Tortur nicht überleben werde. Man zog ihn achtern hoch wie einen kleinen nassen Sack, mit gebrochenem Genick und zerdrückten Rippen, sein von Muscheln und Planken zerschrundener Kinderkörper blutete aus unzähligen Wunden, er war, so hoffte ich, vorher noch erstickt. Die Matrosen schlugen ihn in ein grobes Tuch und warfen ihn ins Meer. Da hat er Ruhe. Das ist Disziplin, so errichtet man ein Weltreich. Die Preußen können es auch. Mein seliger Vater wollte ja, daß ich Priester werde, aber die verführerischen Einflüsterungen meines Jesuitenonkels verhinderten das, als er Gesandter war in Berlin. Er lockte mich also nach Brandenburg, der Freund des Königs und Voltaires, damit ich dort, in einer Militärakademie, eine Ausbildung erhielte, die als die beste für Offiziere erachtet wurde. Was ist dieses Preußen? Was ist sein innerster Geist? Wie das Kielholen auf einem englischen Schiff sollte man die Zeremonie des Spießrutenlaufens auf einem Exerzierplatz bei Potsdam erlebt haben. In den Strafritualen offenbart sich der Geist einer Herrschaft, so wie das reinigende Feuer zum katholischen Spanien gehört und das Kielholen zu England, dessen höchstes Gut das Schiff ist, der Bezwinger des Meeres. Der Gewehrlauf, oder die Rute als Ersatz, mit der geschlagen wird, ist die Strafe für Militärdelinquenten, neben dem Erschießen nota bene. Züchtigungen erfolgen schon bei geringsten Vergehen, wie der nachlässigen Ausübung einer Ehrenbezeugung Offizieren gegenüber, von Desertion nicht zu reden, welche mit dem Tod bestraft wird. Auch diese armen Teufel, denen man das „Ehrenkleid“ der preußischen Armee über die Haut gezogen hat, sind zumeist gepreßt, die wenigsten angeworben. Die Verachtung des Offizierskorps, dem ich als Offiziersanwärter zugehörte, gegenüber dem „Fleisch-Material“ der „einfachen“ Soldaten, die im Kriegsfall dazu bestimmt sind, aufgerieben zu werden, war unsäglich. Die allgemeine Haltung zynisch. Das erschien mir ekelerregend, ich hatte Mühe, meinen Abscheu zu verbergen. Wenn spätestens nach einer dritten Runde der Delinquent des Rutenlaufs zusammengebrochen am Boden liegt, mit Wasser übergossen in die Kaserne geschleift wird, wo er dann noch in der Nacht verendet, dann ist die Beleidigung der heiligen Majestät in Gestalt des Militärs gesühnt. Denn das Militär ist der Gott Preußens, sein Staat ein Gott. Der Staat aber ist das Militär, alles geschieht durch es, für es, mit ihm. Militär- und Staatsdienst ist Gottesdienst. Dabei glaubt der oberste „Diener“ dieses Staates nicht einmal an einen Gott. Natürlich nicht, er ist ja der Gott, dem sein Vater den geliebten Freund in jungen Jahren vor seinen Augen hinwegschoß. Das muß ihn gebrochen haben. Nun rächt er sich an allem. Ein sehr trauriger Gott, der lieber Musiker oder Dichter geworden wäre, der zärtlichste Liebesgedichte schrieb, bevor er als Hasardeur Tausende in den Tod jagte, in einen Krieg, den er verloren hätte, und damit seinen Staat, wäre ihm nicht der Zufall in Gestalt des russischen Peter zu Hilfe gekommen. Der junge Zar hat ihn gerettet, nicht mehr das englische Geld. Armer Friedrich, vergraben in seinem Ohne-Sorgen-Schlößchen, geliebt nur von seinen Hunden, ein Mann, der sich haßte, und damit alles, was „Mensch“ heißt. So unrecht hatte er nicht, was das unbegreifliche Phänomen Mensch betrifft. Wenn ich daran denke, welches Grauen der Mensch dem Menschen bereitet, dann graut mir vor dem Satz: „Sei menschlich.“ Der Mensch ist dem Menschen kein Wolf. Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch – das ist das Grauen. Und doch gebe ich ihn nicht auf, ich, der „Verrückte“, Anacharsis Cloots, ich gehe für ihn aufs Schafott, ich halte meinen Kopf hin, und mein letzter Ruf wird dem Menschen gelten, den ich befreien will von sich selbst, von allem, was niedrig an ihm ist und gemein, elend und feige. War das nicht unser gemeinsames Ziel, Unbestechlicher? Ist deine Eifersucht so groß, daß du niemanden neben dir erträgst, der diese Befreiung dringlicher wünscht als du? Der dir schaudernd bewußt macht, daß du zu KLEIN bist, eine Befreiung zu denken, die über deinen Horizont hinausgeht? Ich wurde kein preußischer Offizier, mich ekelte dieser Staat an, sein Militär und seine Disziplin, welche nichts ist als selbstgefällige Grausamkeit, die ein Pflichtbewußtsein feiert, die kaum ihre Menschenverachtung und tausendfachen Mord unter dem „Glorienschein“ des Staats verbirgt. Mir wurde angst bei der Vorstellung, diese Maschinerie, einmal ins Gigantische gewachsen, könnte Europa bedrohen und alles im Namen eines vergotteten Staates verschlingen, ein gefräßiges, unersättliches Ungeheuer, freudlos, sinnenfeindlich, erbarmungslos, lieblos, den Menschen mit Ruten abrichtend oder zusammenpressend zwischen Aktendeckeln einer disziplinierenden Bürokratie. Nein, mein Onkel konnte mich nicht halten, dort, in Preußen-Brandenburg, wo das Wetter unerträglich ist, kalt wie der Staat, das Essen ungenießbar und die Frauen hölzern und verschlossen. Die einzig kleine Freude war mir das Französische, in dem ich mich zuweilen unterhalten konnte, mit den Hugenotten der Stadt. Nein, mich zog es weg aus Berlin, ich ging auf Reisen, durch den Süden Europas bis nach London, und dann – nach PARIS, in die Stadt meines Herzens, meiner Träume. Dort gewann ich Freunde, dort wehte eine andere Luft, dort gärte es, dort explodierte der Vulkan eines Volkes, das seine Ketten sprengte. Dort konnte ich meine Schriften verfassen, veröffentlichen, dort -– endlich – feierte ich das Fest der VERNUNFT. Und dort, im Paris der Revolution, hatte ich gesehen, was wahre Disziplin ist, jene, die von innen geboren wird, aus einer Idee, die nicht hineingeprügelt werden muß, die erwächst aus einem unbedingten Freiheitswillen und der Liebe zum Mutter- und Vaterland. Darum werden unsere Armeen siegen, auch ohne dich, Maximilian, selbst, wenn sie hungern und frieren, keine Munition mehr zu verfeuern haben, sie kämpfen noch mit bloßen Händen, ihr Wille ist stärker als Kanonen. Sie treten nicht als dressierte Masse an, sondern als freiwillige Vereinigung freier Individuen, die der gleiche Wille beseelt. Die Versklavung des einzelnen, die Erdrosselung seiner Freiheit führt zum Tod jedes Staats. Was ist, Hébert, kannst du nicht schlafen? Warum auch? Bald schlafen wir alle, und lang. Ich hör’ schon das Rasseln der Schlüssel. Die Karren sind bereit. Ich bin müde, laß mich. Ihr anderen auch. Ja, gut, wir wollen uns umarmen, ein letztes Mal, das kann uns keiner verbieten. Bald werden sie unsere Namen ausschreien, und wir werden wie gehorsames Vieh uns binden lassen, um auf die Karren verfrachtet zu werden, die Führer des Volks, seine gewählten Repräsentanten. Wer schützt uns noch? Das Volk? Die wankelmütige Bestie – vor Tagen hat sie uns zugejubelt, wenn wir dahin sind, jubelt sie anderen zu. Aber auch du, Maximilian, wirst diesen Weg antreten, auch du wirst auf einer Karre landen, die dich zu deiner Guillotine führt, du hast die Bestie wild auf den Geruch von Blut gemacht, und wenn sie Blut gerochen hat, will sie mehr, schon als Ersatz für ihren dauernden Hunger, den du, Unbestechlicher, nie stillen konntest, sie braucht das Blut dafür, und wenn alle geopfert sind, dann wollen sie deins. Ach, er schlurft vorüber, der Schließer, wir sind noch nicht an der Reihe, klirrt mit seinen Schlüsseln wie mit Glöckchen zum Morgengebet. Der fröhliche Vorbote des Henkers, beruhigt euch, Proli, Pereira, es ist noch zu früh, da steht noch kein Pariser auf. Das Bluttheater braucht grölende Massen, sonst bleibt die „Tugendfeier“ wirkungslos. Die Franzosen sind ein theatersüchtiges Volk, es liebt große Gesten, die schneidende Präzision eines Satzes, eines Bonmots; die Guillotine ist präzise, ihre Sätze sind scharf und genau.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.