LI 103, Winter 2013
Holger
Elementardaten
Textauszug
Dieser Schrei, als ich vor dem Fernseher saß, gellte mir noch tagelang in den Ohren. Ich sah einen halbnackten Mann, der von zwei anderen Männern in Uniform weggeschleppt wurde. Sondernachrichten. Der verhaftete Mann schrie, lange und durchdringend. Ich kannte diesen Mann. Dieser Schrei sägte mir durchs Hirn und ließ mich nachts aus dem Schlaf aufschrecken, als schrie ich selbst. Ein Schrei, in dem, wie ich zu vernehmen meinte, seine ganze Wut, seine Verzweiflung, sein Haß, eine tiefe Verwundung seiner Seele ausbrach angesichts seiner Hilflosigkeit. Er konnte dem Unrecht nicht wehren, das er überall am Werke sah, hier und in der „Dritten Welt“, angesichts der Ausbeutung der Schwachen durch die Mächtigen. Ein Schrei der Ohnmacht, nicht nur aus Schmerz wegen der auf seinem entblößten Rücken verdrehten Arme, so daß die Rippen seines ausgemergelten Körpers grotesk hervortraten. Verdreht von Polizeibeamten, denen es, so schien es, eine gewisse Befriedigung bereitete, diesen Mann nun endlich wie ein erlegtes Stück Wild nach erfolgreicher Jagd präsentieren zu können. Das Fernsehen war „live“ dabei und befriedigte das „öffentliche Interesse“, von dem ich ein Teil war. So wurde ich Zeuge dieses Schreis eines Knochenmanns, der sich bis ins Gefängnis als Hungerstreik verlängerte, an dem er, wie es hieß, verstarb. Er starb noch an anderem.
(…)
Gebers war ein unauffälliger, stets freundlich lächelnder Lehrer, dessen Hauptaufgabe darin bestand, Unterrichtspläne zu erstellen, und der seine Fächer Deutsch und Geschichte deshalb kaum mehr unterrichtete. Seine Vorliebe für Plaudereien aus seiner Wehrmachtszeit war sattsam bekannt. Als ehemaliger Panzerhauptmann – der gewesen zu sein er sich umständlich rühmte – führte er, so sagte man, ohne Frau und Kinder ein trostloses Leben. Die Kriegszeit war wie für die meisten seiner Kollegen das große Abenteuer seiner Jugend gewesen. Nachdem die Klasse sich zur Begrüßung erhoben und wieder gesetzt hatte, erwartete niemand von uns Schülern, daß etwas anderes als der vergangene Krieg Gegenstand seiner Ausführungen sein würde. Und richtig: Er begann mit einer Episode aus „unserem Rußlandfeldzug“, eine, von der niemand von uns so genau erraten konnte, ob er sie sich ausgedacht oder wirklich erlebt hatte, ein Ereignis zudem, das schon ähnlich im Ersten Weltkrieg an der Westfront stattgefunden hatte, wie ich wohl wußte. Kurz: Er erzählte von der für alle „Kombattanten“ erstaunlichen Feuerpause, die zu Weihnachten an der Front am Dnepr zwischen Deutschen und Russen ohne Verabredung sich wundersam eingestellt hatte, am Weihnachtsabend, in Kälte und Schnee, unter einem eisigen, sternblitzenden Himmel, als hätte Gott selbst plötzlich, Erbarmen fühlend, seine Hand über die streitenden „Krieger“ gehalten. Ein Russe habe Beethoven gespielt, von weitem seien, vielleicht von einem alten Piano in einem zerschossenen Bauernhof, über den Fluß die Klavierklänge der Pathétique silbern und zart wie ein himmlisches Glockenspiel zu vernehmen gewesen, ein Deutscher habe dann, davon ergriffen, Stille Nacht intoniert, mit kräftiger, weit tragender Stimme, ein Gesang, in den nun alle, Russen wie Deutsche, eingestimmt hätten, Tränen seien geflossen, Tränen der Rührung und Trauer, Tränen des Heimwehs und unnennbarer Sehnsucht et cetera. Zwei Stunden später sei das Feuer dann wieder eröffnet worden, der „Weihnachtsspuk“ war vorüber, die „harte eiserne Pflicht“ habe sich wieder durchsetzen müssen, das „eherne, unwandelbare Gesetz des Krieges“, dem Russen wie Deutsche ausgeliefert gewesen seien, habe alle wieder ergriffen gehabt. Doktor Gebers stand vor der Tafel, als stünde er noch immer standhaft an der Front, in Eis und Schnee, sein bartlos schwabbeliges Gesicht, schlecht rasiert, drückte tiefste Erschütterung aus, er atmete schwer, seine Schultern zuckten, sanken zusammen, als müsse er noch immer die Last einer unsagbaren Verantwortung tragen, die blutige Pflicht erfüllen, den Kampf gegen alles menschliche Gefühl wieder aufnehmen.
Mir war der Vortrag des Herrn Doktor Gebers so zuwider, daß ich meinte, kotzen zu müssen, eine Regung, die ich Holger gegenüber andeutete. Holger stand langsam auf, seine rechte Hand zitterte und krampfte sich am Tischrand fest, um sich dann zu lösen, als er zu sprechen begann.
„Gestatten Sie, Herr Doktor Gebers, daß ich Sie unterbreche, aber finden Sie es taktvoll“ – er sprach ruhig, unaufgeregt, als handle es sich um die alltäglichste Sache der Welt – „in einer Klasse, die zu über achtzig Prozent ihre Väter im Krieg verloren hat (mein Vater gehörte dazu), das Hohelied des Krieges zu singen?“ Er schob eine kleine Pause ein, wie es seine Art war, um zum Hauptstoß auszuholen, und sagte dann, leicht lächelnd: „Sie haben fünf Jahre Zeit gehabt, den Heldentod für Ihren geliebten Führer zu sterben, warum haben Sie diese Gelegenheit nicht wahrgenommen?“