LI 92, Frühjahr 2011
Feindliche Übernahme
Die mediale Wirklichkeit – zur Digitalisierung der verwalteten WeltElementardaten
Textauszug
Schon Mitte der achtziger Jahre, als das Internet sich gerade erst abzeichnete, sah Friedrich Kittler im Glasfaserkabel das Potential eines „totalen Medienverbundes auf Digitalbasis, der den Begriff Medium selber kassieren wird“. Mit Hilfe der Breitbandtechnik bringe die Digitalisierung alle zuvor getrennten Datenflüsse auf eine standardisierte Zahlenfolge, so daß jedes Medium in jedes andere übergehen könne und die Unterschiede zwischen den einzelnen Medien verschwänden.
Kittler griff auf zwei Grundsätze Marshall McLuhans zur medialen Vermittlung von Form und Inhalt zurück: den berühmten über die Austauschbarkeit von Text und Kontext („The medium is the message“) und den weniger bekannten über die selbstähnliche Struktur der Medien („The content of every medium is always another medium“); jedoch trieb er sie, teils durch eine rein technische Betrachtungsweise, teils durch das Klima des Kalten Kriegs beengt, nicht der Radikalität seiner eigenen Schlußfolgerungen entsprechend voran. Daher hielt er in beiden Fällen an einem Wesensunterschied – gleichsam einer „ontologischen Differenz“ – zwischen dem reinen Informationsgehalt und der defizitären Wirkmächtigkeit digitaler Codes fest, der heute weder durch McLuhans Thesen noch durch die Realität der globalen Vernetzung gerechtfertigt erscheint.
Im politischen Umfeld der achtziger Jahre beurteilte Kittler die besonders vom Pentagon mit Nachdruck betriebene Verkabelung und Digitalisierung vor allem als Planung und Vorbereitung des „elektronischen Kriegs“. Allerdings mit der dualistischen Einschränkung, daß dadurch lediglich optimale logistische Bedingungen für den eigentlichen Endzweck geschaffen würden: „Glasfaserkabel übertragen eben jede denkbare Information außer der einen, die zählt – der Bombe.“ Spätestens seit der Umstellung aller militärischen und zivilen Steuersysteme von 00 auf 2000 (und in neuerer Zeit durch diverse strategische Studien und praktische Beispiele bestätigt) wissen wir hingegen, daß der digitale oder elektronische Krieg keiner „realen“ Massenvernichtungswaffen außerhalb des Netzes mehr bedarf, sondern erheblich effektiver und sauberer durch „virtuelle“ Angriffe auf die Infrastruktur der lebenswichtigen Versorgungskanäle geführt werden kann.
Was nun die technische Perspektive angeht, so bezieht Kittler die von McLuhan postulierte mediale Selbstähnlichkeit zunächst auf partielle Verbundsysteme wie das Fernsehen, deren Inhalte offenkundig andere Medien bildeten, nämlich „Film und Sprechfunk“. Analoges gelte für seine Vorläufer, mit der Aussicht, daß schließlich ein totaler Medienverbund auf alle drei relevanten „Speichermedien“ – Schrift, Bild und Ton – zugreifen könne, um ihre Signale beliebig zu koppeln und zu senden.
Allerdings hatte McLuhan die selbstähnliche Verästelung der Medien nicht auf Artefakte beschränkt, sondern alles einbezogen, was über uns hinausreicht („any extension of ourselves“), das heißt jede Form von Hilfsmitteln oder Instrumenten. Insofern müßten die Medien theoretisch neben Techniken aller Art („any new technology“) auch unser natürliches Umfeld umfassen, in dem das Licht und die Luft als Träger visueller, akustischer und olfaktorischer Sinneseindrücke dienen.
Hier bietet es sich an, zwischen Nah- und Fernsinnen zu unterscheiden, wobei der Tast-, der Geschmacks- und auch der Geruchssinn in ihrer stofflichen Unmittelbarkeit keinen Raum für mediale Einschübe lassen, während Hören und Sehen aufgrund ihrer Wellennatur vielfältige Signalkodierungen erlauben, die sogar uns sinnlich nicht wahrnehmbare Bereiche des elektromagnetischen Spektrums nutzbar machen.
Mit dem Begriff der „Kodierung“ ist zugleich die digitale Brücke zwischen den beiden Sinnesgruppen angesprochen. Letztlich kann man alle Sinnesdaten in abstrakte Codes umwandeln, wie es auch bei der neuronalen Übermittlung im Körper geschieht. Doch eine Dekodierung – Rückübersetzung in die Ausgangssignale – funktioniert bislang nur bei Bild und Ton. Mögen Sensoren noch so differenzierte Auswertungen liefern: Für das (Tele-)Tasten, Schmecken oder Riechen bleiben ihre Datensätze unzugänglich.
Wenn auch dieser Wesensunterschied einen „totalen“ Verbund selbstähnlicher Medien auf der Sinnesebene auszuschließen scheint, da in ihm die ganze Vielfalt des Erlebens durch das Raster audiovisueller Apparate gefiltert würde, so ist doch zu bedenken, daß die mediale Selbstähnlichkeit schon bei McLuhan nicht in der sinnlichen, sondern in der geistigen Verfassung des Menschen wurzelte. Alle Erfindungen, alle „neuen Techniken“ vom Rad bis zum Roboter, ob Motorik, Sensorik, Organisation oder Kommunikation betreffend, beruhen letztlich auf der Entdeckung des Geistes. Sie entspringen der sprachlich vermittelten Fähigkeit, von der Sinneswahrnehmung zu abstrahieren und zentrale Prinzipien wie das der Kraft oder der Rückkopplung abzuleiten. Beide Kernsätze McLuhans über die innere Logik der Medien spiegeln wider, daß sie auf immer höheren Metaebenen Abstraktionen institutionalisieren. Diese geistige Dynamik läßt eine intensive Koevolution mit dem menschlichen Bewußtsein erkennen, deren Rubikon Kittler mit der Medienrevolution des späten 19. Jahrhunderts überschritten sieht: „Mit der technischen Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift, wie sie um 1880 Gutenbergs Speichermonopol sprengte, ist der sogenannte Mensch machbar geworden. Sein Wesen läuft über zu den Apparaturen. Maschinen erobern Funktionen des Zentralnervensystems und nicht mehr bloß, wie alle Maschinen zuvor, der Muskulatur. Und erst damit – nicht schon mit Dampfmaschine oder Eisenbahn – kommt es zur sauberen Trennung von Materie und Information, von Realem und Symbolischem. (…) Auge, Ohr und Gehirn müssen in ihrer Physiologie selber zu Forschungsgegenständen werden. Um Schrift maschinell zu optimieren, darf sie nicht mehr als Ausdruck von Individuen oder als Spur von Körpern geträumt werden. Die Formen, Unterschiede und Frequenzen ihrer Buchstaben selber müssen auf Formeln kommen. Der sogenannte Mensch zerfällt in Physiologie und Nachrichtentechnik.“
Der damit postulierten Zweiweltentheorie liegt eine ontologische Differenz besonderer Art zugrunde. Wir haben den totalen Medienverbund des Internets, das alle Kommunikationsmittel als mediale Techniken vereinnahmt und „den Begriff ‘Medium’ selber kassiert“. Doch verbleiben jene elementaren Gegenstände der Motorik und der Sinnlichkeit, die sich einer digitalen Rekodierung entziehen, darunter die ganze Welt der tast-, riech- und schmeckbaren Stoffe, wie auch Luft und Licht selbst als Grundbedingungen des Hörens und Sehens – und als Sinnbilder des Geistigen.
Kittler betont, daß digitale Medien audiovisuelle Daten nahezu perfekt übermitteln und in den Formaten Bild, Ton und Text wiedergeben, jedoch ihren sinnlichen Kontext und damit die eigentliche Sinngrundlage selbst ausblenden müssen. Der so postulierte innere Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sinn beruht einerseits auf der Kontextabhängigkeit allen Sinnes, andererseits aber auch darauf, daß sich Kontexte niemals dem Intellekt oder der aufmerksamen Analyse von Bildern und Geräuschen allein erschließen, sondern eine ganzheitliche Auffassung durch das Gespür erfordern. Allerdings gilt dies für das materielle Ambiente ebenso wie für seine geistige Essenz, für die Magie des je spezifischen Lichtes und der besonderen Atmosphäre, die Walter Benjamin als „Aura“ bezeichnete. Während das Internet die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks auf seine Themen überträgt, erkennen wir heute, daß die besagte Aura in der Authentizität der motivisch gewählten lebendigen Szenerien wurzelte, die das Kunstwerk als Unikat mitsamt ihren Lichtverhältnissen respektive ihrer unverwechselbaren Stimmung und geistigen Atmosphäre einfing.
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