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Lettre International 134, Kubra Khademi
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Inhaltsverzeichnis

LI 134, Herbst 2021

Mythos Immaterialität

Das Narrativ der Information und die Materialität des digitalen Raums

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Ich verstehe die Immaterialität der Information als eine Art Erzählung unserer (westlichen) Kultur, die uns spekulieren und träumen läßt, aber im Kern ein Schwindel ist. Wir wissen, daß Informationen eine materielle Form haben müssen, und entscheiden uns, darüber hinwegzusehen. Die Fiktion, die sich mit der Betrachtung der Information als immateriell verbindet, hat zur Folge, daß wir die materiellen und energetischen Grundlagen unserer Zivilisation unterbewerten. Auf diese Weise wird sie zu einem erkenntnistheoretischen und politischen Hindernis für eine angemessene Evaluierung der ökologischen Folgen dessen, was wir als Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) bezeichnen.

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In der algorithmischen Verarbeitung von Information verschwindet der Bedeutungsgehalt von Dokumenten im Fluß der Berechnungen und wird beispielsweise in Form von Bildern wiederhergestellt, die wir dann auf einem Computermonitor, einem Tablet oder einem Smartphone sehen können. Diese Prozesse sind für uns nicht direkt wahrnehmbar, sie sind virtuell, wie wir sagen. Alles spielt sich in einer Black Box ab, und als Nichtfachleute werden wir nicht wirklich schlauer, wenn wir das Gehäuse eines Computers öffnen und es inspizieren. Diese Tatsache macht wahrscheinlich einen Teil der Mystik des Computers aus, die durch den information talk erzeugt wird, und sie ist wahrscheinlich auch eine der Quellen für die Erzählung von der Immaterialität der Information.

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Der Eindruck, daß wir in einer postindustriellen Informationsgesellschaft leben, ist eng damit verknüpft, wo all die Dinge, die wir konsumieren, hergestellt werden. Nachdem die Umstellung auf Container in den 1970er Jahren zu einem enormen Rückgang der Transportkosten geführt hatte, wurden große Teile der Industrieproduktion in arme Länder in Asien verlagert, und es entstand das gegenwärtige Muster, daß die meisten Waren im Osten produziert und im Westen verkauft werden. Das Argument gegen die Dematerialisierung unterminiert die Vorstellung, das Internet sei ein Ort des immateriellen Austauschs und der immateriellen Cyber-Communitys. Solche Annahmen blenden ganz selbstverständlich die großen Investitionen aus, die in die Telekommunikation, die Computerhardware und die menschliche Arbeit getätigt werden mußten, um diese ganze digitale Existenzform überhaupt zu betreiben.

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Eine Voraussetzung für den Kult der Immaterialität in den 1990er Jahren war der Glaube, das Informationszeitalter oder die Informationsgesellschaft brächten revolutionäre Veränderungen mit sich. Dasselbe gilt für den eher abstrakten Begriff der Informationstechnologie, mit dem die Artefakte und Systeme des Informationszeitalters charakterisiert werden sollten. Es stand etwas radikal Neues bevor, und es würde mit Computern zu tun haben. In einem ähnlichen Sinne repräsentiert in Bells postindustrieller Gesellschaft die Information die letzte und höchste soziale Entwicklungsstufe, und sie gehörte den Angehörigen der gebildeten Schichten. Die Frage nach den technischen Geräten selbst wurde an den Rand geschoben. Das hohe Abstraktionsniveau im Diskurs über die Zukunft der modernen Gesellschaften – ob wir sie nun Informationsgesellschaften oder postindustrielle Gesellschaften oder anders nennen – war ein Weg, uns von den konkreten Objekten, die diese Veränderungen möglich machen, zu entfernen.

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„Die zentrale Metapher des Internets ist heute die Cloud: ein globales System von großer Kraft und Energie, das dennoch die Aura von etwas Noumenalem und Numinosem bewahrt, von etwas fast Ungreifbarem. Wir verbinden uns mit der Cloud, wir arbeiten in ihr, wir speichern und holen Dinge aus ihr heraus, wir denken in ihr. Wir bezahlen für sie und bemerken sie erst, wenn sie ausfällt.“
     Diese Cloud ist nicht gerade schwerelos, sondern eine physische Infrastruktur aus Kabeln und Servern. Um all diese Hardware herzustellen, ist die Industrie auf einen ständigen Fluß grundlegender Ressourcen angewiesen, die aus der Förderung von Erz in Bergwerken und Öl aus Bohrlöchern stammen. In den letzten drei Jahrzehnten ist der ICT-Sektor auch immer stärker von Seltenen Erden abhängig geworden, um kleinere Geräte, schnellere Halbleiter und bessere Glasfaserkabel produzieren zu können. Diese Erden sind sehr schwer zu gewinnen, und die Umweltverschmutzung infolge der Verarbeitung des Erzes ist enorm.
     Darüber hinaus werden die Bilder, die wir in die Cloud hochladen, vielleicht in einem der riesigen Datenzentren von Facebook im schwedischen Luleå gespeichert, für die zur Stromversorgung Wasserkraft aus dieser Region genutzt wird. Zusammengenommen belief sich der Verbrauch für den Betrieb des Internets, der Mobilfunknetze, des Fernsehens und der Personal Computer (also des gesamten ICT-Sektors) im Jahr 2015 auf etwa zehn Prozent der weltweiten Stromproduktion, und ihr Anteil wird sich voraussichtlich bis 2030 verdoppeln (Jones, 2018, S. 163). Wie sehr sind wir uns als Internetnutzer eigentlich des Stromverbrauchs bewußt, der mit jeder Google-Suche verbunden ist? Der ICT-Sektor ist für mehr als zwei Prozent der gesamten CO2-Emissionen verantwortlich. „Damit liegt der CO2-Fußabdruck der ICT auf demselben Level wie die Treibstoffemissionen der Luftfahrtindustrie.“

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Techno-Futurismus beinhaltet eine Art aktives Vergessen, wie technologische Veränderungen früher stattgefunden haben, während Edgerton argumentiert, daß technologische Veränderungen das Ergebnis einer Entscheidung an einem bestimmten historischen Verbindungspunkt sind. Sie hängen nicht von den Fähigkeiten der technischen Entwicklungen selbst ab. In der Regel gibt es zu dem Zeitpunkt, zu dem eine bestimmte Wahl getroffen wird, andere alternative Technologien, und ältere Technologien werden noch lange Zeit nach der Einführung einer neuen Technologie verwendet.

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Die Annahme einer Art von Immaterialität der Information ist zu einem prägenden Element im Denken, Sprechen und Schreiben über die digitalen Transformationen unserer Gesellschaften geworden. Dies führt dazu, daß wir bestimmte theoretische Fehler begehen, die eine Form des aktiven Vergessens erfordern. Das betrifft nicht nur die Art und Weise, wie technologische Veränderungen in der Vergangenheit stattgefunden haben, sondern auch, daß jede Technologie mit materiellen und ökologischen Kosten verbunden ist.
     Ein seltsamer Effekt der kulturellen Wahrnehmung, die wir Virtualität nennen, ist, daß sie zu einer Art Gegennarrativ zu jeglichem ökologischen Bewußtsein wird: Wer sollte sich die Mühe machen, etwas gegen die drängendsten sozialen und politischen Fragen unserer Zeit zu unternehmen, wenn die Technologien selbst über die Zukunft unserer Gesellschaften entscheiden. Mit anderen Worten, dieses Narrativ blockiert das politische Vorstellungsvermögen und verwandelt es in eine Haltung des „Abwartens“.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.