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Cover Lettre International 32, Christian Bonnefoi
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LI 32, Frühjahr 1996

Ich bin schön und gescheit

Der Anspruch auf Gleichheit und das Spiel mit den Reizen

(...) Ich bin schön. Ich habe noch nie darüber geschrieben, also dachte ich, ich versuche es einmal. Sie hat sich ziemlich lange gehalten, meine Schönheit, doch sie wird nicht mehr sehr lange halten, denn ich bin jetzt vierzig, da ich dies schreibe, vierzig, und bis Sie dies lesen, wahrscheinlich einundvierzig, und so weiter und so fort, und wir alle wissen, daß es letztendlich auf Würmer oder Asche hinausläuft, aber vorläufig bin ich immer noch schön. Mehr oder weniger. Weniger als früher, trotz der regelmäßigen Anwendung von Henna auf meinen ergrauenden Haaren und Abdeckcreme auf den Ringen unter meinen Augen. Weniger als Benazir Bhutto aus Pakistan, die exakt so alt ist wie ich. Weniger als viele meiner Studentinnen - doch immer noch, vielleicht, ein biþchen mehr als meine elfjährige Tochter. Ein oder zwei Jahre noch (,,Spieglein, Spieglein ...").

Ich bin außerdem intelligent. Weniger als Simone Weil. Mit meiner Intelligenz geht es auch schon bergab - wenn auch anders als mit meiner Schönheit -, und auch sie läuft auf Würmer oder Asche hinaus. Trotzdem. Vorläufig bin ich immer noch ziemlich intelligent.

Wenn ich sage, daß ich schön und intelligent bin, dann ist das keine Angeberei. Ich habe nur in angemessener Form auf die Schönheit und die Intelligenz achtgegeben, die im Würfelspiel der Chromosomen meiner Eltern in mich hineinprogrammiert worden waren. (Sie waren ebenfalls sowohl schön als auch intelligent, als sie jung waren. Jetzt sind sie es in einem beträchtlich geringeren Maße, aber das interessiert Sie wahrscheinlich nicht so sehr wie der Rest von dem, was ich zu sagen habe.) Wie ist es möglich, mit etwas anzugeben, wofür man selbst nicht verantwortlich ist?

Bei der Geburt werden uns die Karten ausgeteilt: Einige dieser Spielkarten sind genetisch (Hautfarbe, Musikalität, chronische Bursitis), andere sind kulturell (Religion, Sprache, Nationalität), aber alle sind sie uns gegeben und nicht von uns erwählt worden. Später, als Erwachsene, können wir eine bewußte Entscheidung treffen, einige der Karten auf unserer Hand auszutauschen - indem wir etwa vom Katholizismus zum Judentum konvertieren oder in ein anderes Land umziehen oder uns sogar einer geschlechtsumwandelnden Operation unterziehen -, aber das Blatt, das uns zuerst gegeben wurde, hinterläßt einen unvermeidlich tiefen und unauslöschbaren Eindruck auf uns.

Ich konnte es nie ganz verstehen, wie Leute mit ihrem vom Schicksal ausgeteilten Blatt angeben können, obwohl das sicherlich ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Vielleicht sind meine eigenen Wurzeln zu langweilig, als daþ sie diese Art von Stolz in mir entfacht hätten. Es fiel mir nie ein, mein Selbstwertgefühl aus der Tatsache abzuleiten, daß ich in Calgary, Alberta, geboren bin, oder daraus, daß ich protestantisch erzogen wurde oder daþ ich weiße Haut habe oder daß ich weiblich bin. Genauso bin ich weder für meine Schönheit noch für meine Intelligenz verantwortlich, zwei unglaublich auffällige Attribute der vierzig Jahre, die ich auf dieser Erde bisher verbracht habe, Charakteristika, über die ich, bis heute, nie den Mut hatte zu schreiben.

Meine Schönheit hat mich weit herumkommen lassen - in Gebiete, in denen ich furchtbar gerne sein wollte, und einige, wo ich überhaupt nicht hinwollte. In all den Jahren habe ich beobachten können, wie sie Grenzen angreift und zersetzt und mich dann in fremde Territorien mitnimmt. Grenzen sind Ideen, die zwischen Altersgruppen, sozialen Klassen, allen möglichen hierarchischen Entitäten errichtet werden, damit die Gesellschaft so vorhersehbar und anständig wie möglich funktionieren kann. Sie sind keine massiven Mauern. Schönheit frißt sie weg. Das ist die Wahrheit, wir alle haben so etwas schon einmal miterlebt, auch wenn es sich an unterschiedlichen Orten unterschiedlich abspielt (darauf werde ich noch zurückkommen).

Ich war nicht außergewöhnlich schön als Kind. Das kam erst etwa ab fünfzehn, als ich ein Junior an der High School war (ich hatte eine Klasse übersprungen, viel früher schon, weil meine Intelligenz sich lange vor meiner Schönheit manifestiert hatte). Und kaum war es passiert, verführte ich meinen Creative-writing-Lehrer und/oder wurde von ihm verführt. Er war zehn Jahre älter als ich (doch jünger als der Mann, mit dem ich jetzt verheiratet bin), und kurz vor dem Ende des Schuljahrs nahm er mir den Rest Jungfräulichkeit, der mir aus den Sexspielen mit meinem Bruder verblieben war. Ich war begeistert, geschmeichelt, irrsinnig verliebt und lange Zeit stolz - ja, stolz, denn dies war etwas, das meine Verantwortung herausforderte. Es war eine ernsthafte Liebesbeziehung. Sie gipfelte in einer Verlobung - die ich mit achtzehn Jahren lüste, als ich mich in jemand anderen verliebte. Fast drei Jahre lang kreiste mein Leben also um diesen Mann. Es war keine sexuelle Belästigung im Spiel.

Ah, aber hat er nicht seine Position ausgenutzt? Seinen höheren Bildungsgrad? Die intellektuelle Ehrfurcht, die ich ihm entgegenbrachte? Das hat er bestimmt, genauso wie ich meine Jugend ausgenutzt habe, meine Schönheit und die wie auch immer geartete Unschuld, die ich immer noch zu haben schien. Wir wollten beide das gleiche, nämlich ineinander verliebt sein. Waren wir gleichberechtigt? Waren Sokrates und die jungen Männer, die er inst und sodomisierte - gleichberechtigt? Die amerikanische Gesellschaft, so scheint es, würde Sokrates aller Wahrscheinlichkeit nach genauso zum Tode verurteilen, wie es die Athener taten, wenn auch aus anderen Motiven.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.